Medizinrecht

Beschädigtenrente – Beweismaßstab beim sexuellen Missbrauch

Aktenzeichen  L 15 VG 7/11

Datum:
9.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 3863
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 170 Abs. 2
SGB X § 44
OEG § 2 Abs. 1 S. 1
StGB § 113 Abs. 1, § 121, § 176, § 240
SGG § 160 Abs. 2 Nrn. 1 u. 2

 

Leitsatz

1. Es bestehen keine Bedenken dagegen, hinsichtlich der behaupteten Taten auch innerhalb desselben Komplexes (hier sexueller Missbrauch durch verschiedene Handlungen) unterschiedliche Beweismaßstäbe anzuwenden. (Rn. 60)
2. Sowohl ein Nachweis als auch eine Glaubhaftmachung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG allein aufgrund des Vorliegens einer bestimmten Erkrankung ist grundsätzlich nicht möglich (Fortführung der ständigen Rechtsprechung des Senats). (Rn. 91 und 97)

Verfahrensgang

S 15 VG 10/10 2011-04-19 Endurteil SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 19. April 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Der Bescheid vom 23.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2010 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte den bestandskräftigen Bescheid vom 16.05.2002 zurücknimmt, als Schädigungsfolge eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung feststellt und ihr eine Beschädigtenrente wegen sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater und Großvater gewährt.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
Bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG (und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette) geht der Senat von folgenden rechtlichen Maßgaben aus (vgl. z.B. Urteile v. 05.02.2013 – L 15 VG 22/09, vom 20.10.2015 – L 15 VG 23/11, und 16.11.2015 – L 15 VG 28/13; zum Ganzen vgl. auch BSG, Urteile v. 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R sowie B 9 V 3 /12 R, v. 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R, sowie vom 18.11.2015 – L 15 VG 1/14 R):
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist zu berücksichtigen, dass die Verletzungshandlung im OEG entsprechend dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt ist (vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R, m.w.). Gleichwohl orientiert sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs des „tätlichen Angriffs“ (vgl. insbesondere BSG, Urteil v. 28.03.1984 – B 9a RVg 1/83). Die Auslegung hat sich mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes aber weitestgehend von subjektiven Merkmalen (z.B. einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) gelöst (st. Rspr. seit 1995; vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011, a.a.O., m.w.). Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat das BSG vornehmlich aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden (vgl. z.B. Urteil v. 29.04.2010 – B 9 VG 1/09 R).
Der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist also grundsätzlich unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (vgl. BSG, a.a.O., m.w.).
Soweit eine gewaltsame Einwirkung vorausgesetzt wird, hat das BSG entschieden, dass der Gesetzgeber durch den Begriff des „tätlichen Angriffs“ den schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt hat (vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011, a.a.O., m.w.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB (vgl. hierzu z.B. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 240, Rdnr. 8 ff, m.w.) zeichnet sich der tätliche Angriff gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, d.h. er wirkt physisch auf einen anderen ein (vgl. das strafrechtliche Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB).
Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor (vgl. BSG, a.a.O., m.w.), setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus; das BSG ist einem an Aggression orientierten Begriffsverständnis des tätlichen Angriffs letztlich nicht gefolgt (st. Rspr. seit 1995; vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 – B 9 RVg 4/93 und B 9 RVg 7/93 bzgl. sexuellen Missbrauchs an Kindern). Dahinter steht der Gedanke, dass auch nicht zum (körperlichen) Widerstand fähige Opfer von Straftaten den Schutz des OEG genießen sollen (vgl. BSG v. 07.04.2011, a.a.O.); in Fällen sexuellen Missbrauchs an Kindern ist für die „unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Kindes“ entscheidend, dass die Begehensweise, nämlich die sexuelle Handlung, eine Straftat war, unabhängig davon, ob bei der Tatbegehung das gewaltsam handgreifliche (oder das spielerische) Moment im Vordergrund steht (vgl. BSG, a.a.O., m.w.).
Die von der Klägerin geltend gemachten Handlungen des sexuellen Missbrauchs durch die Beschuldigten müssen jedoch nachgewiesen sein. Wie der Senat wiederholt (vgl. z.B. die Urteile vom 05.05.2015 – L 15 VG 31/12, 18.05.2015 – L 15 VG 17/09 ZVW, 20.10.2015 – L 15 VG 23/11 und 26.01.2016 – L 15 VG 30/09) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92; Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3b).
Unter Beachtung dieser Maßgaben vermag sich das Gericht nicht im Sinne des Vollbeweises davon zu überzeugen, dass die Klägerin von ihrem Großvater H. P. oder ihrem Vater D. P. sexuell missbraucht worden ist.
Auch die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG verhilft der Klägerin nicht zum Erfolg.
Nach dieser Vorschrift sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen, „wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind“. Die Beweiserleichterung kann prinzipiell auch im Hinblick auf solche Tatsachen anwendbar sein, die in Zusammenhang mit einer Schädigung stehen, welche vom OEG erfasst wird. Zwar wollte der Gesetzgeber ursprünglich nur der Beweisnot entgegenwirken, in der sich Antragsteller befanden, weil sie durch Kriegsereignisse (wie Flucht, Vertreibung, Bombenangriffe etc.) die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte, Urkunden etc. nicht mehr erlangen konnten. Mit der Verweisung in § 6 Abs. 3 OEG hat der Gesetzgeber jedoch der Beweisnot derjenigen Verbrechensopfer Rechnung tragen wollen, bei denen die Tat ohne Zeugen geschehen ist und bei denen sich der Täter einer Feststellung entzogen hat, mithin andere Beweismittel als die eigenen Angaben des Betroffenen nicht zur Verfügung stehen (vgl. BSG v. 31.05.1989 – B 9 RVg 3/89; BSG v. 17.04.2013, a.a.O.; vgl. auch die Entscheidungen des Senats v. 17.08.2011 – L 15 VG 21/10, und v. 21.04.2015 – L 15 VG 24/09).
Die Beweiserleichterung gilt nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil v. 31.05.1989, a.a.O.) – gewissermaßen in einer zweiten Stufe einer erweiternden Auslegung – zudem nicht nur für das Verwaltungsverfahren, sondern auch im gerichtlichen Verfahren, weil sie, so das BSG, nicht nur das Verfahren der Verwaltung regle, sondern „materielles Beweisrecht“ enthalte (a.a.O.).
Darüber hinaus (dritte Stufe) soll sie mitunter sogar in Fällen anwendbar sein, in denen Zeugen – nämlich vor allem Täter, die die Tat leugnen – als Beweismittel vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, a.a.O.; zu den Bedenken des Senats vgl. die Darlegungen im Urteil vom 21.04.2015, a.a.O.).
Vorliegend gibt es für den behaupteten Missbrauch durch D. P. keine Zeugen. Nach Auffassung des Senats können die Aussagen der Klägerin jedoch insoweit auch nicht als glaubhaft angesehen werden, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Vater sprechen würde (vgl. BSG v. 17.04.2013, a.a.O.). Von den in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten kommt der eines solchen Angriffs auf die Klägerin im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch D. P. nicht einmal ein gewisses Übergewicht zu. Aus Sicht des Senats besteht allenfalls eine Möglichkeit für das von der Klägerin geschilderte Geschehen.
Gleiches gilt für den behaupteten Missbrauch durch H. P., für den nur hinsichtlich des durch die Zeugin S. D. geschilderten Vorfalls der Vollbeweis erforderlich ist; der Senat hat keine Bedenken, dass hinsichtlich der behaupteten Taten – also innerhalb desselben Komplexes (Missbrauch durch den Großvater) – unterschiedliche Beweismaßstäbe anzuwenden sind.
Dies ergibt sich aus Folgendem:
1. Tatzeugin für den behaupteten Missbrauch durch H. P. ist lediglich die Schwester der Klägerin S. D.. Diese hat zwar eine Handlung in mehreren Aussagen beschrieben, die den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 StGB erfüllen würde. Nach Überzeugung des Senats können diese Aussagen jedoch keinen Tatnachweis erbringen, ebenso wenig wie die weiteren Angaben über den Missbrauch durch den Großvater und über den durch den Vater D. P. an der Klägerin. Dies ergibt sich aufgrund der Beurteilung der einzelnen – im Ergebnis nicht glaubwürdigen – Angaben der Zeugin durch den Senat und vor allem auch aus den fundierten und plausiblen Sachverständigengutachten von Prof. Dr. H. und Dr. Y., die der Senat in Auftrag gegeben hat. Der Senat macht sich die sachverständigen Feststellungen zu eigen.
a. So handelt es sich aus Sicht des Senats bei den Angaben der Zeugin zu dem angeblich beobachteten Missbrauch um eine wenig detaillierte Schilderung, die der Zeugin – auch nach dem Eindruck, den der Senat nach Auswertung ihrer schriftlichen Angaben und ihrer Zeugenaussage von dieser gewonnen hat, – leicht möglich gewesen sind, ohne dass ein reales Geschehen zu Grunde liegen hat müssen. Dennoch hat die Zeugin den – sehr kurzen – Vorfall bei den einzelnen Angaben nicht ganz deckungsgleich geschildert, was die exakte Handlung des Großvaters bei der angeblichen Missbrauchsbegehung betrifft. Wie der Beklagte im Bescheid vom 23.06.2009 auch zu Recht darauf hingewiesen hat, besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Zeugin in ihrer E-Mail vom 05.01.2009 bzgl. der früheren Nachricht vom 21.09.2008 (gegebenenfalls in Absprache mit der Klägerin) „nachgebessert“ hat (s.o.). Auch kann sich der Senat die Tatsache, dass die Zeugin gegenüber der Polizei im Jahr 2001 zwar von dem eigenen Missbrauch durch den Großvater H. P. und von dem Missbrauch der Klägerin durch ihren Vater, nicht jedoch von dem Missbrauch der Klägerin durch den Großvater berichtet hat, im Grunde nur dadurch erklären, dass die spätere Aussage (gegenüber dem Beklagten) in der oben genannten E-Mail nicht der Realität entsprochen hat und gegebenenfalls in Absprache mit der Klägerin erfolgt sein könnte. Nicht glaubhaft ist aus Sicht des Senats auch die Angabe der Zeugin, die als Erklärung für die erst späte Bestätigung des sexuellen Missbrauchs herangezogen worden ist, nämlich dass sie und die Klägerin sich früher „spinnefeind“ gewesen seien und sich das Verhältnis erst nach dem Tod der Mutter (2006) normalisiert habe. Denn die Zeugin hat trotz eines angeblich so schlechten Verhältnisses gegenüber der Polizei den sexuellen Missbrauch des Vaters zulasten der Klägerin doch angegeben und sich durch diese Vorfälle immerhin veranlasst gesehen, diesen Missbrauch durch die Aufschrift auf ihrer Zimmerwand hervorzuheben; anscheinend hat auch ein vertrauliches Gespräch zwischen den Schwestern stattgefunden, da die Zeugin gegenüber der Polizei ausgesagt hat, von ihrer Schwester erfahren zu haben, dass diese von dem Vater sexuell missbraucht worden sei. Deshalb habe sie die Worte „wie der Vater, so der Sohn“ hinzugefügt. Dem Senat erschließt sich nicht, weshalb in diesem Zusammenhang von der Zeugin nicht auch der angebliche – sogar direkt beobachtete – Missbrauch auf der Wohnzimmercouch durch H. P. angegeben worden ist.
b. Dass die Angaben der Zeugin nicht glaubhaft sind, ergibt sich zudem aus den o.g. überzeugenden Sachverständigengutachten.
i. Zwar hat Prof. Dr. H. am 18.10.2017 nachvollziehbar festgestellt, dass die Zeugin zum Untersuchungszeitpunkt aus psychiatrischer Sicht keine Einschränkungen aufgewiesen hat, die zur Annahme einer eingeschränkten Aussagetüchtigkeit führen. Der Sachverständige hat bei der Zeugin die Diagnose einer PTBS gestellt, die hauptsächlich durch das Wiedererleben von traumatisierenden Ereignissen, Hypervigilanz und Vermeidungsverhalten gekennzeichnet ist. Dazu hat er noch eine leichte mittelgradige depressive Episode diagnostiziert. Die Zeugin ist jedoch, wenn auch überflutet von eigenen Intrusionen in der Lage, zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden. Bezüglich der kognitiven Funktionen hat die Zeugin zum Untersuchungszeitpunkt keine gravierenden Einschränkungen im Bereich des Langzeitgedächtnis gezeigt; bei Fragen, die sie nicht beantworten hat können, hat sie – wie der Sachverständige dargelegt hat – glaubwürdige Erklärungen geliefert und versucht, Wissenslücken nicht durch erfundene Tatsachen zu überdecken.
ii. Wie die Sachverständige Dr. Y. plausibel dargelegt hat, kann die Hypothese, dass die Zeugin den sexuellen Missbrauch durch ihren Großvater, den sie an der Klägerin beobachtet haben will, fälschlich angegeben und bestätigt hat, allerdings nicht widerlegt werden.
Entsprechend der plausiblen Feststellung der Sachverständigen weist die Ausbildung der Erinnerungen der Klägerin an den Vorfall keinen typischerweise zu erwartenden Verlauf von einer nicht vorhandenen zu einer mehr oder weniger komplexen Aussage (mit einem Zwischenprozess von zunächst fragmentarischen Angaben zu einer allmählich umfangreicher werdenden Darstellung) auf. Diese Konstellation lässt die Annahme einer absichtlichen Falschdarstellung wahrscheinlicher erscheinen als die Annahme einer Pseudoerinnerung.
Zudem hat Dr. Y. nachvollziehbar festgestellt, dass auf der Basis der Ergebnisse der psychologischen und psychiatrischen Exploration der Zeugin dieser die Fähigkeit zur sprachlichen Täuschung nicht abzusprechen ist; diese Annahme kann zu Recht auch auf die Angaben von S. D. gestützt werden, mehrere 100 Seiten umfassende Bücher zu schreiben. Auch die Frage nach sexuellen Wissensbeständen bzw. Vorerfahrungen als Basis für die Konstruktion einer falschen Beschuldigung ist entsprechend der zutreffenden Annahme der Psychologin bei der zum Zeitpunkt der Erstaussage (2006) 26 bis 27-jährigen Mutter S. D. zu bejahen.
Im Hinblick auf die Analyse des Beweggrunds für ein spezifisches Verhalten hat die Sachverständige zu Recht das Motiv der Zeugin, ihre Schwester, mit der sie sich „ausgesöhnt“ habe, bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche auf OEG-Leistungen zu unterstützen, als plausibel bezeichnet. Für die Annahme dieses Motivs erscheint es unwesentlich, ob die Zeugin die Aussage von sich aus oder in Absprache mit der Klägerin konstruiert hat. Der Senat stimmt im Übrigen mit der Sachverständigen überein, dass die möglichen Motive, den Großvater zu belasten oder selbst durch die Aussage unmittelbar Vorteile zu erlangen bzw. Nachteile zu vermeiden, als nicht relevant anzusehen sind.
Im Rahmen der Konstanzanalyse – in der die Angaben, die die Zeugin zu den fraglichen Sachverhalten gemacht hat, mit den früheren Angaben auf ihre Übereinstimmung geprüft wurden – hat Dr. Y. nachvollziehbar hervorgehoben, dass von der Zeugin drei Aussagen (E-Mails vom 21.09.2008 und 05.01.2009 sowie die Zeugenaussage im Beweisaufnahmetermin am 23.02.2016) sowie ein aussagepsychologischer Explorationsbericht (05.07.2017) vorliegen: Bei den drei aktenkundigen Aussagen handelt es sich, wie oben erwähnt, um kurze und oberflächliche Schilderungen. Auch in der aussagepsychologischen Exploration ist trotz einer entsprechenden Fokussierung kein ausreichend relevantes Aussagematerial zu erheben gewesen. Die nach der ersten Aussage (vom 21.09.2008) gemachten Angaben zu den Handlungen des Großvaters sind, wie Dr. Y. plausibel hervorgehoben hat, nicht im Sinne von Präzisierungen oder Ergänzungen als Beleg für den Erlebnisgehalt zu werten. Solche Handlungen sind ein Teil des zentralen Kerngeschehens, das auch über längere Erinnerungsintervalle hinweg konstant bleibt. Für die Realkennzeichenanalyse liegt somit hier kein ausreichendes diagnostisch relevantes Aussagematerial vor; die Angaben der Zeugin, vor dem Ereignis vom Großvater mit Süßigkeiten nach oben geschickt worden zu sein, sowie die Angabe, dass die Klägerin einige Zeit später ins Zimmer gekommen sei und sich hingesetzt sowie ferngesehen habe, sind für den inkriminierten Sachverhalt irrelevant – es handelt sich dabei um lediglich situative Umstände und örtliche Besonderheiten aus dem täglichen Lebensumfeld ohne Verflechtung mit dem Kerngeschehen.
Damit stellt das von der Zeugin berichtete Ereignis ein einfaches, wenige Momente dauerndes Geschehen dar. In Anbetracht der fehlenden Komplexität des Ereignisses erfordert das Konstruieren eines solchen Geschehens keine hohen kognitiven Voraussetzungen.
Zwar lässt sich entsprechend der nachvollziehbaren Darlegung durch die Sachverständige eine Falschaussage durch eine niedrige Aussagequalität nicht belegen. Wie Dr. Y. jedoch überzeugend festgestellt hat, kann bei der aufgezeigten Konstellation von Täuschungsfähigkeiten, Wissen und Motivation sowie einer niedrigen Aussagequalität die Falschbezichtigungshypothese vorliegend nicht zurückgewiesen werden.
2. Weitere objektive Beweismittel sind nicht vorhanden.
a. Nach den einzelnen Missbrauchshandlungen, die von der Klägerin behauptet werden, ist keine körperliche Untersuchung durchgeführt worden.
b. Entsprechend den zutreffenden Darlegungen des Beklagten ergeben sich aus den Audiokassetten ebenfalls keine Nachweise für sexuellen Missbrauch zu Lasten der Klägerin. Die entsprechenden Kassetten, die heute nicht mehr vorliegen, lassen keine näheren Rückschlüsse hinsichtlich des Geschehens zu. Der Senat hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Auswertung der Tonaufnahmen durch den Beklagten vom 26.05.2004 unzutreffend sein könnte. Vor diesem Hintergrund kann vorliegend offen bleiben, inwieweit Tonaufnahmen – selbst wenn sie auf einen Missbrauch hindeuten würden – überhaupt ein taugliches Beweismittel sein könnten.
c. Wie die Sachverständige G. im Verfahren des SG S 15 VG 11/04 plausibel dargelegt hat, ergeben sich auch aus den vorgelegten Zeichnungen keine Schlussfolgerungen auf einen Erlebnisbezug hinsichtlich der Schilderungen der Klägerin. Auf die konkrete Ausgestaltung der heute nicht mehr vorliegenden Zeichnungen kommt es somit nicht an.
3. Auch die Aussagen der Klägerin selbst führen nicht zu der Wertung, dass besonders viel für die Möglichkeit eines sexuellen Missbrauchs zu ihren Lasten sprechen würde; erst recht können sie den Nachweis hierfür nicht erbringen. Trotz der teilweise gemachten konkreteren Angaben über einen sexuellen Missbrauch sieht sich der Senat nicht in der Lage, mehr als eine geringe Möglichkeit für das von der Klägerin geschilderte Geschehen anzunehmen. Es kann somit letztlich offen bleiben, ob der Annahme eines solchen Missbrauchs entgegensteht, dass die einzelnen Missbrauchshandlungen im Rahmen der Beweiserhebung zeitlich nicht genau fixierbar wären und der Tathergang weitgehend nicht näher rekonstruiert werden könnte (vgl. hierzu das Urteil des BSG vom 18.11.2015 – B 9 V 1/14 R). Denn aus Sicht des Senats sprechen jedenfalls zu viele Aspekte dagegen, um die Angaben der Klägerin auch nur als glaubhaft ansehen zu können.
Zum einen sind dies die nicht konstanten Angaben der Klägerin. Zudem besteht nach Überzeugung des Senats vorliegend eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass bei der Klägerin Scheinerinnerungen gegeben sind. Aufgrund dieser Möglichkeit und vor allem auch aufgrund der von der Sachverständigen G. im aussagepsychologischen Gutachten vom 07.09.2006 dargelegten Gründen sind die Angaben der Klägerin aus Senatssicht nicht glaubhaft.
a. Die Angaben der Klägerin sind nicht konstant. So hat sie am Anfang des Verfahrens lediglich allgemeinere Aussagen zum sexuellen Missbrauch gemacht, erst später hat sie diese dann mit zahlreichen Details angereichert (zur Problematik des Zuwachses des Aussagematerials siehe auch unten Ziff. b. und c.). Vor allem aber hat die Klägerin sogar den Zeitraum des fraglichen Missbrauchs sowohl durch den Vater als auch durch den Großvater jeweils uneinheitlich angegeben, wobei sogar erhebliche Unterschiede feststellbar sind (7.-9. Lebensjahr entgegen Kleinkind bis 16. Lebensjahr bezüglich des Vaters; 7.-15. Lebensjahr entgegen 4.-18. Lebensjahr bezüglich des Großvaters).
b. Die Angaben der Klägerin zum sexuellen Missbrauch sind nach Auffassung des Senats auch deshalb nicht glaubhaft, da die Möglichkeit, dass es sich lediglich um Scheinerinnerungen handelt, nicht weniger wahrscheinlich ist, als die Möglichkeit, dass sich die geschilderten Taten tatsächlich ereignet haben. Vorliegend sind Scheinerinnerungen begünstigende Faktoren festzustellen. Diese Faktoren, die dem Senat aus zahlreichen vergleichbaren Sachverhalten (vgl. z.B. das Urteil vom 26.01.2016 – L 15 VG 30/09) und unter Beachtung der einschlägigen aussagepsychologischen Fachliteratur (vgl. z.B. Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 1. Aufl., S. 117 ff.) bekannt sind, wirken begünstigend für die Übernahme induzierter Erinnerungen. Aus Sicht des Senats sind die Erinnerungen vorliegend einerseits im Rahmen medizinischer Therapie(versuche) induziert worden, wie etwa bereits früh – nämlich im Jahr 1997 – in der H.-Klinik W-Stadt, wo im Entlassungsbericht vom 16.10.1997 darauf hingewiesen wird, dass der aufdeckende Prozess des zugrunde liegenden Traumas früher sexueller Übergriffe bei weitem noch nicht abgeschlossen sei und dass hier weiterhin behutsam, vorsichtig aufdeckend vorgegangen werden solle. Vor allem aber sind die Erinnerungen auch im Rahmen der Besprechung und Aufarbeitung des vermuteten Missbrauchs mit der Schwester, der Zeugin D., induziert worden. Dass bei der Klägerin infolge dieser Bemühungen Erinnerungen entstanden sind, die zuvor noch nicht vorhanden waren, steht fest. So hat die Klägerin selbst, wie die Sachverständige G. berichtet hat, darauf hingewiesen, sich ausführlich mit der Schwester besprochen zu haben und daraufhin noch mehr berichten zu können.
c. Vor allem auch aus den von der Sachverständigen G. im Gutachten vom 07.09.2006 im Einzelnen genannten Gründen sind die Angaben der Klägerin für den Senat nicht glaubhaft. Die Sachverständige, die das SG im Klageverfahren S 15 VG 11/04 beauftragt hat, hat die einzelnen Aspekte plausibel und überzeugend dargelegt. Der Senat macht sich auch diese sachverständigen Feststellungen zu eigen.
Nach den nachvollziehbaren Darlegungen der Sachverständigen ist nicht auszuschließen, dass die Wahrnehmungsfähigkeit der Klägerin aufgrund der Einnahme von Medikamenten beeinträchtigt gewesen ist. So hat die Klägerin angegeben, ihm Rahmen ihrer Ausbildung als Krankenpflegehelferin (etwa 1994) bereits Medikamente entwendet und eingenommen zu haben, auch wenn nähere Angaben hier nicht gemacht worden sind. Bezüglich der Gedächtnisleistung ist mit der Dipl.-Psych. G. u.a. mit Blick auf unterschiedlichen Zeitangaben des sexuellen Missbrauchs durch die Klägerin (siehe auch oben) und die zum Teil diagnostizierte dissoziative Symptomatik davon auszugehen, dass wesentlich Erinnerungsunsicherheiten bestehen. Diese schränken die Aussagetüchtigkeit der Klägerin bzw. die Zuverlässigkeit ihrer Angaben ein.
Bereits die Anknüpfungstatsachen, die vorliegen, weisen darauf hin, dass die Erinnerungen an fragliche Missbrauchserlebnisse bei der Klägerin unsicher sind. Entsprechend den plausiblen Darlegungen der Sachverständigen besteht bei der Klägerin eine Tendenz, auch objektiv uneindeutige Erinnerungsspuren im Sinne eines Missbrauchs zu deuten, beispielsweise die Angabe der Klägerin, sie könne sich erinnern, im Auto ihres Vaters gewesen zu sein und Schmerzen gehabt zu haben, sich jedoch nicht zu erinnern, was geschehen sei. Dies ist von der Klägerin einseitig im Sinne eines sexuellen Missbrauchs verstanden worden.
Auch wenn die Klägerin bei der Begutachtung bei der Sachverständigen G. sich voll orientiert gezeigt hat – ohne Hinweise auf dissoziative oder psychotische Zustände -, ergibt die Analyse der psychischen Verfassung, worauf die Sachverständige zutreffend hingewiesen hat, in der Vergangenheit ein heterogenes Bild. Entsprechend den therapeutischen Einschätzungen in der Vergangenheit fanden sich bei der Klägerin bezüglich tatneutraler Angaben (z.B. über sich anbahnende Liebesbeziehungen) Hinweise auf Vermischung von Wirklichkeit und Vorstellungen, die die Aussagetüchtigkeit der Klägerin einschränken. Neben den Hinweisen darauf, dass die Realitätskontrolle der Klägerin bisweilen eingeschränkt gewesen sein könnte, stellt sich als besonders problematisch im Sinne der Aussagezuverlässigkeit die Tatsache dar, dass in Therapieberichten (z.B. Bericht des Universitätsklinikums R-Stadt vom 15.06.2004) wiederholt das stark aufmerksamkeitssuchende und manipulierende Verhalten der Kläger angemerkt worden ist.
Somit ist, wie die Sachverständige ausdrücklich festgestellt hat und was für den Senat in jeder Hinsicht plausibel ist, die Aussagetüchtigkeit der Klägerin eingeschränkt. Da sich zudem Faktoren ergeben, welche die Zuverlässigkeit der Ausführungen insgesamt einschränken, ist für den Beleg eines Erlebnisbezugs eine deutlich erhöhte Anforderung hinsichtlich der Qualität der Angaben zu stellen, um die Falschaussagehypothese zurückweisen zu können. Eine solche erhöhte Qualität fand sich jedoch nicht.
Die Zuverlässigkeit der Aussage ist eingeschränkt. Im Falle eines tatsächlichen eigenen Erlebnisbezugs erscheint denkbar, dass sich bei der Klägerin vor dem Hintergrund der offenbar bestehenden Erinnerungsunsicherheiten eigene Erinnerungsspuren mit nachträglich erworbenen Informationen über sexuellen Missbrauch vermischt haben bzw. Erinnerungslücken durch erworbenes Wissen aufgefüllt worden sein könnten. Selbst wenn ein eigener Erlebnisbezug angenommen und davon ausgegangen wird, dass der Klägerin – aufgrund einer bestehenden psychischen Belastung – früher ein genauer Bericht über den Missbrauch nicht möglich gewesen wäre – müsste wegen der Hinweise auf die aufdeckende Arbeit (durch Therapeuten), des Austausches mit anderen Missbrauchsopfern (der Zeugin) sowie andauernden Erinnerungsunsicherheiten und eine andauernde Erklärungssuche für die bestehende psychiatrische Symptomatik von möglichen verzerrenden und verfälschenden Einflüssen auf ihre Aussage ausgegangen werden.
Mit der Sachverständigen geht der Senat auch davon aus, dass der Zuwachs an Aussagematerial – die Klägerin hat erstmals bei der Sachverständigen deutlich ausführlichere Angaben zum Missbrauch gemacht und erstmals verschiedene fragliche Einzelsituationen berichtet – ein Hinweis sein kann, dass es im Verlauf der Zeit sukzessive zur Entstehung von Pseudoerinnerungen gekommen sein kann. Wie die Sachverständige plausibel dargelegt hat, ist dies in mehrerer Hinsicht möglich. Selbst wenn tatsächliche Erinnerungen, die wieder aufgetaucht wären, angenommen werden, sind diese als besonders anfällig für Verzerrungen und Verfälschungen, beispielsweise im Sinne der Vermischung tatsächlicher Erinnerungsspuren mit Ängsten, Träumen, anderweitigen missbrauchsspezifischen Informationen etc..
Wie die Sachverständige aus Sicht des Senats im Rahmen der Realkennzeichenanalyse auch sehr plausibel darauf hingewiesen hat, unterscheiden sich die Angaben der Klägerin über den sexuellen Missbrauch im Kindesalter in Struktur und Detailierung nicht von solchen Darstellungen, die sie Jahre später und somit zeitnah zur Begutachtung abgegeben hat. Unter der Annahme eines Erlebnisbezugs wäre jedoch mit einer Zunahme der Detailierung, besonders im Kernbereich, in Richtung auf das zurückliegende Geschehen zu rechnen. Wie bereits der Sachverständigen ist auch dem Senat nicht erklärlich, weshalb die Klägerin zwar fragliche Vorfälle aus dem jüngeren Teenageralter ausgeführt, jedoch keine Angaben mehr dazu gemacht hat, wie der sexuelle Missbrauch im Erwachsenenalter (bis zum 18./ 19. Lebensjahr) durchgeführt worden ist. Aus gedächtnispsychologischer Sicht wäre zu erwarten, dass die Klägerin besonders solche Erlebnisse besser erinnern könnte. Entsprechend der Darlegung der Sachverständigen finden sich belegkräftige Hinweise für einen Erlebnisbezug bei den einzelnen Situationsschilderungen der Klägerin nicht (im Sinne spezieller Realkennzeichen). Die vorliegende Qualität bzgl. der fraglichen Missbrauchsbehauptungen ist, worauf die Dipl.-Psych. ausdrücklich hingewiesen hat, nicht geeignet, die im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtung aufzustellende Falschaussagehypothesen zurückzuweisen. Insbesondere ist nicht auszuschließen, dass es auf der Basis tatsächlicher Erinnerungsspuren zur Entstehung von Pseudoerinnerungen gekommen ist. Vor allem kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin sexuelle Handlungen fälschlicherweise an tatsächliche Erlebnisse anknüpft bzw. tatsächliche Erlebnisse aggraviert.
Überzeugend findet der Senat die Ausführungen des Sachverständigen im Übrigen auch, weil diese die Aussagequalität der Klägerin nicht pauschal kritisiert, sondern sehr differenziert betrachtet hat. So hat sie dargelegt, dass die Berichte der Klägerin, ihr Vater habe sie als ca. 8-jähriges Mädchen mit einer Waffe bedroht, eine deutlich höhere inhaltliche Qualität aufweist.
4. Eine Glaubhaftmachung des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass in der Familie der Klägerin sexuelle Missbrauchstaten gegen weitere Familienmitglieder, wie die Zeugin S. D., verübt worden sein könnten. Zu betrachten ist nämlich der konkrete Einzelfall der Klägerin. Ein Rückschluss von anderen Taten im Familienkreis auf einen Missbrauch der Klägerin ergibt sich daraus per se nicht. Es kann daher offen bleiben, ob insoweit Missbrauchstaten geschehen sind, woran der Senat im Hinblick auf das aussagepsychologische Gutachten von Dr. Y. ebenfalls gewisse Zweifel hat; hierauf kommt es jedoch nicht an.
5. Nach der h.M. und ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. die Urteile des Senats vom 26.01.2016 – L 15 VG 30/09 sowie L 15 VG 29/13, m.w.) kann ferner auch nicht allein aus einer Diagnose auf ein bestimmtes Geschehen geschlossen werden, da es nach überwiegender medizinischer Lehrmeinung keine eindeutige kausale Beziehung zwischen sexuellem Missbrauch im Kindesalter und einer spezifischen Psychopathologie im Kindes- oder Erwachsenenalter gibt. Eine Glaubhaftmachung ergibt sich also auch nicht aus den bei der Klägerin (auf psychiatrischem Fachgebiet) vorhandenen Gesundheitsstörungen.
6. Eine andere Bewertung der Sachlage ergibt sich auch nicht daraus, dass die Klägerin bereits vor längerer Zeit den sexuellen Missbrauch angegeben hat, bzw. aus der Aussage der Sozialpädagogin M.. Denn die früheren Angaben sind im Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar. Zwar hat die Sozialpädagogin im Beweisaufnahmetermin des Senats am 23.02.2016 glaubhaft angegeben, das sie sich noch an die Arbeit mit der Klägerin erinnert. Danach war deren Beratung und Begleitung intensiv. Der Senat kann nach der Zeugenaussage auch davon ausgehen, dass es der Klägerin damals ziemlich schlecht gegangen ist. Er hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Zeugin absichtlich unzutreffend davon berichtet hätte, dass ihr die Klägerin während eines Telefonats von einem sexuellen Übergriff durch den Großvater berichtet habe. Gleiches gilt für den von der Zeugin geschilderten Verdacht des damaligen Beratungsteams, dass die Klägerin sexuell missbraucht worden sein könnte wie z.B. im Familienkreis.
Aus den Angaben der Zeugin ergibt sich jedoch nicht, ob die Klägerin den sexuellen Missbrauch damals zumindest einigermaßen detailliert beschrieben oder ihn lediglich thematisiert hat. Zudem ist nicht auszuschließen, dass die (früheren) Angaben der Klägerin gegenüber der Sozialpädagogin nicht der Wahrheit entsprochen haben. Auch diese Annahme wird durch das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen G. begründet bzw. gestützt (s. hierzu im Einzelnen unten Ziff. 7). Letztlich ist auch nicht auszuschließen, dass sich die Zeugin M. bei ihren Angaben, die ja nun erst viele Jahre später erfolgt sind, geirrt hat. Aus den genannten Gründen war eine Wiederholung der Zeugeneinvernahme in der mündlichen Verhandlung auch nicht erforderlich.
7. Schließlich ist zwar nicht auszuschließen, dass mehrere behandelnde Fachärzte und Therapeuten der Klägerin ihre Angaben von einem sexuellen Missbrauch geglaubt und ihre Behandlung dementsprechend darauf eingestellt haben; zumindest haben sie die Angaben in den Behandlungsunterlagen vermerkt. So hat z.B. die Psychotherapeutin T. am 19.03.2006 dem SG berichtet, dass die Klägerin – mit von Narben übersäten Armen – auf eigene Initiative zu ihr gekommen sei und angegeben habe, dass sie von ihrem Großvater zwischen dem 7. und 15. Lebensjahr sexuell missbraucht worden sei. Die Behandlerin ist in ihrem Bericht dann auch davon ausgegangen, dass die Klägerin während Kindheit und Jugend über Jahre sexuellen Missbrauch durch den Großvater ausgesetzt gewesen ist.
Inwieweit die Ärzte bzw. Therapeuten der Klägerin deren Angaben jedoch kritisch hinterfragt haben, muss hier allerdings dahinstehen; dies gilt insbesondere auch für die Zeugin, die Sozialpädagogin M.. Dabei ist zu beachten, dass die Ärzte und Therapeuten als Behandler und nicht als Gutachter tätig waren. Zudem hat die Sachverständige G. überzeugend darauf hingewiesen, dass die Klägerin gegenüber den Therapeuten nur Angaben auf Behauptungsebene gemacht hat, bei welchen bereits aufgrund der Pauschalität die Hypothese einer Falschaussage nicht zurückgewiesen werden kann. Außerdem haben sich bei der Begutachtung durch die Dipl.-Psych. G. und bei der durch diese vorgenommenen Aktenanalyse Hinweise auf verzerrende und verfälschende Einflüsse auf die Aussage bereits zu früheren Zeitpunkten gefunden (siehe oben).
Nach alledem hält der Senat es nicht für völlig ausgeschlossen, dass die Klägerin in ihrer Kindheit oder Jugend sexuell missbraucht worden sein könnte. Wie ausführlich dargestellt mangelt es vorliegend aber auf jeden Fall am notwendigen Beweis (Vollbeweis und Glaubhaftmachung gem. § 15 KOVVfG, s.o.). Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. z.B. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/ Keller/ders./ Schmidt., SGG, 12. Aufl. 2017, § 103, Rdnr. 19a, mit Nachweisen der höchstrichterlichen Rspr.). Die Klägerin muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen tragen, dass eine Ungewissheit bezüglich der für sie günstigen Tatsachen verblieben ist. Denn für das Vorliegen der Voraussetzungen des Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG trägt der Anspruchsteller die objektive Beweislast. Der Senat hat alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft.
Im Übrigen weist der Senat, ohne dass es vorliegend darauf ankommen würde, darauf hin, dass selbst bei der Annahme eines sexuellen Missbrauchs zu Lasten der Klägerin ein Berufungserfolg für diese äußerst fraglich wäre. Für diesen Fall erscheint es dem Senat nämlich eher unwahrscheinlich, dass mit hinreichender Sicherheit (Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit, vgl. z.B. das Urteil des BSG vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R) der ursächliche Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und den Gesundheitsstörungen der Klägerin feststellbar wäre. Diese Einschätzung ergibt sich für den Senat bereits aus den von der Klägerin gegenüber Behandlern selbst gemachten Angaben bezüglich ihrer desolaten (früheren) Lebensumstände z.B. durch ihre schwer alkoholkranke Mutter und die durch das Verhalten des Vaters und Großvaters gewalttätige Familienatmosphäre etc. So hat die Psychotherapeutin T. u.a. berichtet (s.o.), dass die Klägerin innerhalb der chaotischen und von Substanzabusus der Mutter und der Gewalt durch den Vater geprägten familiären Atmosphäre kaum konstante Beziehungserfahrungen machen könne. Die Abspaltung traumatisierter Selbstanteile fungiere bei ihr bereits früh als Traumakompensation. Die Klägerin könne sich langfristig im sozialen Gefüge nicht etablieren und scheine in den letzten Jahren mehr Zeit in als außerhalb der Psychiatrie verbracht zu haben.
Im Hinblick auf die strengen Regeln der Rechtsprechung (vgl. BSG vom 16.12.2014 – B 9 V 6/13 R) müsste ein sexueller Missbrauch für den Eintritt der Erkrankung der Klägerin allein mindestens soviel Gewicht wie alle übrigen Umstände zusammen haben. Aufgrund der zahlreichen Problematiken erschiene eine solche Feststellung jedoch sehr schwierig.
Die Berufung kann somit keinen Erfolg haben. Sie ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

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