Aktenzeichen L 4 P 45/15
SGB XI § 15 Abs. 3 (a.F.)
Leitsatz
1. Der Zeitaufwand für verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen nach § 15 Abs. 3 S. 2 SGB XI a.F. muss konkret festgestellt werden.
2. Zu den Überschneidungen zwischen Grundpflege und Behandlungspflege.
3. Allein aus dem Erfordernis von häuslicher Krankenpflege in Form einer 24-stündigen Überwachung kann nicht geschlossen werden, dass verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen nach § 15 Abs. 3 S. 2 SGB XI a.F. anfallen.
Verfahrensgang
S 12 P 153/13 2015-07-07 Urt SGMUENCHEN SG München
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. Juli 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zutreffend abgewiesen.
Streitgegenstand ist die Höhe der Leistungen für den Zeitraum 27.05.2011 bis 31.12.2016. Die zeitliche Beschränkung ergibt sich aus dem in der mündlichen Verhandlung am 22.02.2018 gestellten Antrag der Klägerin. Daher ist das bis 31.12.2016 geltende Recht (a.F.) anzuwenden. Inhaltlich hat die Klägerin ihren Antrag auf Leistungen der Pflegestufe III beschränkt; nicht mehr Gegenstand des Verfahrens sind damit zusätzliche Leistungen wegen erheblicher Einschränkung der Alltagskompetenz nach §§ 45a, 45b SGB XI und § 123 Abs. 4 SGB XI (jeweils in der bis 31.12.2016 geltenden Fassung). Insoweit hat die Klägerin die Berufung zurückgenommen. Streitgegenstand ist der Bescheid vom 14.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.03.2013, bezogen auf den Höherstufungsantrag.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) zulässig, aber nicht begründet.
Der Klägerin stehen Leistungen der Pflegestufe III für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht zu. Da Leistungen für den Zeitraum 27.05.2011 bis 31.12.2016 im Streit stehen, ist § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB XI a.F. anzuwenden. Danach muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens fünf Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen. Diese Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall nicht erfüllt; die Klägerin benötigte Leistungen der Grundpflege nicht im Umfang von täglich vier Stunden (240 Minuten).
1. Dies ergibt sich aus den Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. S., der einen Zeitaufwand für die Grundpflege von täglich 141 Minuten beschrieben hat. Das Gutachten von Dr. S. ist für den Senat schlüssig und überzeugend.
Die von der Klägerin gegen das Gutachten vorgebrachten Einwände sind wenig substantiiert. So hat die Klägerin allgemein ausgeführt, der Zeitaufwand bei der Teilwäsche, der Zahnpflege, der Ernährung und der Mobilität sei zu gering bewertet; auch bestehe ein Zeitaufwand für das Rasieren und das Baden. Damit hat sie letztlich den Vortrag ihrer Mutter wiederholt, mit dem sich der Sachverständige bereits auseinandergesetzt hatte.
Das SG hat in dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt, es sei nicht plausibel, täglich zusätzlich zum Duschen und zur Teilwäsche des Oberkörpers und des Unterkörpers einen Pflegeaufwand für das Baden anzusetzen. Zutreffend ist auch der Hinweis des SG, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe III nach dem Sachverständigengutachten bei weitem nicht erfüllt werden. Dr. S. hat einen Pflegebedarf ermittelt, der 99 Minuten unterhalb der für die Annahme der Pflegestufe III erforderlichen 240 Minuten liegt. Daher würde es bei dem gefundenen Ergebnis auch bei kleineren Abweichungen verbleiben. Anhaltspunkte dafür, dass das Gutachten des Sachverständigen Dr. S. auch nur annähernd in diesem Umfang fehlerhaft sein könnte, sind nicht ersichtlich und wurden auch von der Klägerin nicht vorgetragen. Daher war auch die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens durch den Senat nicht angezeigt. Dies hatte im Übrigen auch die Klägerin nicht angeregt oder beantragt.
Ergänzend ist noch anzumerken, dass der Hinweis, die Mutter müsse Sonderkost kochen, bereits deshalb fehlgeht, weil das Kochen nicht zur Grundpflege zählt, sondern zur hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI a.F.).
2. Der geltend gemachte Anspruch ergibt sich auch nicht daraus, dass der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V im Umfang von täglich 24 Stunden verordnet war.
Insbesondere lässt sich die begehrte Rechtsfolge nicht dem Urteil des BSG vom 08.10.2014 (B 3 P 4/13 R) entnehmen. Leitsatz 1 dieser Entscheidung lautet:
Verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen gehören sowohl zu den bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit zu berücksichtigenden grundpflegerischen Maßnahmen als auch zu den behandlungspflegerischen Maßnahmen im Sinne der häuslichen Krankenpflege.
Dies bedeutet, worauf der Bevollmächtigte der Klägerin zutreffend hingewiesen hat, dass es zwischen Grundpflege nach dem SGB XI und Behandlungspflege nach dem SGB V Überschneidungen gibt. Eine hiervon abweichende Auffassung haben im vorliegenden Verfahren allerdings weder die Beklagte noch das SG vertreten.
Streitig ist also nicht, ob Überschneidungen möglich sind, sondern in welchem Umfang solche Überschneidungen im konkreten Fall vorliegen. Dies hängt davon ab, ob und ggf. in welchem Umfang im Fall der Klägerin verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen im Sinne von § 15 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB XI a.F. vorliegen. Dies sind Maßnahmen der Behandlungspflege, bei denen der behandlungspflegerische Hilfebedarf untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung nach § 14 Abs. 4 SGB XI a.F. ist oder mit einer solchen Verrichtung notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang steht (§ 15 Abs. 3 Satz 3 SGB XI a.F.).
Das SG hat in dem angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt, warum verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen nicht vorliegen: An Behandlungspflege besteht vorwiegend eine sog. Beobachtungspflege, um im Falle einer Störung der Atemtätigkeit intervenieren zu können. Diese Pflegeleistung fällt zwar zeitlich mit sämtlichen Verrichtungen der Grundpflege zusammen, da sie 24 Stunden täglich erforderlich ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass dies eine verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme nach § 15 Abs. 3 Satz 2 SGB XI wäre. Ein zeitlicher Zusammenhang reicht nur dann aus, wenn die gleichzeitige oder unmittelbar anschließende Durchführung der krankheitsspezifischen Maßnahme mit der Verrichtung objektiv erforderlich ist, z. B. Pflegebad anstelle eines normalen Bades (BSG Urteil vom 29.04.1999, B 3 P 13/98). Vorliegend ist ein solcher Zusammenhang nicht gegeben. Die Beobachtung und ggf. Intervention steht losgelöst von bzw. neben den Verrichtungen der Grundpflege. Keinesfalls können die von der Mutter der Klägerin übernommenen sechs Stunden der Behandlungspflege auf die Grundpflege angerechnet werden.
In dem von der Klägerin, nicht aber vom SG zitierten Urteil vom 08.10.2014 (B 3 P 4/13 R) hat das BSG entschieden, dass die parenterale Ernährung eine verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme sei und dass der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die hierzu erforderlichen Hilfeleistungen benötige, für die Bestimmung der Pflegestufe zu berücksichtigen sei. Denn die parenterale Ernährung sei untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung nach § 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI, nämlich der Nahrungsaufnahme.
Da die Klägerin nicht der parenteralen Ernährung bedarf, kann diese Rechtsprechung nicht direkt auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Das SG hat in der zitierten Entscheidung darüberhinaus auch keine Maßstäbe aufgestellt, nach denen die im Fall der Klägerin erforderliche 24-stündige Beobachtungspflege ganz oder teilweise als verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme zu qualifizieren wäre. Auch sonst ist nicht ersichtlich, dass Dr. S. oder das SG eine solche Maßnahme übersehen bzw. unzutreffend ausschließlich der Behandlungspflege zugeordnet hätte.
Der Vortrag des Bevollmächtigten der Klägerin im Erörterungstermin am 13.11.2017, weil die Klägerin einer 24-stündigen Überwachung (Behandlungspflege) bedürfe, sei eine exakte Messung der für die Grundpflege erforderlichen Zeiten nicht möglich; hier dürfe es nicht auf Minutenwerte ankommen, findet weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung des BSG eine Stütze.
§ 15 Abs. 3 SGB XI a.F. sah ausdrücklich vor, dass die Zuordnung zu einer Pflegestufe von dem konkret gemessenen Zeitaufwand für die Hilfe bei den in § 14 Abs. 4 SGB XI a.F. genannten Verrichtungen abhing. Dieses vielfach kritisierte Kriterium wurde durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz vom 21.12.2015 mit Wirkung zum 01.01.2017 durch eine Neuregelung der u.a. §§ 14, 15 SGB XI abgelöst. Die Neuregelung entfaltet jedoch keine Rückwirkung.
Das BSG hat in dem von der Klägerin zitierten Urteil vom 08.10.2014 (B 3 P 4/13 R) ebenfalls exakte Feststellungen zum Zeitaufwand für die – als verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme qualifizierte – parenterale Ernährung für erforderlich gehalten. Das BSG hat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen, damit dieses entsprechende Feststellungen treffe (a.a.O., Rn. 28).
3. Zeiten der allgemeinen Aufsicht sind im Rahmen der Pflegeversicherung nicht zu berücksichtigen. Das BSG (z.B. BSG Beschluss vom 08.05.2001, B 3 P 4/01 B) hat zur damaligen Rechtslage mehrfach entschieden, dass eine allgemeine Aufsicht, die darin besteht, zu überwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des täglichen Lebens von dem Pflegebedürftigen ordnungsgemäß ausgeführt werden, und dazu führt, dass dieser gelegentlich – auch wiederholt – zu bestimmten Handlungen aufgefordert werden muss, nicht ausreicht, weil eine nennenswerte Beanspruchung der Pflegeperson damit nicht verbunden ist. Ein Beaufsichtigungsbedarf ist nur zu berücksichtigen, wenn die Pflegeperson dabei nicht nur verfügbar und einsatzbereit, sondern durch die notwendigen Aufsichtsmaßnahmen – wie bei der Übernahme von Verrichtungen – auch zeitlich und örtlich in der Weise gebunden ist, dass sie vorübergehend an der Erledigung anderer Dinge gehindert ist, denen sie sich widmen würde bzw. könnte (z.B. Arbeiten aller Art im Haushalt oder Freizeitgestaltung), wenn die Notwendigkeit der Hilfeleistung nicht bestünde (BSG Urteile vom 24.06.1998 – B 3 P 4/97 R – SozR 3-3300 § 14 Nr. 5 und 06.08.1998 – B 3 P 17/97 R – SozR 3-3300 § 14 Nr. 6). Eine derartige Bindung der Pflegeperson ist im Fall der Beaufsichtigung der Klägerin nicht gegeben.
4. Der streitgegenständliche Anspruch ergibt sich nicht aus einer vertraglichen Regelung. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat vorgetragen, dass die Mutter zugesagt habe, täglich sechs von 24 Stunden Behandlungspflege zu übernehmen; dadurch erspare sie der Krankenversicherung entsprechende Kosten. Im Gegenzug erhalte sie Pflegegeld auf der Grundlage der Pflegestufe III.
Ein Vertrag, mit dem die Beklagte der Klägerin oder ihrer Mutter Pflegegeld in bestimmter Höhe als Gegenleistung für eine Kostenersparnis der Krankenversicherung (die mit der Beklagten nicht identisch ist) zugesagt hätte, befindet sich jedoch weder in der Beklagtenakte noch wurde er von der Klägerin im gerichtlichen Verfahren vorgelegt. Eine etwaige mündliche Abrede wäre im Übrigen nichtig (§ 56 SGB X; § 58 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 125 Satz 1 BGB).
5. Schließlich ergibt sich der streitgegenständliche Anspruch auch nicht aus einem früheren Bescheid, mit denen Pflegegeld der Stufe III bewilligt worden war. Denn dieser war mit Bescheid vom 27.09.2010 aufgehoben worden. Der Aufhebungsbescheid vom 27.09.2010 ist bindend geworden; Anhaltspunkte dafür, dass er der Mutter der Klägerin, an die er adressiert war, nicht zugegangen wäre, liegen nicht vor. Dies wurde auch von der Klägerin nicht geltend gemacht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor; insbesondere sieht der Senat keine Divergenz zum Urteil des BSG vom 08.10.2014 (B 3 P 4/13 R).