Aktenzeichen S 3 KR 16/19
Leitsatz
1. Bei einem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 22.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.12.2018 mit einem G. Kniegelenk zu versorgen.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Gründe
Die vom Kläger gemäß den §§ 87, 90, 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 22.08.2018 und der Widerspruchsbescheid vom 12.12.2018 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Denn der Kläger hat einen Versorgungsanspruch für das verordnete G. Kniegelenk, weshalb die angefochtenen Bescheide aufzuheben waren.
Die einschlägigen materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen für die beanspruchte Hilfsmittelversorgung sind erfüllt einschließlich der Voraussetzungen für die Modalitäten der Leistungserbringung, d. h. das Vorliegen einer ärztlichen Verordnung. Diese datiert vom 13.08.2018 und ist vom Dr. D. ausgestellt worden. Gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V umfasst die vertragsärztliche Versorgung auch die Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Das materielle Leistungsrecht des SGB V besagt in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, dass Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln haben, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind.
Der Hilfsmittelbegriff ist somit im Wesentlichen von den eingesetzten Mitteln und den mit diesen verfolgten Zwecken geprägt. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V beschreibt im Einzelnen die Ziele, die mit dem Einsatz von Hilfsmitteln verfolgt werden, nämlich die Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung einerseits und den Ausgleich von Behinderungen andererseits. Unter die Fallvariante des Abs. 1 Satz 1 fallen Gegenstände, die unmittelbar der Krankheitsbehandlung dienen, in dem von ihnen ein therapeutischer Erfolg erhofft wird. Hierunter fallen vor allem Stützen- und Haltevorrichtungen (z.B. Krücken), die während eines, ggf. nach einem operativen Eingriff mit Korrekturmaßnahmen notwendigen Heilungsprozesses, Körperteile oder Körperfunktionen entlasten oder vorübergehend ersetzen sollen. Demgegenüber ist bei Hilfsmitteln, die dem Behinderungsausgleich dienen oder einer drohenden Behinderung vorbeugen sollen, die Ausgangssituation so, dass die gesundheitliche Regelwidrigkeit selbst nicht behoben werden kann oder soll. Es geht nicht um die medizinische Bekämpfung einer Erkrankung im engeren Sinne. Ein therapeutischer Erfolg dergestalt, dass die Erkrankung geheilt wird und damit eine kausale Therapie stattfindet, wird, zumal wenn eine kausale Therapie nicht zur Verfügung steht, nicht angestrebt.
Die Leistungsablehnung ist rechtswidrig, weil das G. Kniegelenk im vorliegenden Fall zum Behinderungsausgleich erforderlich ist. Dieser in § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V als 3. Variante genannte – und hier allein in Betracht kommende – Zweck (vgl. jetzt auch § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX) eines von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leistenden Hilfsmittels hat zweierlei Bedeutung. Im Vordergrund einer Hilfsmittelversorgung steht zumeist der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8, RdNr. 4 – C-leg II). Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. § 33 Abs. 1 S. 5 SGB V und § 31 Abs. 3 SGB IX). Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich).
Dem Gegenstand nach besteht für den unmittelbaren ebenso wie für den mittelbaren Behinderungsausgleich ein Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch ein Anspruch auf Optimalversorgung. Deshalb besteht kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 26 S. 153); andernfalls sind die Mehrkosten gemäß § 33 Abs. 1 S. 5 SGB V (ebenso § 31 Abs. 3 SGB IX) von dem Versicherten selbst zu tragen. Die Krankenkassen haben auch nicht für solche „Innovationen“ aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern sich auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 44; BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8, RdNr. 15). Eingeschlossen in den Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung ist eine kostenaufwendige Versorgung dagegen dann, wenn durch sie eine Verbesserung bedingt ist, die einen wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber einer kostengünstigeren Alternative bietet. Das gilt bei Hilfsmitteln zum unmittelbaren Behinderungsausgleich insbesondere durch Prothesen für grundsätzlich jede Innovation, die dem Versicherten nach ärztlicher Einschätzung in seinem Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile bietet (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 44 S. 249 – C-Leg I; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 45 S. 255 – Damenperücke; BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8, jeweils RdNr. 4 – C-Leg II).
Auf das normale Gehen, Stehen und Treppensteigen ausgelegte Beinprothesen sind Körperersatzstücke gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Sie dienen dem unmittelbaren Ersatz des fehlenden Körperteils und dessen ausgefallener Funktion. Sie sind auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet und dienen der medizinischen Rehabilitation, ohne dass zusätzlich die Erfüllung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens zu prüfen ist, wie es bei Hilfsmitteln erforderlich wäre, die nur die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen sollen. Bei einer Beinprothese geht es um das Grundbedürfnis auf möglichst sicheres, gefahrloses Gehen und Stehen, wie es bei nicht behinderten Menschen durch die Funktion der Beine gewährleistet ist. Diese Funktion muss in möglichst weitgehender Weise ausgeglichen werden (BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8 – C-leg II).
Der maßgebliche Unterschied zwischen der Prothese mit dem G. Kniegelenk, über die der Kläger zurzeit verfügt und dem begehrten Hilfsmittel besteht nach den Ausführungen des Sachverständigen, die insoweit nicht angegriffen worden sind, darin, dass die neue Prothese wasserdicht ist, so dass sie auch in Feuchträumen sowie beim Baden und Schwimmen verwendet werden kann. Die vorhandene Prothese muss dagegen vorher abgenommen werden, weil die Gefahr besteht, dass die Elektronik durch Feuchtigkeit beschädigt wird. Hierdurch wird eine wesentliche Angleichung an das Leben eines Nichtbehinderten erreicht, weil auch dieser seine Beine beim Kontakt mit Feuchtigkeit nicht besonders schützen muss. Die von der Beklagten zur Verfügung gestellte Badeprothese erfüllt diesen Zweck nicht. Sie besitzt zum einen, anders als die Gehprothese, keine elektronischen Regelungen. Zum anderen ist ein Wechsel von der einen zu der anderen Prothese erforderlich, was mit zusätzlichem Aufwand und in der Öffentlichkeit möglicherweise auch weiteren Unannehmlichkeiten verbunden ist. Damit besteht ein erheblicher Gebrauchsvorteil des G. Kniegelenks gegenüber dem G. Kniegelenk im Nassbereich. Es gleicht im Gegensatz zur Laufprothese mit dem G. Kniegelenk das Funktionsdefizit im Alltagsgebrauch im Nassbereich aus.
Ob auch die weiteren Verbesserungen des neuen Modells, z. B. der walk to run-Modus, eine Bewilligung des G. Kniegelenkes erforderlich machen würden, kann daher dahinstehen.
Die Beklagte hat auch nicht dargetan, dass ein Fall der sogenannten Übermaßversorgung vorliegt. Das Baden oder Schwimmen in Freibädern oder Seen ist Teil des alltäglichen Lebens und stellt keine ausgefallene Sportart dar. Dass es ein günstigeres Modell gebe, das auch den Vorteil der Wasserverträglichkeit biete, hat die Beklagte nicht dargetan.
Der Klage war deshalb stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.