Aktenzeichen M 16 K 16.30447
Leitsatz
1 Mit der ab dem 17. März 2016 geltenden gesetzlichen Regelung hat der Gesetzgeber klargestellt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt (vgl. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG). Es wird im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG). (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann sich bei einer psychischen Erkrankung auch (allein) wegen einer im Herkunftsland zu erwartenden Re-Traumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas ergeben. In diesem Fall sind an sich im Zielstaat vorhandene Behandlungsmöglichkeiten unerheblich, wenn sie für den Betroffenen aus für ihn in der Erkrankung selbst liegenden Gründen, nämlich wegen der Gefahr der Retraumatisierung, nicht erfolgversprechend sind (vgl. OVG Lüneburg BeckRS 2011, 51968). (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Wird das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (vgl. BVerwG BeckRS 2008, 30091). (red. LS Clemens Kurzidem)
Tenor
I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II.
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 24. Februar 2016 verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo vorliegen.
III.
Von den Kosten des Verfahrens trägt 2/3 der Kläger und 1/3 die Beklagte.
IV.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden, weil in der Ladung zur mündlichen Verhandlung hierauf hingewiesen war.
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 S. 1 VwGO einzustellen.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG).
Soweit nach der teilweisen Klagerücknahme noch zu entscheiden war, ist die zulässige Klage begründet. Der Antrag des Klägers ist zunächst nach § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass die teilweise Aufhebung des Bescheids begehrt wird und die Beklagte verpflichtet wird, das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Richtige Klageart ist die Verpflichtungsklage, nicht die Feststellungsklage. Aus dem zurückgenommenen Antrag hinsichtlich der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Anerkennung als Asylberechtigter, dem Vortrag sowie den Prozesshandlungen des Klägers bzw. seiner Bevollmächtigten wird deutlich, dass der Kläger die Beklagte verpflichten möchte, den streitgegenständlichen Bescheid zu sein Gunsten abzuändern. Daher bezieht sich das Klagebegehren des Klägers auf eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots und nicht auf eine bloße Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots durch das Gericht. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zu der Feststellung, dass derzeit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt (§ 113 Abs. 5 VwGO). Einer Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es deshalb nicht mehr.
Nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Mit der ab dem 17. März 2016 geltenden gesetzlichen Regelung hat der Gesetzgeber klargestellt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es wird im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Nach der Gesetzesbegründung könne die geforderte schwerwiegende Erkrankung in Fällen von posttraumatischen Belastungsstörungen regelmäßig nicht angenommen werden. In Fällen einer posttraumatischen Belastungsstörung sei die Abschiebung regelmäßig möglich, es sei denn, die Abschiebung führe zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung (vgl. BT-Drs. 18/7538 S. 18).
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann sich darüber hinaus bei einer psychischen Erkrankung auch (allein) wegen einer im Herkunftsland zu erwartenden Re-Traumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas ergeben. In diesem Fall sind an sich im Zielstaat vorhandene Behandlungsmöglichkeiten unerheblich, wenn sie für den Betroffenen aus für ihn in der Erkrankung selbst liegenden Gründen, nämlich wegen der Gefahr der Re-Traumatisierung, nicht erfolgversprechend sind (vgl. OVG Lüneburg, U. v.12.9.2007 – 8 LB 210/05 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U. v. 28.6.2011 – 8 LB 221/09 – juris Rn. 37).
Unter Zugrundelegung aller vorstehenden Kriterien und unter zusammenfassender Betrachtung aller relevanten Umstände und Aspekte ist im besonderen Einzelfall des Klägers – derzeit – ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzunehmen. Für den Kläger würde im Fall der Abschiebung in den Kosovo mit Blick auf die psychische Erkrankung, unter der er leidet, eine konkrete Gefahr für Leib und Leben bestehen.
Aus den beiden vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen ergibt sich, dass dem Antragsteller im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen würde. In beiden Stellungnahmen werden die traumatisierenden Ereignisse beschrieben und es wird ausdrücklich festgestellt, dass aufgrund der noch kaum verarbeiteten Traumastörung eine Rückkehr nach Kosovo eine massive Re-Traumatisierung mit einer wesentlichen und alsbaldigen Verschlechterung seines Zustands bedeuten würde. Zudem könne eine Re-Traumatisierung in Form der Abschiebung vehemente Auswirkungen bis hin zum Suizid haben. Das Gericht sieht dies durch die Gesamtheit der vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen als belegt an.
Die vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen genügen den Anforderungen der Rechtsprechung. An der Sachkunde der beteiligten Fachärzte bestehen keine Zweifel. Angesichts der beiden vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen war eine weitere Sachaufklärung von Seiten des Gerichts daher nicht erforderlich, zumal die neue Stellungnahme erst wenige Tage alt ist.
Angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes der posttraumatischen Belastungsstörung sowie seiner vielfältigen Symptome muss ein diesbezügliches fachärztliches Attest gewissen Mindestanforderungen genügen. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist. (vgl. etwa BVerwG, U. v. 11.9.2007 – 10 C 8/07, juris Rn. 15 ff.).
Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung ist in nachvollziehbarer Weise gestellt. Zunächst wird in der fachärztlichen Stellungnahme vom 11. April 2016 dargelegt, dass dem Kläger aufgrund einer gravierenden Verschlechterung seines psychischen Zustandes von einer niedergelassenen Ärztin, bei der sich der Kläger bereits in ambulanter Behandlung befand, empfohlen wurde, sich stationär psychiatrisch-psychotherapeutisch behandeln zu lassen. Dementsprechend begab der Kläger sich am 14. März 2016 in stationäre Behandlung. Das traumatisierende Ereignis wird sowohl in der ersten als auch in der zweiten Stellungnahme ausführlich dargestellt und deckt sich mit dem Vortrag des Klägers gegenüber dem Bundesamt. Zweifel an dem Vortrag des Klägers hinsichtlich seiner Sexualität und der daraus folgenden Diskriminierung bzw. Misshandlung durch seine Familie bestehen nicht. Menschen, die sich im Kosovo zu ihrer Homosexualität bekennen, müssen damit rechnen sozial ausgegrenzt und von ihrer eigenen Familie verstoßen zu werden (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge /Informationszentrum Asyl und Migration, Länderreport Band 3, Kosovo, Stand Mai 2015, S. 32).
Typische Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks) oder in Träumen vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten; hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. S. 750ff; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff.). Diese vorgenannten Merkmale einer posttraumatischen Belastungsstörung sind den beiden fachärztlichen Stellungnahmen ebenfalls zu entnehmen.
Gleichzeitig wird in den beiden fachärztlichen Stellungnahmen ausführlich und nachvollziehbar begründet, dass eine Rückkehr in den Kosovo des Klägers eine derart massive Re-Traumatisierung nach sich führen würde, dass der Gesundheitszustand des Klägers sich massiv verschlechtern würde. Es wurde jeweils festgestellt, dass aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht davon auszugehen sei, dass sich die gesundheitliche Situation des Klägers im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland deutlich verschlechtern würde.
Darüber hinaus zeigen die beiden Stellungnahmen auch den Behandlungsverlauf und einen ersten, sehr geringen Behandlungserfolg auf, der jedoch zum aktuellen Zeitpunkt die befürchtete Re-Traumatisierung nicht entfallen lasse. Nach dem letzten ärztlichen Bericht ist der Kläger auch weiterhin dringend behandlungsbedürftig. Nach Auffassung des Facharztes, von dem die Stellungnahme vom 18. November 2011 stammt, würden bei einer Abschiebung des Klägers in den Kosovo die dortigen Gegebenheiten den Kläger retraumatisieren. Die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustands würde demnach im Fall des Klägers nicht nur im Hinblick auf den Abbruch der Therapie in Deutschland und den Abschiebevorgang eintreten, sondern auch im Hinblick auf die Verhältnisse im Kosovo, die der Kläger dort bei einer Rückkehr vorfinden würde. Damit liegt jedenfalls auch ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot vor.
Vor diesem Hintergrund geht das Gericht in diesem vorliegenden Einzelfall davon aus, dass bei dem Kläger aus medizinischen Gründen im Falle seiner Rückkehr in den Kosovo – jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt – erhebliche individuelle Gesundheitsgefahren bestehen würden. Der streitgegenständliche Bescheid war daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. BVerwG, B. v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff der Zivilprozessordnung (ZPO).
Die Entscheidungen über die Einstellung des Verfahrens (Nr. I des Tenors) ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).