Aktenzeichen S 15 R 328/16
HKaG HKaG Art. 53 Abs. 1 Nr. 1
SGB VI SGB VI § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 4 S. 1
SGG SGG § 54 Abs. 2
Leitsatz
Eine Stellenbe- bzw. -ausschreibung hat lediglich Indizwirkung im Hinblick auf die zu beurteilende Tätigkeit. (amtlicher Leitsatz)
Tenor
I.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 07.01.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2016 verurteilt, den Kläger mit Wirkung ab dem 20.10.2014 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI für die Beschäftigung als Manager Customer Networks bei der Firma E. Pharma GmbH zu befreien.
II.
Die Beklagte trägt 4/5 der außergerichtlichen Kosten des Klägers, 1/5 der Kosten trägt der Kläger selbst.
Gründe
Die zulässige Klage ist begründet. Die Kl. ist durch die angegriffenen Bescheide im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Die Bescheide waren aufzuheben und die Feststellung war zu treffen, dass der Kläger mit Wirkung ab dem 20.10.2014 für die bei der Fa. E. ausgeübten Tätigkeit als Manager Customer Networks zu befreien ist.
Die Befreiung ist erst mit Beginn der Tätigkeit (20.10.2014) auszusprechen, da der Kläger den Befreiungsantrag nicht innerhalb der ersten drei Monate nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt hat (§ 6 Abs. 4 Satz 1 SGB VI).
Der Kläger ist zu befreien, da die bei E. ab dem 20.10.2014 ausgeübte Tätigkeit eine apothekerliche ist.
Ein Versicherter ist von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien, wenn er wegen seiner Beschäftigung Pflichtmitglied in einer Versorgungseinrichtung und einer berufsständigen Kammer war. Dies ist anhand der einschlägigen versorgungs- und kammerrechtlichen Normen zu prüfen (BSG, Urteil vom 31.10.2012, B 12 R 3/11 Rn. 34 unter juris). Der Anknüpfungstatbestand ist hierbei die konkrete Tätigkeit, für die die Befreiung begehrt wird.
Der Bundesgesetzgeber stellt mithin mit seiner Formulierung in § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI („wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind.“) auf einen landesrechtlich geprägten Tätigkeitsbegriff ab. Die entscheidenden landesrechtlichen Rechtsvorschriften hierzu sind das Gesetz über die Berufsausübung, die Berufsvertretungen und die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker sowie der Psychologischen Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Heilberufe-Kammergesetz – HKaG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Februar 2002 sowie die Bayerische Berufsordnung für Apothekerinnen und Apotheker.
Gemäß Art. 53 Abs. 1 Nr. 1 HKaG sind Mitglieder der Landesapothekerkammer alle zur Berufsausübung berechtigten Apotheker, die in Bayern als Apotheker tätig sind oder ohne als Apotheker tätig zu sein, in Bayern ihre Hauptwohnung haben. Eine Legaldefinition, wann das Gesetz von einer Tätigkeit „als Apotheker“ ausgeht, fehlt. Die Bayerische Berufsordnung für Apothekerinnen und Apotheker legt auf der Grundlage des Bayerischen Heilberufe-Kammergesetzes die Berufspflichten und die ethischen Grundsätze der Berufsausübung fest. Diese definiert auch in ihrem § 1 die apothekerliche Berufsausübung. Danach übt der Apotheker seinen Beruf in unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen aus, insbesondere in der öffentlichen Apotheke, im Krankenhaus, im pharmazeutischen Großhandel, in der pharmazeutischen Industrie, in Prüfinstitutionen, bei der Bundeswehr, bei Behörden und Körperschaften, an der Universität und an Lehranstalten und Berufsschulen und ist dabei zum Dienst im Gesundheitswesen berufen. Der Auftrag des Apothekers umfasst je nach individuellem Tätigkeitsbereich die Entwicklung, Herstellung, Prüfung und Abgabe von Arzneimitteln, insbesondere die Beratung und Betreuung der Patienten, die Beratung der Ärzte und anderer Beteiligter im Gesundheitswesen, die Sicherstellung des ordnungsgemäßen Umgangs mit Arzneimitteln, Forschung, Lehre und Verwaltung, die Tätigkeit als Sachverständiger sowie weitere pharmazeutische Leistungen. Er bezieht sich auch auf Medizinprodukte sowie sonstige apothekenübliche Waren und Tätigkeiten und beinhaltet auch die Mitarbeit bei qualitätssichernden und präventiven Maßnahmen. Der Apotheker hilft den Menschen dabei, ihre Gesundheit zu erhalten und Erkrankungen vorzubeugen.
Diese offene Definition der apothekerlichen Tätigkeit nach Landesrecht wirkt über § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI unmittelbar ins Bundesrecht ein. Allerdings ist die Auffassung der Beklagten, bei der Berufsdefinition des Apothekers im Kontext der Frage nach der Befreiungsfähigkeit einer Tätigkeit auch Bundesrecht heranzuziehen, rechtsfehlerfrei. Denn die Auslegung der Tätigkeit als Apotheker kann unter Heranziehung von Bundesrecht (BApO) zulässig erfolgen (BVerwG, Urteil vom 30.01.1996, Aktenzeichen 1 C 9/93).
Nach § 2 Abs. 3 BApO ist Ausübung des Apothekerberufs die Ausübung einer pharmazeutischen Tätigkeit, insbesondere die Entwicklung, Herstellung, Prüfung oder Abgabe von Arzneimitteln unter der Berufsbezeichnung “Apotheker” oder “Apothekerin”. Die apothekerliche Approbation im Sinne von § 2 Abs. 1 BApO ist hierbei für die Ausübung einer apothekerlichen Tätigkeit im Kontext der Kammerrechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht zwingend erforderlich (HessVGH, 29.09.1992, 11 UE 1829/90).
Nichts anderes gilt für die Frage der Befreiungsfähigkeit im Kontext von § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, die gemäß der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wie oben dargelegt anhand der einschlägigen versorgungs- und kammerrechtlichen Normen zu prüfen ist.
Rechtsfehlerhaft ist in diesem Kontext die von der Bekl. aufgestellte Tatbestandsvoraussetzung, dass die Approbation zwingende Voraussetzung für den Beruf in dem Sinne sein müsse, dass die Tätigkeit nur mit Approbation ausgeführt werden könne bzw. dürfe. Dies würde das befreiungsfähige Tätigkeitsprofil eines Apothekers letztlich auf die Tätigkeit in einer öffentlichen oder Krankenhausapotheke verengen, was weder mit § 2 Abs. 2 BApO noch mit der Rechtsprechung des BSG (a. a. O.) in Einklang zu bringen ist. Sofern die Bekl. die Auffassung vertritt, sich hierbei auf die Judikatur der Landessozialgerichtsbarkeit, die zum Tätigkeitsprofil der Pharmaberater ergangen ist, stützen zu können, überzeugt dies nicht. Zwar wird in diesen Urteilen teilweise der missverständliche Ausdruck gebraucht, dass „die Tätigkeit als Pharmaberater nicht zwingend die Approbation als Arzt, Tierarzt bzw. Apotheker erfordert“ (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.01.2009, Az. L 4 R 738/06, Rn. 29, juris; ähnlich LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.05.2010, L 4 R 168/09, Rn. 31, juris), andererseits wird aber in der gleichen Judikatur darauf abgestellt, ob die Tätigkeit „berufsspezifisch“ (LSG Hessen, Urteil vom 29.03.2007, Az. L 1 KR 344/04, Rn. 24, juris) bzw. „zum wesentlichen Kernbereich der pharmazeutischen Tätigkeit gehört“ (LSG Baden-Württemberg, a. a. O.). Da die Approbation im Bereich der pharmazeutischen Industrie als Berufszugangsbedingung von Gesetz wegen nicht existiert, führte der missverständliche Ausdruck der „zwingend erforderlichen Approbation“ dazu, dass nur noch im Bereich der öffentlichen und Krankenhaus-Apotheke, für den die Approbation für die Berufsausübung vorausgesetzt wird (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über das Apothekenwesen – ApoG – bzw. § 14 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 3 ApoG), nicht aber für Tätigkeiten im pharmazeutisch-industriellen Komplex befreit werden könnte. Dass dies jedoch realitätsfern und sich mit den berufsständischen Vorschriften nicht in Einklang bringen lässt, zeigen bereits § 2 Abs. 3 Bundesapothekerordnung – BApO – und § 1 Abs. 1 der Berufsordnung für Apothekerinnen und Apotheker der Bayerischen Landesapothekerkammer, die eine apothekerliche Tätigkeit im Hinblick auf die Entwicklung, Herstellung und Prüfung von Medikamenten bzw. in der pharmazeutischen Industrie voraussetzen.
Die zitierte Rechtsprechung der Landessozialgerichtsbarkeit ist daher nur unter dem Gesichtspunkt mit der Rechtsprechung des BSG in Einklang zu bringen, dass die zu beurteilende Tätigkeit zum Kernbereich des apothekerlichen Berufsbilds gehören muss. Dies wiederum ist anhand der einschlägigen kammerrechtlichen Vorschriften, insbesondere unter Beachtung der Berufsordnungen des jeweiligen verkammerten Berufs, zu beurteilen (ständige Rechtsprechung der Kammer, vgl. SG A-Stadt, Urteil vom 05. Februar 2015 – S 15 R 928/14 -, juris; SG A-Stadt, Urteil vom 10. März 2016 – S 15 R 10/16 -, juris; ablehnend in Bezug auf die Approbationspflichtigkeit einer apothekerlichen Tätigkeit als Befreiungsvoraussetzung auch SG B-Stadt, Urteil vom 25.01.2016, S 10 R 3345/14, sowie Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 28. April 2016 – L 1 KR 347/15 -, juris; ablehnend zum Negativkriterium der Möglichkeit der Berufsausübung durch andere verwandte Berufe auch Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 06. Februar 2014 – L 1 KR 8/13 -, Rn. 62, juris, zum freien Beruf des Tierarztes).
Im Übrigen ist festzustellen, dass die Beklagte von ihrer Diktion teils schon abweicht, wenn sie gem. ihrem Schriftsatz vom 19.07.2016 (Bl. 66 der Gerichtsakte) inzwischen bereit ist, auch Industrie-Apotheker in den Bereichen Forschung und Entwicklung, klinische Prüfung, Herstellung, Prüfung und Qualitätssicherung einschließlich Arzneimittelsicherheit zu befreien. Denn für diese Arbeitsfelder ist die Approbation gerade nicht zwingende, d. h. gesetzliche Voraussetzung.
Das oben benannte Prüfniveau vorausgesetzt, ist die Tätigkeit des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum als apotherkerliche einzuschätzen. Gem. den überzeugenden Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist dieser im Bereich der Versorgung und Versorgungsoptimierung der Bevölkerung in bestimmten Indikationen tätig. Er beschäftigt sich im streitgegenständlichen Zeitraum mit mit dem Krankheitsbild „Vorhofflimmern“. Es wurde ein Ärztenetzwerk mit jetzt mehreren 1.000 Ärzten aufgebaut, die ihre Behandlungsdaten vernetzen. Der Kläger entwickelt in Kooperation mit dem Systemhersteller und den Ärzten einen Algorithmus respektive Behandlungshinweise/-tools zur Optimierung der individuellen Behandlung. Dabei werden berücksichtigt:
– bisher gestellte Diagnosen verschiedener Fachärzte
– Medikationen und Therapien
– individuelle Patientendaten.
Ziel ist es, zum Beispiel bei Vorhandensein von Comorbiditäten bereits bei der Auswahl des Wirkstoffes (Warn-) Hinweise an die behandelnden Ärzte zu geben. Der Anteil des Klägers an diesem System ist nicht gewinnorientiert. E. erhofft sich, untertherapierte und nicht adäquat therapierte Patienten mit diesem System ausfindig zu machen, die dann gegebenenfalls auch mit E.-Medikamenten therapiert werden können. Ziel des mitentwickelten Systems ist es, dass der Arzt bereits vor Auswahl des Wirkstoffes, d. h. vor Verordnung eines Wirkstoffes, bestmöglich über Wechselwirkungen und individuelle Hindernisse, die der Auswahl des anvisierten Wirkstoffes entgegenstehen könnten, informiert werden kann. Seine konkrete Tätigkeit besteht in diesem Kontext in:
– Recherchen in medizinischen Datenbanken
– Validierung der anvisierten Algorithmen
– Besprechung mit den Ärzten
– Programmanweisung an die Systemprogrammierung.
Diese Tätigkeit benötigt profundes pharmazeutisches Wissen und ist somit dem Kernbereich der apothekerlichen Tätigkeit zuzuordnen. Pharmazeutisches Wissen findet nicht „noch“ am Rande Anwendung. Vielmehr hat der Kläger überzeugend in der mündlichen Verhandlung dargestellt, dass er für die Indikation „Vorhofflimmern“ problematische Interaktionen der Medikamente gegen Vorhofflimmern mit häufig (oft unwissentlich, da von anderen Fachärzten) zusammen verordneten Medikamenten herausfinden muss, indem er medizinische Fachdatenbanken durchsucht. Er bespricht sich dann mit den am Projekt beteiligten Ärzten, auf welche Weise er (Warn-) Hinweise den verordnenden Ärzten im Netzwerk bereitstellt. Zusätzlich berücksichtigt er abstrakt den Einfluss von Geschlecht und Alter auf die Medikation gegen Vorhofflimmern und ist damit betraut, diese Einflüsse für den Arzt praktikabel im System sichtbar zu machen. Er versucht weiter, dass System dahingehend zu sensibilisieren, dass bei nicht genommenen Blutwerten (etwa weil Patienten nicht mehr regelmäßig zum Arzt gehen können) der Arzt im Hinblick auf die Medikation geeigneter Wirkstoffe dann gewarnt wird, wenn die pharmazeutisch korrekte Applikation von Wirkstoffen eine lückenlose Kontrolle der Blutwerte als Voraussetzung hat. Der Kläger ist nach der Überzeugung der Kammer nur als Pharmazeut in der Lage, diese Fragestellungen anzugehen und geeignete Lösungen zu finden.
Der Kläger ist im Bereich der privaten Gesundheitsfürsorge tätig. In diesem Kontext entwickelt er ein abstraktes Beratungssystem für Ärzte als wesentliche Dienstleister des Gesundheitssystems.
Die Kammer ist sich bewusst, dass die Role Description nicht annähernd das oben beschriebene Tätigkeitsbild beschreibt (im Übrigen auch nicht die letzte Seite der Role Description, die allenfalls partiell mit dem oben genannten Tätigkeitsprofil in Einklang zu bringen ist). Gleiches gilt für den von der Kammer beigezogenen Arbeitsvertrag des Klägers.
Der Kläger hat jedoch glaubwürdig ausgeführt, dass dieser Unterschied der Konzernstrategie von E. geschuldet ist. Die detaillierte Tätigkeitsbeschreibung des Klägers hat für die Kammer in diesem Fall einen höheren und unmittelbareren Beweiswert als die vorherige formale Stellenbeschreibung (ebenso SG B-Stadt, a. a. O.). Grundsätzlich wäre es wünschenswert, dass auch die Beklagte in den Befreiungsfällen im Wege der Amtsermittlung größere Anstrengungen unternehmen würde, ein genaues Tätigkeitsprofil der konkreten Tätigkeit zu ermitteln, zumal bei – wie vorliegend – großer zeitlicher Distanz zwischen Stellenbeschreibung und frühstmöglichem Befreiungszeitpunkt. Eine Stellenbe- bzw. -ausschreibung hat lediglich Indizwirkung im Hinblick auf die zu beurteilende Tätigkeit.
Nach allem war der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt, dass ursprünglich eine Befreiung ab Beginn der Beschäftigung bei E. im Jahre 2010 eingeklagt war.