Medizinrecht

Begutachtung der Fahreignung bei Bluthochdruck

Aktenzeichen  M 26 K 18.5448

Datum:
21.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 32295
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 7, § 46 Abs. 1
StPO § 153a Abs. 1

 

Leitsatz

Ein Gutachten, welches die Frage der Fahruntauglichkeit u.a. wegen Bluthochdrucks zum Gegenstand hat, ist nicht brauchbar, wenn nicht die aktuellen Regelungen der Nr. 3.4.2 der Begutachtungs-Leitlinien für Kraftfahreignung und der Nr. 4.2.2 Anlage 4 FeV beachtet werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Landratsamts Starnberg vom 28. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Februar 2017 wird aufgehoben, soweit dem Kläger hiermit die Fahrerlaubnis der Klassen A1, B und BE einschließlich Unterklassen entzogen wurde.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid des Landratsamts vom 28. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Februar 2017 ist rechtswidrig, soweit dem Kläger hiermit die Fahrerlaubnis der Klassen A und BE einschließlich Unterklassen entzogen wurde. Insoweit verletzt der Bescheid den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in der vorliegenden Anfechtungssituation maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheids am 23. Februar 2017 stand aufgrund des fachärztlichen Gutachtens der B. vom … Oktober 2016 nicht im Sinne des § 11 Abs. 7 FeV fest, dass der Kläger ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der genannten Klassen der Gruppe 1 ist.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Zu den Erkrankungen und Mängeln, die die Fahreignung beeinträchtigen können, zählen u.a. Hypertonie (Anlage 4 FeV Nr. 4.2), Diabetes mellitus (Anlage 4 FeV Nr. 5) sowie die Dauerbehandlung mit Arzneimitteln, wenn diese die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß beeinträchtigt (Anlage 4 FeV Nr. 9.6.2).
Das vorgelegte Gutachten der B. ist unter Zugrundelegung der neuesten, im Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheids anzuwendenden wissenschaftlichen Grundsätze (vgl. § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a FeV), i.e. den Begutachtungs-Leitlinien für Kraftfahreignung, und der zu diesem Zeitpunkt geltenden Nrn. 3.4.2 und 4.2.2 Anlage 4 FeV nicht hinreichend nachvollziehbar. Hinsichtlich der Eignungsfrage Bluthochdruck geht das Gutachten ausdrücklich noch von den bis zum 27. Dezember 2016 geltenden Feststellungen (vgl. Nr. 4.2.2 Anlage 4 FeV a.F., Nr. 3.4.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung) aus, dass bei einem Bluthochdruck mit ständigem diastolischem Wert über 100 mmHg nur unter besonderen Bedingungen Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 besteht, wenn gleichzeitig andere prognostisch ernste Symptome, z. B. Zeichen einer gestörten Nierenfunktion, starke Augenhintergrundveränderungen (Blutungen und Exsudate), neurologische Restsymptome nach Hirndurchblutungsstörungen oder eine deutliche Linkshypertrophie des Herzens nachzuweisen sind. Das Gutachten referiert hierzu die zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung noch geltenden Begutachtungsleitlinien (Nr. 3.4.2), wonach die Gefahren bereits jenseits 120 mmHg für den diastolischen Blutdruck schnell zunähmen. Jenseits 130 mmHg für den diastolischen Blutdruckwert sei diese Gefahr so naheliegend, dass jede Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr ausgeschlossen werden müsse. […] Schon bei diastolischen Blutdruckwerten jenseits 100 mmHg häuften sich Blutungszwischenfälle, Kreislaufversagen, Niereninsuffizienzzeichen und Netzhautschäden, so dass eine regelmäßige ärztliche Überwachung dieser Kranken besonders dann sichergestellt sein müsse, wenn sie als Kraftfahrer am Straßenverkehr teilnähmen. Auf dieser Grundlage kommt die Gutachterin sodann zu dem Ergebnis, dass wegen des bei der 24 Stunden Blutdruckmessung festgestellten Mittelwertes von 107 mmHg, des Spitzendrucks von über 150 mmHg und der bereits eingetretenen Linksherzhyperthrophie eine Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 nicht vorliege, auch wenn noch keine Folgererkrankungen feststellbar seien.
Die ab dem 28. Dezember 2016 geltenden Begutachtungsleitlinien (vgl. Nr. 3.4.2) gehen in Ausfüllung der Vorgaben in Nr. 4.2.2 Anlage 4 FeV n.F. allerdings davon aus, dass Hypertonie (zu hoher Blutdruck) nur bei zerebraler Symptomatik und/oder Sehstörungen automatisch zur Fahrungeeignetheit führt (Anlage 4 FeV Nr. 4.2.1). Bei einem Bluthochdruck ohne zerebrale Symptome oder Sehstörungen können demnach erst bei Werten über 110 mmHg diastolisch überhaupt Zweifel an der Fahreignung bestehen, wobei die Fahreignung für die Gruppe 1 in der Regel gegeben ist. Denn ein kausaler Zusammenhang zwischen erhöhtem Blutdruck und Auftreten von Verkehrsunfällen sei nicht gesichert.
Vor diesem Hintergrund ist für das Gericht ohne eine erneute gutachterliche Feststellung und Bewertung nicht mit der erforderlichen Sicherheit zu beurteilen, ob unter Zugrundelegung der für die Beurteilung maßgeblichen neuen wissenschaftlichen Maßstäbe, die gemäß § 11 Abs. 5 i.V.m. Anlage 4a normativen Charakter haben, beim Kläger von Fahrungeeignetheit auszugehen ist. Dass es sich vorliegend um einen Bluthochdruck mit zerebralen Symptomen oder Sehstörungen handelt, kann den gutachterlichen Feststellungen nicht entnommen werden. Zudem lag der Mitteldruck bei der 24 Stunden Blutdruckmessung bei 107 mmHg und damit unterhalb des Wertes von 110 mmHg. Beim Begutachtungstermin lag der Blutdruck bei 150/90 und damit in einem unproblematischen Bereich. Ob allein der festgestellte Spitzendruck von über 150 mmHg verbunden mit der Linksherzhypertrophie, die jedoch laut dem Gutachten zu keiner Minderung der Herzauswurfleistung und zu keinen Folgeerkrankungen geführt hat, unter Zugrundelegung der relevanten Beurteilungskriterien zur Fahrungeeignetheit führt, bedarf einer gutachterlichen Feststellung, die der Beklagte im Widerspruchsverfahren im Wege der Ergänzung bzw. Nachbesserung des erstellten Gutachtens hätte veranlassen müssen. Wegen des vorliegend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkts der Zustellung des Widerspruchsbescheids war die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens nicht zielführend.
Auch die gutachterliche Schlussfolgerung, der Kläger sei wegen des Diabetes Mellitus nicht in der Lage, Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 zu führen, vermag den streitgegenständlichen Bescheid nicht zu tragen, weil diese Feststellung maßgeblich mit dem aus Sicht der Gutachterin fahreignungsausschließenden Bluthochdruck als Folgeerkrankung begründet wird. Nach Nr. 5.1 bis 5.6 Anlage 4 zur FeV i.V.m. Nr. 3.5 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung ist die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 in der Regel zu bejahen, wenn ein niedriges Hypoglykämierisiko und eine ausgeglichene Stoffwechsellage vorliegen und keine Folgekomplikationen aufgetreten sind, wobei deren Beurteilung aber den Grundsätzen folgen muss, die für diese Krankheitsgruppen vorgesehen sind. Das vorliegende Gutachten stellt eine Diabetes mellitus-Erkrankung mit aktuell ausgeglichener Stoffwechsellage und niedrigem Hypoglykämierisiko fest. Derzeit seien keine schwerwiegenden Stoffwechseldekompensationen feststellbar, die ein erhöhtes verkehrsrelevantes Gefährdungspotential begründen ließen. So seien besonders keine Hypoglykämien verbunden mit Kontrollverlust, Verhaltensstörungen oder Bewusstseinsstörungen bekannt geworden. Hyperglykämien mit ausgeprägten Symptomen wie Schläfrigkeit oder reduziertem Wahrnehmungsvermögen lägen ebenfalls nicht vor. Dennoch gelangt die Gutachterin zu dem Schluss der fehlenden Fahreignung wegen Diabetes, weil eine Begleiterkrankung in Form des Bluthochdrucks mit fahreignungsausschließenden Symptomen vorliege. Vor dem Hintergrund obiger Ausführungen und angesichts dessen, dass die Beurteilung des Bluthochdrucks nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung den hierfür speziell vorgesehenen Grundsätzen folgen muss, erscheint dieser Schluss in Bezug auf die Gruppe 1 allerdings nicht tragfähig. Auch die im Gutachten zur Stütze dieses Schlusses angeführten Umstände, dass ein halbes Jahr vor Erstellung des Gutachtens noch erhöhte Blutzuckerwerte vorgelegen hätten und der Kläger noch keine ausreichende Krankheitseinsicht habe darstellen können, vermögen die Feststellung der Nichteignung für sich genommen wohl nicht zu tragen. Insbesondere ist nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung selbst für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 nur eine stabile Stoffwechselführung über drei Monate nachzuweisen.
Nachvollziehbar ist grundsätzlich die aufgrund der durchgeführten Leistungstestung getroffene Feststellung im Gutachten, dass der Kläger die erforderliche psychophysische Leistungsfähigkeit nicht besitzt. Dafür, dass – wie der Bevollmächtigte des Klägers ausgeführt hat – die unzureichenden Testergebnisse auf mangelnde Deutschkenntnisse des Klägers zurückzuführen sind, bestehen keine Anhaltspunkte, zumal der Kläger ausweislich des Gutachtens im Vorfeld der Leistungstestung nach eventuell vorliegenden erschwerenden Bedingungen gefragt wurde und er sich im Rahmen des Untersuchungsgesprächs der Gutachterin auch mitteilen konnte. Allerdings blieb im Gutachten die Frage der Kompensationsfähigkeit offen, weil die Gutachterin davon ausging, dass eine solche aufgrund der diagnosebedingten Eignungsbedenken, also insbesondere wegen des aus ihrer Sicht die Fahreignung ausschließenden Bluthochdrucks, nicht zu prüfen sei. Damit wurde die – auch zwingend zu stellende – Frage des Landratsamts nach einer möglichen Kompensation letztlich nicht beantwortet.
Nach alledem steht die Fahrungeeignetheit des Klägers für Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 allein aufgrund des vorliegenden Gutachtens noch nicht zur Überzeugung des Gerichts fest. Insbesondere aufgrund der sehr schlechten Ergebnisse des Klägers in der Leistungstestung, die erhebliche Zweifel an seiner Fahreignung begründen, aber auch wegen des Bluthochdrucks und der Diabeteserkrankung wird das Landratsamt im Rahmen einer Ermessensentscheidung erneut darüber zu befinden haben, ob eine erneute Begutachtung des Klägers auf dessen Kosten angezeigt ist. Hinsichtlich der Diabeteserkrankung wird auf die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Mai 2017 (Az. 11 CS 17.312, juris Rn. 19) sowie darauf hingewiesen, dass die diesbezügliche Begutachtung nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung von einem Facharzt für innere Medizin und/oder Diabetologen vorgenommen werden sollte.
Der Klage war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.

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