Medizinrecht

Corona-Pandemie, Ausnahmegenehmigung zum Öffnen einer Wettannahmestelle

Aktenzeichen  M 26b E 21.1369

Datum:
30.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 8423
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
BayIfSMV § 11 Abs. 6 der 12.
BayIfSMV § 28 Abs. 2 S. 1 der 12.

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt eine vorläufige Ausnahmegenehmigung für die Öffnung von Wettannahmestellen.
Die Antragstellerin unterhält in A* … drei Wettannahmestellen, die seit dem 2. November 2020 aufgrund von § 11 Abs. 6 der jeweils gültigen Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) geschlossen sind.
Nach Aufnahme der click & collectRegelung in die 11. BayIfSMV fragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin an, ob ihr ein click & collect-Betrieb unter Einhaltung des vorgelegten Hygienekonzepts erlaubt sei. Dies wurde mit dem Hinweis auf die ausschließliche Möglichkeit zur Abholung vorbestellter Waren in Ladengeschäften unter bestimmten Voraussetzungen verneint. Daraufhin beantragte die Antragstellerin am … Februar 2021 eine Ausnahmegenehmigung zur Öffnung der Eingangstüren zwecks Ermöglichung der Aufladung von Kundenkarten und zugehörigen Zahlungsvorgängen. Die Öffnung sei infektionsschutzrechtlich vertretbar, da die 7-Tages-Inzidenz in A* … nur noch bei 24 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner liege, die Tendenz sei rückläufig. Daraufhin wurde ihr mitgeteilt, dass sie die Vorgaben der click & collect-Regelung erfülle, so dass sie keine Ausnahmegenehmigung benötige. Diese Aussage wurde 5 Tage später unter Hinweis auf die Einschätzung der Regierung von Oberbayern revidiert. Die Öffnung der Wettannahmestelle der Antragstellerin sei weiterhin untersagt, ein click & collect-Betrieb sei nicht möglich.
Mit Schriftsatz vom … März 2021 beantragt die Antragstellerin beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweilen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin eine vorläufige Ausnahmegenehmigung nach § 28 Abs. 2 der 12. BayIfSMV für die dauerhafte Öffnung der Eingangstüren in den Wettannahmestellen A* …Str., B* … … … * und C* …Str. … in A* … zum Zwecke der Ermöglichung der Aufladung von Kundenkarten von registrierten Kunden mit Wohnsitz in A* … und zugehörigen Zahlungsvorgängen gemäß anliegendem Hygienekonzept zu erteilen.
Zur Begründung wird ausgeführt, die Antragstellerin habe einen Anspruch auf die beantragte Ausnahmegenehmigung. Die Öffnung zum Zwecke der Ermöglichung der Aufladung von Kundenkarten und zugehörigen Zahlungsvorgängen sei wegen der extrem niedrigen Gefahr einer unkontrollierten Weiterverbreitung des Virus dadurch und der inzwischen drastisch gesunkenen 7-Tages-Inzidenz in A* … infektionsschutzrechtlich vertretbar. Die Antragstellerin wolle ebenso wie andere Einzelhandels- und Dienstleistungsbetriebe von der click-and-collect-Regelung profitieren. Die beantragte Ausnahmegenehmigung stelle die Geltung der Verbotsvorschrift des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV grundsätzlich nicht infrage, sondern wolle in einem Randbereich, der sich extrem vom Normalbetrieb einer Wettannahmestelle unterscheide, eine Ausnahmegenehmigung erhalten.
Die Öffnung habe keine signifikante Relevanz für das Infektionsgeschehen in der Stadt A* … Es würden überschlägig gerechnet pro Tag rund 60 Vorgänge zwischen Kassierer und Kunden stattfinden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Öffnung der Eingangstüren der Annahmestellen in A* … für 3 Wochen zu einer einzigen Ansteckung komme, liege bei deutlich unter einem Prozent. Auch Infektionsrisiken auf dem Hin- und Rückweg seien vernachlässigbar.
Der Fall sei im Hinblick auf das Verbot des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV atypisch. Die beantragte kurzzeitige Öffnung zum Durchreichen von Gegenständen sei nicht der Freizeitgestaltung der Kunden zuzurechnen, sondern ermögliche nur deren Freizeitgestaltung durch das Abgeben von online-Wetten, was in der Regel zu Hause stattfinde. § 28a Abs. 1 Nr. 6 IfSG, auf den sich § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV stütze, sei so auszulegen, dass Betriebe der Freizeitgestaltung nur dann eingeschränkt werden könnten, wenn die Freizeitgestaltung in der Einrichtung und nicht außerhalb derselben stattfinde. Die Öffnung nur der Eingangstüre zum Durchreichen von Kundenkarten und Bargeld sei im Vergleich zum Nomalbetrieb ein atypischer Fall, der eine Ausnahme rechtfertige, erst recht bei einer im landesweiten Vergleich atypisch niedrigen Inzidenz.
Die Ausnahmegenehmigung stehe auch nicht im Widerspruch zum Grundgedanken der Regelung des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV. Die Verordnungsbegründung zugrunde gelegt, ergebe sich nicht, warum es nicht gestattet sein solle, den Kunden, der die Annahmestelle nicht betrete, vor der Türe oder durch ein Fenster zu bedienen. Die in der Verordnungsbegründung genannten Risikofaktoren, die mit den untersagten Betrieben und Tätigkeiten einhergingen (Kontaktintensität, keine Möglichkeit der konsequenten Einhaltung der Maskenpflicht und des Mindestabstands, körperliche Aktivität), lägen hier nicht vor. Der An- und Abreiseverkehr werde in der Verordnungsbegründung jedenfalls in vorliegendem Kontext nicht als Risikofaktor angesprochen. Das Kriterium der Entbehrlichkeit und Verzichtbarkeit des Freizeitsektors sei nur ein ergänzendes, kein für die Einordnung unter § 11 konstitutives Kriterium.
Es bestünden ernstliche Zweifel, ob § 28a IfSG die längerfristige vollständige Schließung von Einrichtungen und Betrieben ohne erhöhtes Infektionsrisiko auch in Konstellationen zulasse, in denen kein Neuanstieg der Infektionszahlen zu verzeichnen ist und nur noch das Ziel einer Inzidenz unter 50 angestrebt werde, insbesondere in Gebieten, in denen sogar der niedrige Schwellenwert von 35 unterschritten werde. Die längerfristige Schließung von Freizeiteinrichtungen sei eine ultima-ratio-Maßnahme, die nur dann gerechtfertigt sei, wenn sie der Ausschaltung der Risikofaktoren Kunden- und Besuchsverkehr, enger körperlicher Kontakt oder länger andauernder Kontakt dienten. Betriebe, die keines dieser Merkmale aufwiesen, dürften nach geltender Rechtslage nicht geschlossen werden. Insbesondere bei einer Stabilisierung des Inzidenzwertes dürften Betriebe, bei denen es nur zu flüchtigen Begegnungen komme, nicht geschlossen werden, sondern der Infektionsschutz sei mit anderen Mitteln sicherzustellen. Jedenfalls sei es nicht gerechtfertigt, zur landesweiten Senkung der Inzidenz unter den Schwellenwert von 50 Betrieben wie dem der Antragstellerin in einem Niedriginzidenzgebiet die beantragte Öffnung zu verwehren. In einem solchen Gebiet müssten Lockerungen auch zugunsten der Antragstellerin greifen, während darauf zu achten sei, in den Hochinzidenzgebieten die Neuansteckungsarte zu senken.
Die Öffnung könne der Antragstellerin auch nicht mit Hinweis darauf verweigert werden, dass die Maßnahme Teil eines Gesamtkonzepts sei, dessen Umsetzung in der Summe einen signifikanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen habe, auch wenn in Bezug auf den konkret betroffenen Betrieb eine Infektionsgefahr praktisch ausgeschlossen werden könne.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 12. März 2021,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, Ziel der Schließung von Freizeiteinrichtungen sei es, die Ausgangsund Kontaktbeschränkungen zu flankieren und auf diese Weise das Infektionsgeschehen wieder einzudämmen. Lediglich für die Sportausübung als gesonderter Bereich der Freizeitgestaltung bestünden gewisse Erleichterungen. Die Entscheidung des Verordnungsgebers, dem Betrieb von Freizeiteinrichtungen grundsätzlich zu untersagen, sei Teil einer nach § 28 Abs. 3 Satz 9 IfSG geforderten bundesweiten Abstimmung. Eine punktuelle Öffnung von Freizeiteinrichtungen über den gesonderten Bereich des Sports hinaus führe zu einem erheblichen Anstieg der Sozialkontakte und der Infektionsgefahren. Hingewiesen werde auf die neuen gefährlicheren Virusvarianten. Die lokale 7-Tages-Inzidenz steige kontinuierlich und deutlich an. Die Aufrechterhaltung der Schließung bestimmter Freizeiteinrichtungen sei weiterhin verhältnismäßig und eine Öffnung der Filialen des Antragstellers aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht vertretbar. Auf die Begründung zu den Verordnungen werde verwiesen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten, insbesondere auf den Schriftsatz der Antragstellerseite verwiesen.
II.
Der Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hat keinen Erfolg.
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die vorläufige Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 28 Abs. 2 Satz 1 der 12. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (12. BayIfSMV), zuletzt geändert am 25. März 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 224), vom Verbot des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV. Nicht streitgegenständlich ist die Frage, ob § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht einschließlich Verfassungsrecht unwirksam ist. Ein solches Begehren wäre mittels eines Antrags gemäß § 47 Abs. 6 VwGO an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu richten.
Auch ein negativer Feststellungsantrag nach § 123 VwGO zur Klärung der Frage, ob der hier konkret beabsichtigte Geschäftsbetrieb der Antragstellerin dem Verbot des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV unterfällt (vgl. hierzu VG München, B.v. 22.12.2020 – M 26a E 20.6256 – juris), ist nicht, auch nicht hilfsweise, gestellt.
1. Der Antrag auf vorläufige Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für die Öffnung der Eingangstüren in den Wettannahmestellen A* …Str., B* … … … * und C* …Str. … in A* … zum Zwecke der Ermöglichung der Aufladung von Kundenkarten von registrierten Kunden mit Wohnsitz in A* … und zugehörigen Zahlungsvorgängen gemäß Hygienekonzept im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist zulässig, insbesondere hat die Antragstellerin einen entsprechenden Antrag bei der Antragsgegnerin gestellt.
2. Der Antrag erweist sich jedoch als unbegründet.
Nach § 123 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragspartei vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dabei hat die Antragspartei sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) zu bezeichnen und glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 1 und 2, 294 Zivilprozessordnung – ZPO). Der Antrag kann nur Erfolg haben, wenn und soweit sich sowohl Anordnungsanspruch als auch -grund aufgrund der Bezeichnung und Glaubhaftmachung als überwiegend wahrscheinlich erweisen (BayVGH, B.v. 16.8.2010 – 11 CE 10.262 – juris Rn. 20 m.w.N.). Maßgeblich sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und im einstweiligen Rechtsschutz nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was nur in einem Hauptsacheverfahren zu erreichen wäre. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache jedoch dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, wenn also dem Antragsteller ohne einstweilige Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können.
Im vorliegenden Fall begehrt die Antragstellerin eine Ausnahmegenehmigung nach § 28 Abs. 2 Satz 1 der 12. BayIfSMV, welche im Ermessen der Behörde steht. Ein Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung besteht demnach jedenfalls dann, wenn dies infektionsschutzrechtlich vertretbar ist und eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt. Allerdings kann die grundrechtlich verbürgte Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG den Erlass einer einstweiligen Anordnung ausnahmsweise auch jenseits einer solchen Ermessensverdichtung notwendig machen, wenn ansonsten eine schwere und irreversible Grundrechtsverletzung droht, die Ablehnung der begehrten Entscheidung als ermessensfehlerhaft anzusehen ist und eine erneute – fachgerechte – Ausübung des Ermessens mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zugunsten der Antragstellerin ausgehen wird (BayVGH, B. v. 6.5.2013 – 22 CE 13.923 – beckonline Rn. 22; VGH BW, B. v. 24.11.1995 – 9 S 3100/95 – juris Rn. 3; B. v. 15.9.1999 – 9 S 2178/99 – juris Rn. 4; NdsOVG, B. v. 11.6.2008 – 4 ME 184/08 – juris Rn. 5; Schoch/Schneider/Bier/Schoch, 37. EL Juli 2019, VwGO, § 123 Rn. 161b).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe fehlt es an einem Anordnungsanspruch, da es auch unter Berücksichtigung eines von der Antragstellerin vorgehaltenen Hygienekonzepts bereits an der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit und somit an der tatbestandlichen Voraussetzung fehlt, um die auf der Rechtsfolgenseite vorgesehene Ermessensentscheidung zu eröffnen.
2.1 Gemäß § 11 Abs. 6 Satz 1 der 12. BayIfSMV sind Bordellbetriebe, Prostitution, Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen, Clubs, Diskotheken, sonstige Vergnügungsstätten und vergleichbare Freizeiteinrichtungen geschlossen. Zwischen den Beteiligten besteht Einigkeit, dass die Betriebe der Antragstellerin grundsätzlich unter dieses Verbot fallen; andernfalls wäre der Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nicht verständlich.
2.2 Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 der 12. BayIfSMV können Ausnahmegenehmigungen im Einzelfall auf Antrag von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde erteilt werden, soweit dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist. Ausnahmegenehmigungen, die einen generellen Personenkreis oder eine allgemeine Fallkonstellation betreffen, dürfen unter den Voraussetzungen des Satzes 1 nur im Einvernehmen mit der zuständigen Regierung erteilt werden, § 28 Abs. 2 Satz 2 der 12. BayIfSMV.
2.2.1 Die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gem. § 28 Abs. 2 Satz 1 der 12. BayIfSMV setzt tatbestandlich voraus, dass dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist. Das Tatbestandsmerkmal der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit bedarf der Auslegung. Da es sich um eine Ausnahmevorschrift handelt, ist eine enge Auslegung erforderlich, um die mit den Regelungen der 11. BayIfSMV verfolgten Ziele einer effektiven Pandemiebekämpfung nicht zu gefährden (zur gebotenen engen Auslegung einer ähnlichen Ausnahmevorschrift (§ 4 Abs. 2 Satz 3 der BayIfSMV) vgl. BayVGH, B.v. 14.4.2020 – 20 CE 20.725 – juris Rn. 8; B.v. 4.2.2021 – 20CS 21.109 – juris Rn. 31; B.v. 4.3.2021 – 20 CE 21.550 – juris Rn. 16). Die Ausnahmevorschrift ist daher auf atypische Fälle zu beschränken, insbesondere auf Fälle, die derart vom Regelfall abweichen, dass sie der Verordnungsgeber nicht im Blick hatte, und bei denen die strikte Anwendung des Regelungsregimes zu unverhältnismäßigen Grundrechtseingriffen führen würde (vgl. VG München, B.v. 3.2.2021 – M26b E 21.407 – bisher unveröffentlicht; VG Regensburg, B.v. 24.2.2021 RO 5 E 21.170)
Um die Atypik des Sachverhaltes im Hinblick auf die Verbotsnorm zu beurteilen, muss untersucht werden, welche Sachverhalte die Verbotsnorm des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV nach dem Willen des Verordnungsgebers typischerweise und regelhaft erfasst.
Die Begründung der 12. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayMBl. 2021 Nr.172) vom 5. März 2021, S. 1, führt in allgemeiner Hinsicht aus, dass das Ziel der 11. BayIfSMV, eine 7-Tage-Inzidenz von höchstens 50 (Schwellenwert) zu erreichen, bei welchem erfahrungsgemäß eine Kontaktpersonennachverfolgung durch die Gesundheitsämter noch gewährleistet werden kann und eine nachhaltige Kontrolle des Infektionsgeschehens möglich ist, weiterhin noch nicht erreicht sei. In Bayern habe eine 7-Tage-Inzidenz von unter 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner erreicht und gehalten werden können. Gleichzeitig habe sich der Rückgang der Sterbefälle weiter fortgesetzt, sodass erste, vorsichtige Öffnungsschritte ermöglicht werden könnten. Am 5. März 2021 liege die 7-Tage-Inzidenz in Bayern mit 69,1 leicht über dem Bundesdurchschnitt von 65,4. Zuletzt habe die 7-Tage-Inzidenz am 19. Oktober 2021 unter dem Wert von 50 gelegen (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Fallzahlen_Kum_Tab.html). Die Infektionszahlen seien auf diesem Niveau zu hoch, um die Maßnahmen umfassend zu lockern. Allerdings stehe in Gestalt der zunehmenden Verfügbarkeit von Schnell- und Selbsttests ein weiterer Baustein zur Verfügung, der es ermöglichen könne, das Pandemiegeschehen positiver zu beeinflussen. In der 12. BayIfSMV seien vor diesem Hintergrund vorsichtige, stufenweise Öffnungsschritte vorgesehen, die in Abhängigkeit von der jeweiligen regionalen 7-Tage-Inzidenz stehen.
Dazu enthält die 12. Bayerische Infektionsschutzmaßnahmen ein System meist inzidenzabhängiger differenzierter Regelungen, welche die Öffnung verschiedener Lebensbereiche an die Unterschreitung eines 7-Tage-Inzidenzwerts von 100 bzw. 35 knüpft. Die einschlägige Regelung des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV ist allerdings weiterhin nicht inzidenzabhängig ausgestaltet. Hinsichtlich Freizeiteinrichtungen sind in § 27 der 12. BayIfSMV auch keine weiteren Öffnungsschritte in Aussicht gestellt.
Hinsichtlich der Begründung der in der 12. BayIfSMV fortgeführten Maßnahmen (um eine solche handelt es sich bei § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV) wird auf die Begründung zur 11. BayIfSMV (BayMBl. 2020 Nr. 738) sowie auf die Begründungen der Verordnungen zur Änderung der 11. BayIfSMV verwiesen. Die Begründung zur 11. BayIfSMV (BayMBl. 2020 Nr. 738) verweist wiederum hinsichtlich der einschlägigen Verbotsnorm auf die Begründung zur 9. BayIfSMV vom 30. November 2020 (BayMBl. Nr. 684), welche mithin hier einschlägig ist. Diese führt S. 4 zum Hintergrund der getroffenen Beschränkungen im Kultur-, Gastronomie- und Freizeitbereich aus:
Um ein noch weiterreichendes Herunterfahren des öffentlichen Lebens zu vermeiden und Schulen und Kindertagesstätten so lange wie möglich offen zu halten, sind Kontakte vor allem im Kultur- und Freizeitbereich und in der Gastronomie deutlich zu reduzieren. Die Maßnahmen betreffen Gastronomiebetriebe, Dienstleistungsbetriebe für körpernahe Dienstleistungen, die kulturellen Einrichtungen, die außerschulische Bildung, die Freizeiteinrichtungen und auch den Amateursport besonders, weil es sich hierbei um kontaktintensive Bereiche handelt. Hier kann das Infektionsgeschehen nach den bisherigen Erkenntnissen durch eine Verminderung der persönlichen Kontakte effektiv begrenzt werden. Eine Erstreckung auf andere Bereiche wäre mit noch schwereren Folgen verbunden, auch in gesamtwirtschaftlicher Hinsicht. Dies gilt unabhängig davon, ob sich der Anteil der betroffenen Bereiche am Infektionsgeschehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt genau und im Einzelnen sicher feststellen lässt. Wie bereits dargestellt, ist die Ermittlung der Umstände einer Infektion ohnehin nur schwer möglich. Da nur durch eine generelle Reduzierung von persönlichen Kontakten das Infektionsgeschehen beherrscht werden kann, ist entscheidend, dass in der Gesamtschau der beschlossenen Einschränkungen diese angestrebte Wirkung erreicht werden kann und diese im Hinblick auf die Belastung nicht außer Verhältnis steht.
Der BayVGH (B.v. 28.1.2021 – 20 CE 20.3169 – juris) hat hierzu ausgeführt, dass mit dem Erlass der 11. BayIfSMV und der Regelung in § 11 Abs. 6 der 11. BayIfSMV der Verordnungsgeber eine weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens verfolgt habe. Hierzu gehöre der Freizeitbereich als besonders kontaktintensiver Bereich (vgl. BayVGH, B.v. 10.12.2020 – 20 NE 20.2482 – juris). Mit dem Erlass der 11. BayIfSMV seien die Maßnahmen der 8., 9. und 10. BayIfSMV fortgeschrieben worden. Darüber hinaus habe der Verordnungsgeber auch weitere Verschärfungen als zwingend geboten erachtet, weil sich gezeigt habe, dass die bisherigen Maßnahmen noch nicht zu einem spürbaren landesweiten Rückgang der Infektionszahlen geführt hätten. Vor diesem Hintergrund sei es ausgeschlossen, dass der Verordnungsgeber in dieser Phase des Pandemiegeschehens Wettannahmestellen, auch wenn sie keinen Aufenthaltscharakter haben, nur einzelnen Personen nur für die Abgabe ihrer Wette zugänglich und mit den bestmöglichen Hygienekonzepten ausgestattet seien, den Betrieb habe erlauben wollen. Wettannahmestellen seien vielmehr nach dem Sinn und Zweck der Verordnung dem Freizeitbereich der Kunden zuzuordnen und sollten deshalb geschlossen bleiben. Darauf, ob in den Wettannahmestellen ein erhöhtes Infektionsrisiko bestehe, komme es nicht an, da insbesondere auch der entsprechende An- und Abreiseverkehr, der sich der infektionsschutzrechtlichen Kontrolle entziehe, verhindert werden sollte. Dies Erwägungen lassen sich auf die geltende Rechtslage übertragen, da die einschlägige Regelung unverändert ist und sich die tatsächlichen pandemischen Rahmenbedingungen gegenüber der Ende Februar gegebenen Lage eher noch verschärft haben (vgl. sogleich unten).
2.2.2 Ausgehend von diesen Erwägungen liegt bei der beantragten Öffnung der drei Betriebe der Antragstellerin kein atypischer Fall vor, der eine Ausnahmegenehmigung im Ermessenswege ermöglichen würde.
Selbst wenn unterstellt wird, es träfe zu, dass die beantragte Öffnung der Wettannahmestellen keine signifikante Relevanz für das Infektionsgeschehen in A* … hat, begründet dies keine Atypik des Falles. Denn wenn es nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht maßgeblich ist, ob von einem konkreten einzelnen Betrieb, der vom Anwendungsbereich des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV erfasst ist, ein erhöhtes Infektionsrisiko ausgeht, insbesondere da auch der entsprechende Anund Abreiseverkehr, der sich der infektionsschutzrechtlichen Kontrolle entzieht, verhindert werden soll, dann kann das fehlende konkrete Infektionsrisiko bei dem Betrieb kein Kriterium sein, das die Atypik einer Fallgestaltung begründet. Gleiches gilt angesichts von Hygienekonzepten, auf deren Vorhandensein und Einhaltung es dem Verordnungsgeber bei einer Untersagung von Freizeiteinrichtungen gerade nicht ankommt. Es liegt auf der Hand, dass sich auch eine Vielzahl anderer Geschäftsinhaber auf ein ausgereiftes Hygienekonzept und ein geringes Kundenaufkommen berufen kann, so dass der vermeintlich atypische Ausnahmefall entgegen dem Willens des Verordnungsgebers zur Regel werden würde.
Ob eine anhaltend niedrige oder sehr niedrige Inzidenz in einem betroffenen Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die Atypik einer Fallgestaltung im Sinne der Ausnahmevorschrift des § 28 Abs. 2 Satz 1 der 12. BayIfSMV begründen kann, oder ob dies nach § 27 der 12. BayIfSMV zu berücksichtigen wäre, bedarf im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keiner Erörterung. Denn die Stadt A* … hat am 30. März 2021 einen 7-Tage-Inzidenzwert von 97 bei einem bayernweiten Inzidenzwert von 138 (https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/infektionsschutz/infektionskrankheten_a_z/coronavirus/karte_coronavirus/). Die 7-Tage-Inzidenz nimmt derzeit wieder deutlich zu, nun insbesondere in den Altersgruppen unter 60 Jahre, Kinder eingeschlossen. Der Anteil der besorgniserregenden Virusvarianten (VOC), vor allem der Variante B.1.1.7, die nach vorläufigen wissenschaftlichen Untersuchungen leichter übertragbar ist und potenziell zu einer größeren Anzahl schwerer Krankheitsverläufe führt, ist sehr rasch angestiegen (vgl. RKI, Bericht zu Virusvarianten von SARS-CoV- 2 in Deutschland, insbesondere zur Variant of Concern [VOC] B.1.1.7, Stand 24.3.2021, vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/DE SH/Bericht_VOC_2021-03-24.pdf? blob=publicationFile). Das Robert-Koch-Institut (RKI) schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein (vgl. Risikobewertung zu COVID-19, Stand 15.3.2021, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html).
Damit kann aktuell für die Stadt A* … im Vergleich zu anderen Kommunen und im Vergleich zur Inzidenzsituation bei Erlass der 12. BayIfSMV weder von einer Stabilisierung des Infektionsgeschehens noch von einer atypisch niedrigen Inzidenz gesprochen werden, die der Verordnungsgeber nicht im Blick hatte.
Da unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Betriebs bereits die Öffnung von Wettannahmestellen für den Publikumsverkehr zwangsläufig zu weiteren Sozialkontakten führt, indem Menschen sich, um zu den entsprechenden Einrichtungen zu gelangen, in der Öffentlichkeit bewegen und zumindest auch einige Kunden in öffentlichen Verkehrsmitteln aufeinandertreffen, kann sich die Antragstellerin letztlich nicht mit Erfolg auf ihre Absicht berufen, eine Wettannahmestelle ohne jeden Aufenthalts- und Verweilcharakter betreiben zu wollen und dabei nur das Aufladen von Kundenkarten zu ermöglichen. Auch wäre trotz zeitlich gestaffelter Terminvergabe nicht auszuschließen, dass einzelne Kunden sich im öffentlichen Raum ansammeln, um das Ergebnis der Wette abzuwarten und dann ggf. auf einem mobilen Gerät weiterzuspielen (vgl. VG Regensburg, B.v. 24.2.2021 RO 5 E 21.170).
Dass das beabsichtigte Konzept der Antragstellerin, das einem „Click und Collect“-Konzept faktisch gleichkommt, regelhaft von der Verbotsnorm des § 11 Abs. 6 der 12. BayIfSMV erfasst ist, zeigt sich insbesondere auch darin, dass der Normgeber es unterlassen hat, die in § 12 Abs. 1 Satz 6 BayIfSM eingeführte „Click und Collect“-Regelung auch auf Freizeiteinrichtungen zu übertragen. Eine planwidrige Regelungslücke ist nicht zu erkennen (so auch BayVGH, B.v. 28.01.2021 Az. 20 CE 20.3169).
3. Der Antrag ist nach alldem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
4. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz i. V. m. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Angesichts der Vorwegnahme der Hauptsache erachtet es das Gericht für sachgerecht, den Streitwert auf die Höhe des für ein Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben.

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