Medizinrecht

Anspruch auf Freistehbarren in einem Pflegeheim

Aktenzeichen  S 12 KR 324/12

Datum:
14.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V SGB V § 33 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Ein Freistehbarren gehört zu denjenigen Hilfsmitteln, die grundsätzlich von einem Pflegeheim, das bettlägerige Pflegebedürftige mit Pflegestufe III aufnimmt, vorzuhalten sind. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage gegen den Bescheid vom 23. Februar 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 2012 wird abgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Das angerufene Gericht ist gemäß §§ 57 Abs. 1, 51 Abs. 1, 8 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Entscheidung des Rechtsstreits örtlich und sachlich zuständig. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 23.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.05.2012 erweist sich als rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Kostenübernahme für den begehrten Freistehbarren.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.
Unstreitig ist, dass eine medizinische Indikation für die Versorgung der Klägerin mit einem Freistehbarren vorliegt. Dies hat der MDK bestätigt. Die Klägerin hat jedoch keinen Versorgungsanspruch gegenüber der Krankenkasse, da nach Überzeugung des Gerichts das Pflegeheim, in dem die Klägerin lebt, von Gesetzes wegen zur Vorhaltung eines Freistehbarrens verpflichtet wäre.
Grundsätzlich sind die Krankenkassen für die Versorgung Versicherter mit Hilfsmitteln unabhängig davon verpflichtet, ob sie in einer eigenen Wohnung oder in einem Heim leben. Dieser Grundsatz erfährt jedoch, wie das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 10.02.2000 – Az. B 3 KR 17/99 R – ausgeführt hat, bei vollstationärer Pflegebedürftigkeit, „also bei der vollstationären Pflege in einem zugelassenen Pflegeheim (§ 71 Abs. 2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XI) weiterhin eine Einschränkung. Die Pflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln endet nach der gesetzlichen Konzeption des SGB V und des SGB XI dort, wo bei vollstationärer Pflege die Pflicht des Heimträgers auf Versorgung der Heimbewohner mit Hilfsmitteln einsetzt. Bei vollstationärer Pflege hat der Träger des Heimes für die im Rahmen des üblichen Pflegebetriebs notwendigen Hilfsmittel zu sorgen, weil er verpflichtet ist, die Pflegebedürftigen ausreichend und angemessen zu pflegen, sozial zu betreuen und mit medizinischer Behandlungspflege zu versorgen (§ 43 Abs. 1, 2 und § 43a SGB XI). Nach § 11 Abs. 1 SGB XI hat die Pflege in Pflegeeinrichtungen nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse zu erfolgen (Satz 1). Inhalt und Organisation der Leistung haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten (Satz 2). Die Pflegeheime haben auch für die soziale Betreuung der Bewohner zu sorgen (§§ 43 Abs. 2 Satz 1 und 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). Die die Zulassung bewirkenden Versorgungsverträge dürfen nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die den Anforderungen des § 71 SGB XI genügen und die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung bieten (§ 72 Abs. 3 Satz 1 SGB XI). Die Heime müssen daher das für die vollstationäre Pflege notwendige Inventar bereithalten. Einen geeigneten Anhaltspunkt für die von den zugelassenen Pflegeheimen vorzuhaltenden Hilfsmittel bietet – ohne dass hier eine abschließende Beurteilung jedes einzelnen Hilfsmittels vorzunehmen ist – zum Beispiel die „Gemeinsame Verlautbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen/Pflegekassen zur Ausstattung von Pflegeheimen mit Hilfsmitteln“ vom 26.05.1997 – solange Rechtsverordnungen über die Ausstattung von Pflegeheimen mit Hilfsmitteln fehlen (§ 83 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB XI). Hierzu zählen zum Beispiel alle Hilfsmittel, die bei Verwirrtheitszuständen, Lähmungen und sonstigen Funktionseinschränkungen üblicher Art (z. B. bei Altersdemenz, Morbus Alzheimer, Folgen eines Schlaganfalls, Multipler Sklerose und Querschnittslähmungen) benötigt werden. Die gesetzliche Krankenversicherung hat darüber hinaus nur solche Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, die nicht der „Sphäre“ der vollstationären Pflege zuzurechnen sind. Das sind im Wesentlichen (1) individuell angepasste Hilfsmittel, die ihrer Natur nach nur für den einzelnen Versicherten bestimmt und grundsätzlich nur für ihn verwendbar sind (z. B. Brillen, Hörgeräte, sonstige Prothesen) sowie (2) Hilfsmittel, die der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses (z. B. Kommunikation oder Mobilität) außerhalb des Pflegeheimes dienen.“
Nach diesen Grundsätzen gehört ein Freistehbarren zur Überzeugung des Gerichts zu denjenigen Hilfsmitteln, die grundsätzlich von einem Pflegeheim, das bettlägerige Pflegebedürftige mit Pflegestufe III aufnimmt, vorzuhalten sind. Nach dem Abgrenzungskatalog zur Finanzierungszuständigkeit für Hilfsmittel bei stationärer Pflege (Anlage 1 der Gemeinsamen Verlautbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Umsetzung des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung – GKV-WSG – im Hilfsmittelbereich – Abgrenzungskatalog der Spitzenverbände der Krankenkassen – zugleich handelnd als Spitzenverbände der Pflegekassen – zur Hilfsmittelversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen (Pflegeheimen) vom 26.03.2007 – Beschlussfassung vom 07.05.2007 -), der die gemeinsame Verlautbarung vom 26.05.1997 ersetzt hat, sind Stehhilfen (Produktgruppe 28 des GKV-Hilfsmittelverzeichnisses) der Sphäre des Pflegeheimes zuzurechnen. Zur Begründung wird dabei ausgeführt, dass es sich bei der fachgerechten Positionierung zur Vermeidung von Sekundärerkrankungen um eine primäre Verrichtung im Rahmen der aktivierenden Pflege bzw. der allgemeinen Prophylaxe handle. Sie komme daher als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) grundsätzlich nicht in Betracht. Dem schließt sich das Gericht an. Denn zur fachgerechten Pflege von mobilitätseingeschränkten Personen, insbesondere von Bettlägerigen, gehört eine Aktivierung und Mobilisierung aus dem Bett heraus, wobei die zu pflegende Person auch nach Möglichkeit zum Stehen zu bringen ist. Die Einnahme der Stehhaltung bzw. das Training (Stehübungen) ist bei begründeter Aussicht auf Wiedererlangung einer Gehfähigkeit therapeutisch erforderlich. Darüber hinaus hat sich sowohl das Stehtraining als auch die Stehhaltung in der Langzeitbehandlung von Lähmungserscheinungen, auch hinsichtlich der Gleichgewichtsschulung, der Kreislaufkonditionierung, der Dekubitusprophylaxe, des Blasentrainings und der Kontrakturprophylaxe bewährt (vgl. GKV-Hilfsmittelverzeichnis, Produktgruppe 28 Stehhilfen – Information/Definition). Stehhilfen ermöglichen dabei den Verbleib in einer senkrechten (oder annähernd senkrechten) Körperhaltung über ein eventuell mögliches kurzzeitiges Aufrichten in den Stand hinaus. Grundsätzlich bleibt es dem Pflegeheim überlassen, ob das zur Pflege gehörende zum Stehen bringen einer bettlägerigen Person mittels Pflegepersonal oder mit Hilfe von Geräten erfolgt. Diese Hilfsmittel sind jedoch entsprechend des Pflegeauftrags des Heimes grundsätzlich vom Pflegeheim bereitzuhalten. Bei dem begehrten Freistehbarren Modell Vision handelt es sich auch nicht um ein individuell an die Bedürfnisse der Klägerin angepasstes Hilfsmittel. Nach der Gerätebeschreibung/Gebrauchsanweisung bestehen zwar individuelle Einstellmöglichkeiten durch Anpassung der Gurte und Pelotten an die Bedürfnisse des Nutzers. Da die Gurte und Pelotten wegen der Hilfebedürftigkeit der Nutzer jedoch durch Dritte (hier: Pflegekräfte) angelegt werden, muss keine Grundeinstellung auf die Klägerin beibehalten werden. Vielmehr kann das Gerät auch für andere Personen genutzt und die Einstellung jeweils auf diese Personen abgestimmt werden. Freistehbarren werden auch in der Physiotherapie eingesetzt, woraus sich zwanglos ergibt, dass eine Einstellung auf verschiedene Nutzer möglich sein muss.
Da somit das beantragte Hilfsmittel der Heimausstattung zuzurechnen ist, besteht kein Versorgungsanspruch gegenüber der Beklagten. Die Klage war daher als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

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