Aktenzeichen W 3 K 17.624
SGB VIII § 10 Abs. 1, Abs. 4 S. 2, § 27, § 34, § 42d Abs. 4
SGB XII § 23 Abs. 2
AsylbLG § 1, § 2, § 6, § 9
AsylG § 55
AufenthG § 25 Abs. 3
Leitsatz
1. Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt als eigenständiges Gesetz anstelle von § 23 SGB XII abschließend die materiellen Leistungen von Asylsuchenden sowie geduldeten Ausländern zur Sicherstellung ihres Existenzminimums während ihres Aufenthalts in Deutschland (Rn. 37). (redaktioneller Leitsatz)
2. Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz stellen auch dann keine Leistungen nach dem SGB XII dar, wenn sich Art und Umfang der gewährten Leistungen über § 2 Abs. 1 ASylbLG nach den Regelungen des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch richten (Rn. 42). (redaktioneller Leitsatz)
3. Es mag weitgehend unstreitig sein, dass der Bedarf nach Eingliederungshilfe unter § 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG subsumiert werden kann, weil es sich hierbei um eine Leistung zur Sicherung der Gesundheit handeln dürfte. Dies gilt allerdings nicht für Leistungen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 ff. SGB VIII (Rn. 50 – 51). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die in dem Zeitraum vom 1. Juni 2014 bis zum 26. März 2015 für . . geleisteten Aufwendungen für Jugendhilfe in Höhe von 47.782,68 EUR zu erstatten.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO konnte das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten im vorliegenden Fall ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist das Begehren des Klägers gegenüber dem Beklagten auf Erstattung von Kosten für Jugendhilfeleistungen in Höhe von insgesamt 47.482,68 EUR, die der Kläger zugunsten des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings im Zeitraum vom 1. Juni 2014 bis zum 26. März 2015 aufgewendet hat.
Die zulässige allgemeine Leistungsklage ist begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch in voller Höhe zu.
Dies ergibt sich aus Folgendem:
Ansprüche auf Erstattung von Jugendhilfeleistungen, die ein Träger der Jugendhilfe zugunsten eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings aufgebracht hat, regelten sich bis zum 31. Oktober 2015 nach § 89d Abs. 1 und Abs. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2002 (BGBl. I, S. 2022), zuletzt geändert durch Art. 5 Gesetz vom 17. Juli 2015 (BGBl. I, S. 1368) – SGB VIII -. Das Achte Buch Sozialgesetzbuch wurde mit Wirkung vom 1. November 2015 durch das Gesetz zur Verbesserung und Unterbringung, Versorgung und Betreuung von ausländischen Kindern und Jugendlichen vom 28. Oktober 2015 (BGBl. I, S. 1802) geändert und insbesondere die §§ 42a ff. und § 88a in das Gesetz neu eingefügt und § 89d Abs. 3 aufgehoben (mit Wirkung zum 1.7.2017). Das Gesetz enthält in § 42d Abs. 4 und 5 Übergangsregelungen für die bis dahin erfolgten Jugendhilfeleistungen zugunsten von unbegleitet eingereisten ausländischen Kindern und Jugendlichen.
Im vorliegenden Fall geht es um die Erstattung von Kosten für Jugendhilfeleistungen im Zeitraum vom 1. Juni 2014 bis zum 26. März 2015. Deshalb ist als Anspruchsgrundlage § 89d SGB VIII in der bis zum 31. Oktober 2015 gültigen Fassung zugrunde zu legen.
Gemäß § 89d Abs. 1 SGB VIII sind die Kosten, die ein örtlicher Träger aufwendet, vom Land zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise unter anderem eines jungen Menschen Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt dieser Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet. Gemäß § 89d Abs. 3 Satz 1 SGB VIII wird das erstattungspflichtige Land auf der Grundlage eines Belastungsvergleichs vom Bundesverwaltungsamt bestimmt, wenn die Person im Ausland geboren ist. Nach Art. 52 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) vom 8. Dezember 2006 sind für die Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII die Bezirke zuständig; sie handeln hierbei im eigenen Wirkungskreis. Nach § 89f Abs. 1 SGB VIII sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht.
Hierbei ist der sog. Interessenwahrungsgrundsatz zu beachten. Dieser verlangt unter anderem, dass der erstattungsberechtigte leistende Träger der Jugendhilfe einen anderen z.B. nach § 10 SGB VIII vorrangigen Leistungsträger in Anspruch nimmt, so dass er in diesem Fall keinen Kostenerstattungsanspruch gegenüber einem anderen Träger der Jugendhilfe u.a. nach § 89d Abs. 3 SGB VIII geltend machen kann (Kunkel/Pattar in LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 89f Rn. 22 m.w.N.; Eschelbach in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 8. Aufl. 2019, § 89f Rn. 2).
Dem Kläger steht auf der Grundlage von § 89d Abs. 1, Abs. 3 SGB VIII, Art. 52 AGSG in Verbindung mit dem Bescheid des Bundesverwaltungsamts Köln vom 28. Juni 2010 gegenüber dem Beklagten der geltend gemachte Erstattungsanspruch zu.
Das Regierungspräsidium Darmstadt hat den Flüchtling mit Zuweisungsentscheidung vom 30. Dezember 2011 dem Kläger zugewiesen. Dieser hat unstreitig für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Juni 2014 bis zum 26. März 2015 Leistungen an den Flüchtling erbracht und hierfür insgesamt 47.782,68 EUR aufgewendet. Hierbei handelt es sich um Leistungen der Jugendhilfe. Denn hinsichtlich des Flüchtlings wurde seitens der Stadt Gießen mit Bescheid vom 12. Juli 2010 Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung nach § 34 SGB VIII gewährt; der Kläger hat sich gegenüber dem Jugendamt der Stadt Gießen als Vormund des Flüchtlings mit Schreiben vom 30. April 2015 dazu bereit erklärt, die Hilfe auf der Grundlage von § 34 SGB VIII ab dem 1. Juni 2012 in unverändertem Umfang fortzusetzen. Damit liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 89d Abs. 1, Abs. 3 SGB VIII vor.
Dem kann der Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, auf der Grundlage von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII sei nicht er, sondern der Sozialhilfeträger nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zuständig; dieser habe die Kosten zu erstatten. Nach dieser Vorschrift gehen u.a. Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vor. Dies bedeutet einen Vorrang der Sozialhilfe auch dann, wenn für einen jungen Menschen mit geistiger Behinderung sowohl Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch als auch wegen erzieherischen Bedarfs Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII in Frage kommen. Damit ist der Jugendhilfeträger für die Eingliederung junger Menschen mit geistiger Behinderung unzuständig; für die Hilfe zur Erziehung ist er nachrangig zuständig (Schönecker/Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 8. Aufl. 2019, § 10 Rn. 46, 50 und 51; Kepert in LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 10 Rn. 66).
Im vorliegenden Fall hat die amtsärztliche Stellungnahme des Landkreises Marburg-Biedenkopf vom 20. September 2016 ergeben, dass beim Flüchtling eine leichte geistige Behinderung vorliegt.
Dennoch sind hinsichtlich des Flüchtlings für den streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ausgeschlossen, so dass § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII keinerlei Wirkung zugunsten des Beklagten entfalten und der hier festgesetzte Vorrang der Sozialhilfe gegenüber Leistungen der Jugendhilfe für geistig behinderte junge Menschen nicht zum Tragen kommen kann.
Dies ergibt sich aus § 23 Abs. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (Art. 1 Gesetz vom 27.12.2003, BGBl. I, S. 3022), zuletzt geändert durch Art. 9 Gesetz vom 21.7.2014 (BGBl. I, S. 1133) – SGB XII -.
§ 23 SGB XII enthält Sonderregelungen für Ausländer, die sich im Bundesgebiet aufhalten und modifiziert bzw. garantiert unter Berücksichtigung des Sozialstaatsprinzips das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Kommentar, 6. Aufl. 2018, § 23 Rn. 1 und 2). In diesem Zusammenhang regelt § 23 Abs. 2 SGB XII, dass Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes keine Leistungen der Sozialhilfe erhalten. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz regelt als eigenständiges Gesetz anstelle von § 23 SGB XII abschließend die materiellen Leistungen von Asylsuchenden sowie geduldeten Ausländern zur Sicherstellung ihres Existenzminimums während ihres Aufenthalts in Deutschland (Birk in LPK-SGB XII, 11. Aufl. 2018, Vorbem. zum AsylbLG Rn. 1). Hintergrund ist die Entscheidung des Gesetzgebers, Ausländern, deren Aufenthaltsstatus nicht hinreichend gesichert ist, die Solidarität der Gesellschaft nur begrenzt zuteil werden zu lassen (Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Kommentar, 6. Aufl. 2018, § 23 Rn. 15 m.w.N. zur Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift). Damit erweist sich § 23 Abs. 2 SGB XII als lex specialis zu den weiteren Regelungen des § 23 SGB XII, deren Anwendung damit prinzipiell für Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I, S. 2022), zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz vom 10. Dezember 2014 (BGBl. I, S. 2187) ausgeschlossen sind.
Leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG sind gemäß dessen Abs. 1 Nr. 1 Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz besitzen.
Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist einem Ausländer, der um Asyl nachsucht, zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet. Er erhält eine Aufenthaltsgestattung.
So liegt der Fall hier. Der Flüchtling hat (wie sich aus Bl. 696 der Behördenakte des Klägers ergibt) am 24. April 2013 einen Asylantrag gestellt und in der Folge wurde ihm am 8. Mai 2013 eine Aufenthaltsgestattung erteilt, die am 8. November 2013, am 19. Mai 2014 und am 20. Oktober 2014 verlängert worden ist. Aufgrund der Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AsylG mit Bescheid vom 15. Januar 2015, bestandskräftig geworden am 3. Februar 2015, ist dem Flüchtling am 27. März 2015 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt worden. Damit hatte der Flüchtling im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Juni 2014 bis zum 26. März 2015 eine Aufenthaltsgestattung, so dass er leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG, gemäß § 23 Abs. 2 SGB XII jedoch nicht leistungsberechtigt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch war.
Dem kann der Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG sei abweichend von dessen §§ 3, 4, 6 und 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 48 Monaten (AsylbLG in der Fassung vom 26.11.2011, Art. 3 Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I, S. 2258) bzw. 15 Monaten (AsylbLG in der Fassung vom 1.3.2015, Art. 3 Gesetz vom 23.12.2014, BGBl. I, S. 2439) ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Der Beklagte ist der Meinung, dass mit dieser Regelung das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch doch anwendbar wäre und damit gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII Vorrang habe.
Diese Vorschrift hat allerdings keine Leistungsberechtigung originär nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zur Folge, sondern es bestehen lediglich Ansprüche auf “Analogleistungen”; diese bleiben originär Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Birk in LPK-SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 23 Rn. 19; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Kommentar, 6. Aufl. 2018, § 23 Rn. 16 m.w.N.). Dies ergibt sich aus § 9 Abs. 1 AsylbLG. Hiernach erhalten Leistungsberechtigte keine Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch oder vergleichbaren Landesgesetzen. Hierdurch wird klargestellt, dass Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auch dann keine Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch darstellen, wenn sich Art und Umfang der gewährten Leistungen über § 2 Abs. 1 AsylbLG nach den Regelungen des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch richten.
Aus alledem ergibt sich, dass der Beklagte sich gegen den geltend gemachten Anspruch des Klägers nicht unter Berufung auf § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII mit Erfolg mit dem Argument wehren kann, dass der Träger der Sozialhilfe, also der hessische Landeswohlfahrtsverband, zur Kostenerstattung verpflichtet sei und nicht er selbst.
Der Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, nicht er, sondern der Leistungsträger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (dies wäre im vorliegenden Fall die Stadt Gießen gemäß der hessischen Verordnung zur Durchführung des AsylbLG vom 16. November 1993 (GVBl. I, 515), zuletzt geändert durch § 8 Verordnung vom 5. Juli 1994 (GVBl. I, S. 286)) sei vorrangig zuständig für die dem Flüchtling gewährten Jugendhilfeleistungen und damit dem Kläger gegenüber gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 (BGBl. I, S. 130), zuletzt geändert durch Art. 10 Gesetz vom 11. August 2014 (BGBl. I, S. 1348) – SGB X – erstattungspflichtig.
Dieses Argument beruht auf dem schon oben erwähnten Interessenwahrungsgrundsatz, nach dem der erstattungsberechtigte Träger verpflichtet ist, soweit möglich den Nachrang der Jugendhilfe wiederherzustellen. Die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen gegenüber einem – sachlich – vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträger hat Priorität, soweit dies zumutbar ist und nicht von vornherein aussichtslos erscheint (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30.12 – juris LS 1 und LS 2 und Rnrn. 19 bis 20).
Ist – wie oben festgestellt – § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nicht anwendbar, gilt die Grundregel des § 10 Abs. 1 SGB VIII (DIJuF-Rechtsgutachten vom 3.3.2015, Das Jugendamt 2015, S. 145 ff., 146). Nach Satz 1 dieser Vorschrift werden Verpflichtungen Anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen und der Schulen, durch dieses Buch nicht berührt. Nach Satz 2 dürfen auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen Anderer nicht deshalb versagt werden, weil nach diesem Buch entsprechende Leistungen vorgesehen sind.
Diese Vorschrift begründet den Nachrang von Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (Schönecker/Meysen in MünderMeysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 8. Aufl. 2019, § 10 Rn. 1) gegenüber anderen Sozialleistungen und Verpflichtungen, die vorrangig sind. Dieser Vorrang geht aber nur soweit, wie die vorrangige Bedarfsdeckung tatsächlich realisiert werden kann. Insofern ist der Jugendhilfeträger “Ausfallbürge” (Schönecker/Meysen, a.a.O., Rn. 2; Kepert in LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2017, § 10 Rn. 7).
Allerdings enthält das Asylbewerberleistungsgesetz keinerlei Vorschriften, die dem Flüchtling gegenüber den Leistungsträger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen auf Hilfe zur Erziehung gewähren.
Hierbei kann sich der Beklagte insbesondere nicht auf § 6 Abs. 1 AsylbLG berufen. Nach Satz 1 dieser Vorschrift können sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind.
Es mag weitgehend unstreitig sein, dass der Bedarf nach Eingliederungshilfe unter § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG subsumiert werden kann (DIJuF-Rechtsgutachten vom 3.3.2015, Das Jugendamt 2015, S. 145 ff., 146 m.w.N.), weil es sich hierbei um eine Leistung zur Sicherung der Gesundheit handeln dürfte.
Allerdings gilt dies nicht für Leistungen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 ff. SGB VIII. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz und insbesondere dessen § 6 hält keine der Gewährung von Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vergleichbaren Leistungen vor (BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24.98 – juris Rn. 29 mit ausführlicher Begründung).
Die Auffassung, Leistungen nach § 6 AsylbLG könnten auch Leistungen der Jugendhilfe als Hilfe zur Erziehung sein, findet im Gesetz keine Stütze. Das Bundesverwaltungsgericht (U.v. 24.6.1999, a.a.O., Rn. 29) führt hierzu aus, dass weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte der Bestimmung Anhaltspunkte dafür geben, dass mit “sonstigen Leistungen” i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG die Gewährung von Jugendhilfe durch den Leistungsträger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gemeint sein könnte. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz ist kein Erziehungsgesetz wie das Achte Buch Sozialgesetzbuch, sondern befasst sich mit der Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern. Dies entspricht auch dem Wortlaut des § 6 Abs. 1 AsylbLG, der als Regelbeispiele Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit benennt, Leistungen also, die in keinerlei Zusammenhang mit erzieherischen Belangen stehen.
Vielmehr und demgegenüber ist im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich betont worden, dass das Achte Buch Sozialgesetzbuch als Erziehungsgesetz auch für jugendliche Asylbegehrende gelten sollte, denn es sei nicht gerechtfertigt, Kinder und jugendliche Asylsuchende jahrelang ohne die für sie notwendige Hilfe zur Erziehung zu lassen (BT-Drs. 11/5948, S. 125; BVerwG, U.v. 24.6.1999, a.a.O., Rn. 27).
Dies nimmt auch § 9 Abs. 1 und Abs. 2 AsylbLG auf. Nach dessen Abs. 1 erhalten Leistungsberechtigte keine Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch oder vergleichbaren Landesgesetzen; gemäß Abs. 2 werden Leistungen Anderer, insbesondere Unterhaltspflichtiger, der Träger von Sozialleistungen oder der Länder im Rahmen ihrer Pflicht nach § 44 Abs. 1 des Asylgesetzes durch dieses Gesetz nicht berührt. Dass mit Leistungen von Trägern von Sozialleistungen auch Kinder- und Jugendhilfeleistungen gemeint sind, hat das Bundesverwaltungsgericht (U.v. 24.6.1999, a.a.O., Rn. 30) ausdrücklich bestätigt. Damit wird deutlich, dass der Leistungskatalog des Asylbewerberleistungsgesetzes keine Hilfe zur Erziehung umfasst und dass derartige Hilfen ausschließlich nach §§ 27 ff. SGB VIII möglich sind, so dass das Nachrangprinzip des § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im vorliegenden Fall nicht gilt (vgl. DIJuF-Rechtsgutachten vom 3.3.2015, Das Jugendamt 2015, 145 ff., 147) und der Beklagte sich nicht darauf berufen kann, der Kläger müsse seine Erstattungsforderung vorrangig gegenüber dem Leistungsträger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, also der Stadt Gießen, geltend machen.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, bei den konkreten Leistungen handele es sich der Sache nach gar nicht um eine Hilfe zur Erziehung, sondern um eine der Gesundheit (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) des Flüchtlings dienende Eingliederungshilfeleistung, für die eben doch die Stadt Gießen als Träger für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuständig sei. Dies ergibt sich formal daraus, dass sich der Bescheid der Stadt Gießen vom 12. Juli 2010 ausdrücklich auf § 27 i.V.m. § 34 SGB VIII stützt und sich an den Amtsvormund, das Jugendamt der Stadt Gießen, als Anspruchsberechtigten richtet und nicht an den Flüchtling selbst. Inhaltlich ergibt sich dies aus den entsprechenden Hilfeplänen, beginnend mit demjenigen vom 27. April 2012 und endend mit demjenigen vom 20. März 2015. Hier wird als ausgewählte Hilfeart Heimerziehung gemäß § 27 i.V.m. § 34 SGB VIII benannt. Als Hilfeziele werden (vgl. Hilfeplan vom 27.4.2012) angestrebt, dass der Flüchtling sein Leben ohne Hilfe einschätzen und bewältigen, seinen Alltag selbständig und allein organisieren kann und dass seine Persönlichkeit in ausreichendem Maße ausreift. Dies wurde in der Hilfeplanung durchgängig aufrechterhalten. Im Hilfeplan vom 20. März 2015 wurden als Hilfeziele weiterhin die Sicherung der altersgemäßen Versorgung, Förderung, Betreuung und Erziehung, die Stabilisierung der Persönlichkeit und des Selbstwertgefühls, die Hinführung zur richtigen und verhältnismäßigen Inanspruchnahme der dargebotenen Hilfemöglichkeiten bzw. Hilfestellungen, Hilfestellung und Begleitung bezüglich des schulischen, gegebenenfalls anschließend bezüglich des beruflichen Werdegangs und Hinführung bzw. Förderung zu einer ausgereiften, selbständigen, charakterfesten Persönlichkeit mit ausreichender realisierbarer Perspektiveneinschätzung genannt (Bl. 335 der Behördenakte des Klägers). Insbesondere wird im Hilfeplan vom 20. März 2015 bestätigt, dass die für den Flüchtling ausgewählte und bewilligte Hilfeform nach den §§ 27 und 34 SGB VIII, fortgesetzt gemäß § 41 SGB VIII, weiterhin gut geeignet und erforderlich ist, um seine Einschränkungen zu begleiten. Damit wird deutlich, dass es sich trotz der kognitiven Einschränkungen des Flüchtlings bei der gewährten Hilfe im gesamten streitigen Zeitraum nicht um eine Eingliederungshilfe, sondern um eine Hilfe zur Erziehung gehandelt hat und die Stadt Gießen als Träger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht zur Erstattung derartiger Leistungen verpflichtet ist.
Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten seine Ansprüche auch rechtzeitig geltend gemacht, so dass sie nicht erloschen sind. Im Rahmen der oben dargestellten Neuregelung der Materie zum 1. November 2015 wurde die Übergangsregelung des § 42d Abs. 4 SGB VIII geschaffen. Hiernach ist ab dem 1. August 2016 die Geltendmachung des Anspruchs des örtlichen Trägers gegenüber dem nach § 89d Abs. 3 SGB VIII erstattungspflichtigen Land auf Erstattung der Kosten, die vor dem 1. November 2015 entstanden sind, ausgeschlossen. Fallkosten, die vor diesem Zeitpunkt entstanden waren, mussten deshalb spätestens bis zum 31. Juli 2016 geltend gemacht werden. Nach diesem Zeitpunkt ist eine Erstattung der vor dem 1. November 2015 entstandenen Kosten ausgeschlossen (BayVGH, B.v. 17.12.2018 – 12 ZB 18.2462 – juris Rn. 7 m.w.N.; VG Würzburg, U.v. 4.4.2019 – W 3 K 17.1282 – juris Rn. 37 ff.).
Diese Frist hat der Kläger eingehalten und seinen Anspruch mit Schreiben vom 13. August 2015 (Bl. 121 der Behördenakte des Beklagten) und erneut mit Schreiben vom 20. Mai 2016 (Bl. 145 der Behördenakte des Beklagten) geltend gemacht.
Im Übrigen hat der Beklagte gegenüber dem Kläger mit Schreiben vom 5. Dezember 2016 hinsichtlich der streitgegenständlichen Forderung bis zum 30. Juni 2016 auf die Einrede der Verjährung verzichtet.
Aus diesen Gründen war der Klage stattzugeben und der Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die im Zeitraum vom 1. Juni 2014 bis zum 26. März 2015 für . . geleisteten Aufwendungen für Jugendhilfe in Höhe von 47.782,68 EUR zu erstatten.
Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 ZPO.