Medizinrecht

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Aktenzeichen  L 5 KR 544/18

Datum:
5.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 45552
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Krankenversicherungsträger dürfen zur Versorgung ihrer Versicherten mit Cannabis nicht die kostengünstigste Darreichungsform festlegen, wenn Darreichungsformen unterschiedliche Wirkweisen haben. Form und Dosis der Therapie sind ausschließlich von dem behandelnden Vertragsarzt patientenindividuell zu bestimmen.

Verfahrensgang

S 2 KR 675/16 2018-10-30 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30.10.2018 wird zurückgewiesen.
II. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers sind von der Beklagten auch in der Berufung zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht nach umfangreicher Beweisaufnahme die Beklagte zur Kostenerstattung für Medizinalcannabis ab Inkrafttreten des § 31 Abs. 6 SGB V und zur Übernahme der künftigen Versorgung des Klägers verurteilt.
Der Bescheid vom 21.03.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.01.2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Es kann offenbleiben, ob der Kläger aufgrund des von der Beklagten nicht fristgerecht entschiedenen Antrags vom 22.01.2016 einen Anspruch aus Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a SGB V) hat, denn ihm steht der im angegriffenen Urteil zugesprochene Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 3 SGB V zu. Die Beklagte hat den Antrag auf Versorgung ab dem 10.03.2017 zu Unrecht abgelehnt. Zudem hat der Kläger einen künftigen Versorgungsanspruch, basierend auf den jeweiligen vertragsärztlichen Verordnungen, nach § 31 Abs. 6 SGB V.
Der Senat bezieht sich hierbei auf die ausführlichen und zutreffenden tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Ausführungen des Sozialgerichts (§ 153 Abs. 2 SGG), macht sich diese nach eingehender Prüfung zu eigen und merkt ergänzend an:
Nach den Vorgaben des Gesetzgebers ist Medizinalcannabis nur in eng begrenzten Ausnahmefällen eine GKV-Leistung (BT-Ds. 18/8965 S. 14, 23). Ein solcher Ausnahmefall ist hier gegeben.
I.
Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V liegen in Auswertung und Würdigung der medizinischen Dokumentation vor. Dazu werden ergänzend folgende Feststellungen getroffen:
1. Der Kläger leidet unter einer schwerwiegenden Erkrankung iSd § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V.
Der unbestimmte Rechtsbegriff der schwerwiegenden Erkrankung ist dem SGB V nicht fremd und entsprechend dem Ausnahmecharakter der Vorschrift dahingehend auszulegen, dass die Krankheit lebensbedrohlich sein muss oder aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl. zur Rspr. des BSG zum off-label-use und Übertragbarkeit der Definitionen siehe LSG NRW, Beschluss v. 25.02.2019 – L 11 KR 240 / 18 B ER, Rz. 60 zitiert nach juris mit einer Übersicht zu Rspr. und Lit.).
In Auswertung der medizinischen Dokumentation ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Krankheit in Form eines chronischen, neuropathischen Schmerzsyndroms der Schulter festzustellen, welches die Lebensqualität des Klägers nachhaltig beeinträchtigt. Das beweisen das Gutachten des MDK und die beiden erstinstanzlichen Sachverständigengutachten, in welche nicht nur die Ergebnisse einer ambulanten Untersuchung des Klägers, sondern auch die aktenkundigen Befundberichte seit 2004 eingeflossen sind.
Die beim Kläger ebenfalls diagnostizierte ADHS ist, wie von der Beklagten zutreffend angemerkt, keine schwerwiegende Erkrankung iSd § 31 Abs. 6 SBG V. Das angegriffene Urteil stützt sich den zugesprochenen Anspruch jedoch zu Recht nicht auf diese Diagnose.
2. Im Falle des Klägers stehen keine allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen mehr zur Verfügung (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1a) SGB V).
In Auswertung und Würdigung der medizinischen Dokumentation seit 2004 und der eingeholten Gutachten ist festzustellen, dass der Kläger seit mehreren Jahren Behandlungsversuche unternommen hat, ambulante und stationäre Krankenhausbehandlungen, stationäre Rehabilitationsaufenthalte und multimodale Schmerztherapien. Die gerichtlichen Sachverständigen, das Klinikum … sowie der … Schmerztherapeut W. haben dokumentiert von verschiedenen medikamentösen Therapieversuche zur Schmerzreduktion berichtet (u.a. mit …). Von diesen Therapieversuchen ist entweder keine ausreichende analgetische Wirkung ausgegangen oder sie haben Nebenwirkungen beim Kläger verursacht, insbesondere zu langanhaltenden Magen-Darm-Erkrankungen geführt.
Nicht entscheidungserheblich ist, ob noch weitere Therapieansätze potentiell zur Verfügung stehen könnten. Der Kläger hat Anspruch darauf, dass ihm im Rahmen der ärztlichen Behandlung eine Möglichkeit eröffnet wird, nach Versagen empfohlener Therapieverfahren eine individuelle Therapie mit Medizinalcannabis zu unternehmen. Die gesetzliche Voraussetzung bedeutet nicht, dass der Kläger langjährig schwerwiegende Nebenwirkungen ertragen müsste, bevor ihm Cannabis als Alternative genehmigt werden könnte (Spickhoff/Barth, 3. Aufl. 2018, SGB V § 31 Rn. 16, 17).
Dass die Aussagen des zum Zeitpunkt der Antragstellung behandelnden Schmerztherapeuten W. als begründete Einschätzung iSd § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit b) SGB V ausreichen, ist nicht zu vertiefen, da vorliegend die Voraussetzungen des lit. a) erfüllt sind.
3. Die Behandlung mit Cannabis hat beim Kläger eine spürbare positive Einwirkung auf den Behandlungsverlauf.
Die weit gefasste Formulierung des Gesetzgebers verlangt keinen Wirksamkeitsnachweis nach den Maßstäben evidenzbasierter Medizin (BT-Drs. 18/8965, S. 25). Vielmehr genügen Wirksamkeitsindizien, die sich auch außerhalb von Studien oder vergleichbaren Erkenntnisquellen oder von Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften finden können (vgl. mit Blick auf § 2 Abs. 1a SGB V, BSG, Urt. v. 02.09.2014 – B 1 KR 4/13 R, zitiert nach juris, Rn. 17 mwN). Erforderlich ist also eine gewisse Mindestevidenz im Sinne des Vorliegens erster wissenschaftlicher Erkenntnisse, dass bei dem konkreten Krankheitsbild durch den Einsatz von Cannabinoiden ein therapeutischer Erfolg zu erwarten ist (LSG NRW, Beschluss v. 25.02.2019, Az. L 11 KR 240/18 B ER a.a.O. unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss v. 26.06.2018; Az. 1 BvR 733/18, LSG NRW, Beschluss v. 19.10.2018, Az. L 16 KR 611/18 B ER und LSG Hessen, Beschluss v. 20.02.2018, Az. L 8 KR 445/17 ER).
In diesem Sinne gilt nach den Praxisleitlinien Schmerzmedizin der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin „Cannabis in der Schmerzmedizin“ (https://dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis) der Einsatz von Cannabis bei neuropathischen Schmerzen, welche beim Kläger festzustellen sind, für etabliert.
In Auswertung der medizinischen Dokumentation ist zudem festzustellen, dass das Klinikum …, der Schmerztherapeut W. und die gerichtlichen Sachverständigen von positiven Auswirkungen auf den Gesundheitszustand des Klägers im Einzelfall unwidersprochen berichten – dies trotz gleichzeitiger Reduzierung der Co-Analgetika. Auch der MDK hat bestätigt, dass diese spürbare positive Einwirkung nachvollziehbar sei.
II. Die Beklagte hat die Genehmigung des klägerischen Antrags gemäß § 31 Abs. 6 S. 2 SGB V unrechtmäßig verweigert.
Durch das Erfordernis der Antragstellung soll der Ausnahmecharakter der Regelung hervorgehoben werden (BT-Drs. 18/8965, S. 25). Die Beklagte darf die Genehmigung vor der Erstverordnung jedoch nur in begründeten Ausnahmefällen verweigern. Damit soll der Therapiehoheit des Vertragsarztes Rechnung getragen werden (BT-Drs. 18/10902, S. 20).
Vorliegend hat die Beklagte weder Anhaltspunkte für einen begründeten Ausnahmefall vorgetragen, noch sind solche ersichtlich. Kontraindikationen wie Abhängigkeits- oder Suchtgefahr sind nach der medizinischen Dokumentation nicht gegeben. Soweit der Sachverständige Dr. K. in seiner Diagnoseliste „Polytoximanie, derzeit abstinent“ aufgezählt hat, ist mit dem Bericht des Universitätsklinikums … vom 09.07.2010 bewiesen, dass der Kläger „vor ca. 10 Jahren“, d.h. als Jugendlicher einen Drogenentzug vorgenommen hatte. Drogenkonsum oder Medikamentenmissbrauch sind seit der Zeit ab 2000 nicht dokumentiert. Vielmehr bestätigt der aktuell behandelnde und verordnende Arzt Dr. C. überzeugend dem Kläger in Bezug auf die getätigte Medikation „große Sorgfalt“.
III.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit Medizinalcannabis in der von seinen behandelnden Ärzten verordneten Form und Dosis.
Grundsätzlich gilt auch im Rahmen der medikamentösen Versorgung der Versicherten das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Krankenversicherungsträger in seiner Versorgung mit Medizinalcannabis – unabhängig von der jeweiligen medizinischen Erforderlichkeit – die kostengünstigste Darreichungsform festzulegen hat, wenn Darreichungsformen unterschiedliche Wirkweisen haben. Denn Form und Dosis der Therapie sind ausschließlich von dem behandelnden Vertragsarzt patientenindividuell zu bestimmen. Beim Kläger sind zudem bereits im Jahr 2015 erfolglose Therapieversuche mit Marinol/Dronabinol und Sativex dokumentiert. Auch wenn grundsätzlich Fertigpräparate aus pharmakologischer Sicht vorzugswürdig sein sollten, gilt dies, wie sich aus den Behandlungsversuchen des Klägers ergibt, für diesen gerade nicht. Zudem hat der Kläger als Sachleistung ein verfügbares Cannabisprodukt zugesprochen erhalten, also keine Versorgung außerhalb der Grundregel der §§ 2, 12 SGB V.
IV.
Die Erstattungsforderung im Zeitraum ab dem 10.03.2017 ist durch aktenkundige Rezepte in der verurteilten Höhe von 1.625 € nachgewiesen.
Die Berufung der Beklagten bleibt damit ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht.

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