Medizinrecht

Abschiebungsverbot wegen Posttraumatischer Belastungsstörung – Tunesien

Aktenzeichen  M 26 K 16.30745

Datum:
28.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3
AsylG AsylG § 77 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Die Grundversorgung der tunesischen Bevölkerung ist gut. Ein junger Mann mit Berufserfahrung kann dort auch ohne familiäre Unterstützung seine Existenz sichern. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Zur Darlegung einer Posttraumatischen Belastungsstörung sind Angaben zum Behandlungs- und Therapieverlauf erforderlich. Es bedarf zudem der Erklärung, wenn ein Asylsuchender sich erst lange nach der Einreise in entsprechende Behandlung begibt oder die Behandlung nicht fortsetzt. (Rn. 20 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
3 In Tunesien ist zumindest in den Ballungsräumen die Behandlung psychischer Erkrankungen möglich. Nahezu alle Bürger finden zudem Zugang zum Gesundheitssystem. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24. August 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist fristgerecht geladen worden und hat in ihrer allgemeinen Prozesserklärung auf Einhaltung der Ladungsfrist sowie Ladung gegen Empfangsbekenntnis verzichtet.
Soweit die Klage hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
Die Klage im verbliebenen Umfang ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid vom 10. März 2016 ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten; der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung ist damit nicht zu beanstanden.
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017, 3 A 140/16 – juris Rn. 53 m.w.N.).
Der Kläger hat nicht glaubhaft dargelegt, dass ihm bei einer Rückkehr nach Tunesien eine unmenschliche Behandlung durch Dritte drohen würde. Er hat auch schon vor seiner Ausreise aus Tunesien nicht mehr bei seinem psychisch kranken und gewalttätigen Vater gelebt, der ihn wohl ohnehin nicht wieder aufnehmen würde. Es ist daher nicht ersichtlich, dass ihm von dieser Seite Gewalt drohen würde. Die behauptete Bedrohung durch die Gruppe von Leuten aus seinem Wohnviertel betreffend hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung auf mehrmaliges Nachfragen hin keine konkreten Bedrohungen geschildert. Es ist daher nichts dafür ersichtlich, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Tunesien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch diese Leute droht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird diesbezüglich auf die zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheids (insbesondere S. 5) Bezug genommen (§ 77 abs. 2 AsylG).
Auch im Übrigen sind Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht ersichtlich; insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger dort seine Existenz nicht sichern kann. Auch nach den neueren Erkenntnismitteln, insbesondere dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16. Januar 2017 (Stand Dezember 2016) gilt die soziale Grundversorgung der tunesischen Bevölkerung als gut. Allerdings gibt es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lasten müssen überwiegend durch den traditionellen Verband der Großfamilie aufgefangen werden, deren Zusammenhalt allerdings schwindet. Es gibt keine speziellen Hilfsangebote für Rückkehrer. Die aktuelle Regierung hat aber zur Verbesserung der Grundversorgung der Bevölkerung in den armen Gegenden des Südens und des Landesinneren eine Umwidmung der staatlichen Ausgabenprogramme weg vom gut entwickelten Küstenstreifen hin zu den rückständigeren Regionen vorgenommen.
Nach Würdigung dieser tatsächlichen Umstände sowie der persönlichen Umstände des Klägers ist eine Verletzung von Art. 3 EMRK oder eine extreme individuelle Gefahrenlage für den Kläger nach Überzeugung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten. Der Kläger verfügt über eine gewisse schulische Bildung, gute Sprachkenntnisse und Berufserfahrung in Tunesien, so dass davon auszugehen ist, dass er seine Existenz notfalls auch ohne familiäre Unterstützung sichern können wird. Dass der Kläger aufgrund seiner psychischen Probleme nicht arbeitsfähig wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich; vielmehr hat er bis zu seiner Ausreise als Konditor gearbeitet. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass ihn auch die Tante und möglicherweise der ehemalige Chef zumindest anfangs unterstützen werden.
2. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet und für den Betroffenen erreichbar ist (vgl. § 60 Abs. 7 Sätze 2 bis 4 AufenthG).
Trotz der bestehenden Amtsermittlungspflicht ergibt sich aus § 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO jedoch die Pflicht des Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken, was in besonderem Maße für Umstände gilt, die, wie etwa eine Erkrankung, in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen. Diesbezüglich ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Kläger die Erkrankung einer PTBS und das diese diagnostizierende Attest nicht innerhalb der – nicht verlängerbaren – Klagebegründungsfrist des § 74 Abs. 2 AsylG geltend gemacht bzw. vorgelegt hat, obwohl sowohl die Erkrankung als auch das Attest zu diesem Zeitpunkt bereits vorlagen. Die Verspätung wurde nicht genügend entschuldigt und eine weitere Aufklärung würde die Erledigung des Rechtsstreits verzögern (vgl. § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylG, § 87b Abs. 3 VwGO). Die Klagepartei war über die Verpflichtung nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG und die Folgen einer Fristversäumung auch belehrt worden.
Im Übrigen genügt das vorgelegte Attest vom 6. Mai 2016 nicht den Anforderungen an einen substantiierten Vortrag einer Erkrankung an einer PTBS. Angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptomatik gehört zur Substantiierung des Vorbringens einer Erkrankung an PTBS sowie eines entsprechenden Beweisantrags nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – Buchholz 402. 242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 31) regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist.
Das vorgelegte Attest enthält keine hinreichenden Angaben zum Behandlungs- und Therapieverlauf. So wird lediglich eine psychotherapeutische Behandlung von März bis Anfang Mai 2016 bescheinigt und dass über diesen Zeitraum hinweg Therapiestunden abgehalten wurden. Genaue Inhalte der durchgeführten Therapie oder Aussagen über Behandlungsfortschritte enthält das Attest dagegen nicht. Des Weiteren enthält das Attest keine überzeugende Aussage dazu, wieso der Kläger, der sich bereits seit dem Jahr 2014 in Deutschland befindet, erst im Jahr 2016 mit Symptomen einer PTBS vorstellig wurde.
Vor allem aber ist das Attest angesichts der fehlenden Aktualität sowie des Umstands, dass sich der Kläger nach eigenen Angaben seit mehreren Monaten nicht mehr in Behandlung befindet, hinsichtlich der Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankung nicht hinreichend nachvollziehbar und überzeugend. Obwohl die Psychotherapeutin ausführt, dass ohne psychotherapeutische Behandlung angesichts der Labilität eine erhebliche Gefahr einer pathogenen Entwicklung und Verschlechterung der Symptomatik bestehe, wurde die Behandlung nicht fortgesetzt, ohne dass berichtet worden wäre, dass sich die beschriebene Gefahr realisiert hätte. Dass eine psychotherapeutische Behandlung für den Kläger in Deutschland nicht erreichbar war und ist, obwohl die Notwendigkeit einer solchen Behandlung dargelegt ist, hat der Kläger dem Gericht im Übrigen nicht plausibel machen können. Damit ist das Attest nicht dazu geeignet, den gesundheitlichen Zustand des Klägers und das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen PTBS im Jahr 2017 substantiiert darzulegen. Weitere Aufklärungsmaßnahmen von Amts wegen sind vor diesem Hintergrund nicht veranlasst.
Das Gericht ist aufgrund des festgestellten Sachverhalts nicht davon überzeugt, dass sich die Erkrankung des Klägers durch eine Abschiebung nach Tunesien alsbald erheblich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Zum einen kann von dem arbeitsfähigen Kläger erwartet werden, dass er sich an einem anderen Ort als dem, wo die traumatischen Kindheitserlebnisse stattgefunden haben, niederlässt, zumal der Kläger auch angegeben hat, schon an vielen Orten in Tunesien gelebt zu haben. Vor dem Hintergrund fehlender aktueller Hinweise auf eine Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankung ist eine konkrete Gefahr einer Retraumatisierung allein aufgrund der Rückkehr nach Tunesien nicht erkennbar. Zum anderen ist in Tunesien zumindest in Ballungsräumen auch die Behandlung psychischer Erkrankungen möglich. Nahezu alle Bürger finden Zugang zum Gesundheitssystem. Die Regelungen der Familienmitversicherung sind großzügig und umfassen sowohl Ehepartner als auch Kinder und sogar Eltern der Versicherten. Die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptabel funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) hat das für ein Schwellenland übliche Niveau, d.h. es kann in Einzelfällen, insbesondere bei der Behandlung mit speziellen Medikamenten, Versorgungsprobleme geben. Ein Import dieser Medikamente ist aber grundsätzlich möglich, wenn auch nur auf eigene Kosten der Patienten. Eine weitreichende Versorgung ist in den Ballungsräumen (Tunis, Sfax, Sousse) gewährleistet; Probleme gibt es dagegen in den entlegenen Landesteilen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16.1.2017 (Stand Dezember 2016)). Reisen ist innerhalb Tunesiens aber problemlos möglich. Insbesondere in Tunis gibt es mehrere niedergelassene Psychiater und ein psychiatrisches Krankenhaus, das auch eine Ambulanz unterhält und insbesondere denjenigen offensteht, die sich eine Behandlung bei einem niedergelassenen Arzt nicht leisten können (vgl. ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Tunesien: Menschenrechtslage psychisch Kranker [a-9666] vom 31.5.2016; Psychology in Africa: Tunisia Mental health Profile, 5. April 2013 http://psychologyinafrica.com/profiles/2013/4/5/tunisia-mental-health-profile). Personen, die ohne Versicherungsschutz sind und ihre Bedürftigkeit nachweisen, können auf Antrag für die Behandlung in staatlichen Krankenhäusern grundsätzlich einen „Ausweis zur freien Behandlung“ erhalten. Damit wird eine Grundversorgung in staatlichen Einrichtungen gewährleistet (vgl. z.B. Auskunft des Dr. Samy Allagui an die deutsche Botschaft Tunis vom 16.4.2016).
3. Nach alledem ist auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtmäßig.
4. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO bzw. – soweit sie zurückgenommen wurde – aus § 155 Abs. 2 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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