Aktenzeichen L 12 KA 130/16
StPO § 257c
Leitsatz
1. Falschabrechnungen eines Vertragsarztes können einen Grund für eine Zulassungsentziehung darstellen. (Rn. 41)
2. Die Annahme gröblicher Pflichtverletzungen kann sich auch auf Tatsachenfeststellungen in anderen bestandskräftigen Entscheidungen und deren Inhalt stützen. Dies gilt bezüglich Strafurteilen auch dann, wenn diese auf einer Verständigung gemäß § 257c STPO beruhen. (Rn. 38)
Verfahrensgang
S 1 KA 2/16 2016-11-17 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 17. November 2016 wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) und 2).
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Der Senat weist die Berufung des Klägers aus den Gründen des angegriffenen Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 17. November 2016 zurück, das sowohl vom Ergebnis wie auch von den angeführten Entscheidungsgründen in vollem Umfang zu bestätigen ist. Die vom Kläger im Rahmen des Berufungsverfahrens vorgetragenen Gesichtspunkte führen zu keiner anderen Beurteilung.
Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung des Beklagten vom 17.05.2016 ist § 95 Abs. 6 Satz 1 SGB V. Danach ist einem Vertragsarzt die Zulassung unter anderem dann zu entziehen, wenn er seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt. Eine Pflichtverletzung ist gröblich, wenn sie so schwer wiegt, dass ihretwegen die Entziehung zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung notwendig ist. Davon ist nach der Rechtsprechung des BVerfG wie auch des BSG auszugehen, wenn die gesetzliche Ordnung der vertragsärztlichen Versorgung durch das Verhalten des Arztes in erheblichem Maße verletzt wird und das Vertrauensverhältnis zu den vertragsärztlichen Institutionen tiefgreifend und nachhaltig gestört ist, so dass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vertrags(zahn) arzt nicht mehr zugemutet werden kann (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. BSG, Urteil vom 17.10.2012, B 6 KA 49/11 R Rdnr. 20 mit weiteren Hinweisen sowie BVerfGE 69, 233, 244). Maßgeblich ist, ob das Vertrauensverhältnis im Zeitpunkt der Entscheidung der Zulassungsgremien – hier also der Entscheidung des Beklagten vom 21.04.2016 (Bescheid vom 17.05.2016) – wieder hergestellt ist.
Wiederholt unkorrekte Abrechnungen können die Zulassungsentziehung rechtfertigen, weil das Abrechnungs- und Honorarsystem der vertragsärztlichen Versorgung auf Vertrauen aufbaut und das Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben des Leistungserbringers ein Fundament des Systems der vertragsärztlichen Versorgung darstellt (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2012, B 6 KA 22/11 R – SozR 4-2500 § 95 Nr. 24 Rdnr. 35 m.w.N.). Für den Tatbestand einer gröblichen Pflichtverletzung im Sinne von § 95 Abs. 6 SGB V ist nicht erforderlich, dass den Vertragsarzt ein Verschulden trifft, auch unverschuldete Pflichtverletzungen können zur Zulassungsentziehung führen (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2012 – B 6 KA 22/11 R – SozR 4-2500 § 95 Nr. 24 Rdnrn. 23, 50 ff). Den Vertragsarzt trifft eine Grundpflicht zur peinlich genauen Leistungsabrechnung (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.1993, Aktenzeichen 6 RKa 70/91). Eine Falschabrechnung liegt immer dann vor, wenn die Leistungsziffer angesetzt wurde, obwohl nicht alle Abrechnungsvoraussetzungen erfüllt waren.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Beklagte in dem angegriffenen Bescheid vom 17.05.2016 (Beschluss vom 21.04.2016) zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger seine vertragsärztlichen Pflichten in einer eine Zulassungsentziehung rechtfertigenden Weise gröblich verletzt hat, indem er über 16 Quartale hinweg (Quartale 1/2009 bis 4/2012) gegenüber der Beigeladenen zu 1) falsch abgerechnet hat in einer Höhe von insgesamt 216.492,33 EUR. Der falsch angesetzte Betrag in Höhe von 216.492,33 EUR ergibt sich zum einen aus dem Falschansatz der GOP 30901 EBM in Höhe von 175.379,08 EUR sowie dem Falschansatz der GOP 01622 EBM in Höhe von 41.113,25 EUR.
Die GOP 30901 EBM vergütet die kardiorespiratorische Polysomnographie gemäß Stufe 4 der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Den in der GOP aufgeführten Leistungsinhalt hat der Kläger in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt. Zunächst allein schon deswegen, als ihm gar keine Schlafräume zur Verfügung gestanden haben, in denen die Leistungen zwingend zu erbringen gewesen wären. Der Kläger hat allenfalls eine kardiorespiratorische Polygraphie gemäß GOP 30900 (Vergütung 58,28 EUR gegenüber 313,26 EUR) erbracht, also den Patienten ein Gerät zur Eigendiagnostik zu Hause mitgegeben, wobei aber unstreitig ist, dass auch die diesbezüglich vom Kläger benannten Geräte zu keiner Zeit bei der Beklagten angezeigt wurden und damit auch nicht genehmigt werden konnten. Die GOP 01622 EBM vergütet den „ausführlichen schriftlichen Kurplan, das begründete schriftliche Gutachten oder die schriftliche gutachterliche Stellungnahme, nur auf besonderes Verlangen der Krankenkasse oder die Ausstellung der vereinbarten Vordrucke nach den Mustern 20a bis d, 51 oder 52“. Der Kläger konnte in keinem einzigen Fall nachweisen, dass seiner Leistungserbringung der GOP 01622 EBM ein besonderes Verlangen einer Krankenkasse vorangegangen war.
Dieser Sachverhalt steht zunächst bereits – allein und unabhängig von dem Strafurteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 28.04.2015 – auf Grund des bestandskräftigen Bescheides der Beklagten vom 28.08.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2015 fest, mit dem die Honorarbescheide für die Quartale 1/2009 bis 4/2012 zurückgenommen wurden, das Honorar neu festgesetzt wurde und die Differenz in Höhe von 216.492,33 EUR vom Kläger zurückgefordert wurde. Die diesbezügliche Rückforderung hat der Kläger mittlerweile vollständig beglichen. Die Beigeladene zu 1) kam hier nach eingehender Überprüfung der Abrechnungsweise des Klägers bei den GOP 01622 EBM und 30901 EBM – ergänzend auch durch stichprobenartige Überprüfung von 35 bzw. 77 Einzelfällen zu dem Ergebnis, dass zum einen die GOP 01622 EBM in allen abgerechneten Fällen abzusetzen ist, weil der Kläger in keinem Fall ein besonderes Verlangen durch die Krankenkasse – etwa ein Anforderungsschreiben – noch die Ausstellung der vereinbarten Vordrucke nachweisen konnte. Zum anderen fehlen hinsichtlich der GOP 30901 EBM die apparativen und räumlichen Voraussetzungen für eine rechtmäßige Abrechnung der GOP 30901 EBM.
Der Sacherhalt steht zudem bezüglich der Falschabrechnung der GOP 30901 auf der Grundlage des Urteils des Amtsgerichts A-Stadt vom 28.04.2015 (Az.: 411 LS …) fest. Nach diesem Urteil hat der Kläger im Zeitraum 01.01.2009 bis 31.12.2012 gegenüber der Beigeladenen zu 1) für erbrachte sogenannte Große Schlaflaborleistungen (GOP 30901 EBM) quartalsbezogen mit 16 Sammelerklärungen Leistungen in Höhe von insgesamt 175.351,08 EUR abgerechnet. Durch die Unterzeichnung der jeweiligen Sammelerklärung hat der Kläger danach bewusst wahrheitswidrig versichert, dass die Abrechnungen sachlich richtig seien und nur Leistungen abgerechnet worden seien, die von ihm persönlich oder, soweit delegierbar, von seinem nichtärztlichen Hilfspersonal unter seiner Überwachung erbracht wurden. Dem Kläger war dabei bewusst, dass er zur Abrechnung dieser Leistungen nicht berechtigt war, da diese nicht von ihm erbracht wurden. Der Kläger verfügte schon nicht über die entsprechenden Räumlichkeiten, um die von ihm abgerechneten „Großen Schlaflaborleistungen“ erbringen zu können. Soweit der Kläger Leistungen erbrachte, die sogenannten „Kleinen Laborleistungen“ entsprechen, konnte er diese ebenfalls nicht abrechnen, weil die hierfür genutzten Geräte von der Beigeladenen zu 1) nicht genehmigt waren. Entsprechend der vorgefassten Meinung des Klägers vertrauten die Sachbearbeiter der Beigeladenen zu 1) auf die Richtigkeit der Erklärungen des Klägers und tätigten in der Folge die entsprechenden Auszahlungen, wodurch der Beigeladenen zu 1) ein entsprechender Schaden entstanden ist.
Diese Feststellungen in dem Bescheid der Beigeladenen zu 1) vom 28.08.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2015 sowie in dem Strafurteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 28.04.2015 macht sich der Senat nach eigener Prüfung zu Eigen.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. Beschluss vom 05.05.2010, B 6 KA 32/09 B) kann die Annahme gröblicher Pflichtverletzungen sich auch auf Tatsachenfeststellungen in anderweitigen bestandskräftigen Entscheidungen und deren Inhalt stützen, insbesondere auf Strafurteile und Strafbefehle. Der Verwertung des Strafurteils des Amtsgerichts A-Stadt steht nicht entgegen, dass dem Urteil eine Verständigung im Sinne von § 257c STPO vorausgegangen ist. Ungeachtet der zahlreichen Bedenken gegen die Einführung eines teilweisen Konsensualverfahrens im Rahmen des auf der Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit, dem Grundsatz des fairen rechtsstaatlichen Verfahren, der Umschuldungsvermutung und der Neutralitätspflicht des Gerichts basierenden Strafprozesses ist für die Entscheidung des Senats maßgeblich, dass das BVerfG die geänderten Vorschriften des STPO durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren verfassungsrechtlich nicht beanstandet hat (vgl. BVerfG, Urteil vom 19.03.2013, 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168). Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Urteil des Amtsgerichts A-Stadt nicht den Vorgaben des BVerfG entsprechen würde. Insbesondere ergibt sich aus dem Protokoll vom 12.05.2015, dass es im Anschluss an die Verständigung gemäß § 257c STOPP zu einer umfangreichen Beweisaufnahme gekommen ist, so dass das Urteil in seiner Begründung sich nicht allein auf das Geständnis des Klägers stützt. Die Urteilsgründe entsprechen insgesamt den Vorgaben des § 267 STPO.
Im Übrigen bestreitet auch der Kläger nicht, dass das Amtsgericht A-Stadt zutreffend entschieden hat, wenn er ausführt, „richtig ist die Verurteilung durch das Amtsgericht A-Stadt vom 28.04.2015 wegen Betrugs in 16 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung“.
Des Weiteren hält der Senat entgegen dem Anliegen das Klägers an seiner der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG, Urteil vom 17.10.2012, B 6 KA 40/11 R) folgenden Rechtsprechung (vgl. Bayer. LSG, Urteile vom 11.03.2015, L 12 KA 56/14 und vom 16.12.2015, L 12 KA 52/15) fest, wonach Entscheidungen über Zulassungsentziehungen ausnahmslos nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu beurteilen sind. Später liegende Umstände – wie etwa ein Wohlverhalten – sind in einem Verfahren auf Wiederzulassung zu würdigen. Im Übrigen läge ein Wohlverhalten des Klägers im Sinne der früheren Rechtsprechung gar nicht vor. Hierfür wäre als erster Schritt zumindestens zu fordern, dass der Kläger seine Falschabrechnungen einstellt und den dadurch entstandenen Schaden in vollem Umfang ersetzt. Davon kann nicht die Rede sein. Vielmehr hat der Kläger die Fehlabrechnung der GOP 30900 EBM (und zusätzlich der GOP 30901 EBM) in den Quartalen 1/2013 bis 3/2014 fortgesetzt und hat den dabei entstandenen Schaden in Höhe von 14.679,45 EUR bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Bayer. LSG auch nicht ersetzt.
Der Kläger geht zu Unrecht auch davon aus, dass der Entzug der vertragsärztlichen Zulassung im Hinblick auf die bereits erfolgte strafrechtliche Verurteilung gegen das Doppelbestrafungsverbot verstößt. Bei der Entziehung der Zulassung geht es nämlich nicht um die Verhängung einer Strafe, sondern es handelt sich um eine Verwaltungsmaßnahme, die der Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung dient (vgl. BSG, Urteil vom 09.02.2011, B 6 KA 49/11 B, Rdnr. 20). Der Beklagte und diesen bestätigend das Sozialgericht Nürnberg sind zutreffend davon ausgegangen, dass die Falschabrechnungen des Klägers eine besonders gravierende Pflichtverletzung darstellen. In zeitlicher Hinsicht sind bei der gerichtlichen Überprüfung der Zulassungsentziehung alle Pflichtverletzungen durch den Kläger zu berücksichtigen, die vor der Entscheidung des Beklagten stattgefunden haben. Der bei einem solch schweren Eingriff in die Berufswahlfreiheit stets zu beachtende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es dabei, zum Zeitpunkt der Entscheidung der Zulassungsgremien länger als die übliche Bewährungszeit von fünf Jahren zurückliegende Pflichtverletzungen nur dann zur Grundlage einer Zulassungsentziehung zu machen, wenn diese besonders gravierend sind (vgl. BSG, Urteil vom 19.07.2006, B 6 KA 1/06 R, Rdnr. 14). Die besondere Schwere der Pflichtverletzung ergibt sich im Falle des Klägers daraus, dass er über einen sehr langen Zeitraum (16 Quartale bzw. vier Jahre) falsch abgerechnet hat und dabei einen sehr hohen Schaden verursacht hat (216.492,33 EUR). Aufgrund der Schwere des Pflichtverstoßes sieht der Senat das Vertrauensverhältnis zu den vertragsarztrechtlichen Institutionen so nachhaltig und tiefgreifend gestört an, dass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit diesem Vertragsarzt nicht mehr zugemutet werden kann. Daraus folgt eine Nichteignung zur Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit, die den Zulassungsentzug als einzige und gebotene Maßnahme rechtfertigt.
Nach alledem war zu entscheiden wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 HS 3 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.