Medizinrecht

Genehmigungsfiktion – Rücknahme der Genehmigungsfiktion

Aktenzeichen  L 4 KR 297/17

Datum:
3.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 39950
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3a
SGB X § 45

 

Leitsatz

1. Zu den Voraussetzungen des Eintritts der Genehmigungsfiktion.
2. Hinsichtlich der Voraussetzungen der Rücknahme einer fingierten Genehmigung folgt der Senat der Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts.

Verfahrensgang

S 29 KR 1627/15 2017-04-06 GeB SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 06.04.2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass in Ziffer I. des Tenors die Wörter “Extension des alten Nabels” durch die Wörter “Exzision der alten Narbe” ersetzt werden.
II. Der Bescheid der Beklagten vom 21.06.2017 wird aufgehoben.
III. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet; außerdem war der Bescheid vom 21.06.2017 aufzuheben.
Gegenstand des Rechtsstreits sind in einer Klage im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) zusammen verfolgte drei zulässige Klagebegehren: Die allgemeine Leistungsklage auf Versorgung mit fünf postbariatrischen Wiederherstellungsoperationen (dazu 1.), die (isolierte) Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung (dazu 2.) und die (isolierte) Anfechtungsklage gegen die während des Berufungsverfahrens zum Gegenstand des Rechtsstreits gewordene Rücknahmeentscheidung (dazu 3.).
1. Die allgemeine Leistungsklage ist auf Versorgung der Klägerin mit fünf postbariatrischen Wiederherstellungsoperationen gerichtet. Dies sind folgende:
* Lateral erweiterte Abdominoplastik inkl. Nabelkorrektur und Exzision der alten Narbe sowie Neupositionierung des Nabels und Straffung des mons pubis,
* Angleichende Mammareduktionsplastik inklusive lateraler Thoraxstraffung,
* Oberarmstraffung beidseits inklusive Axilia-Straffung,
* Oberschenkelstraffung beidseits inkl. Liposuktion,
* Liposuktion des Rückens.
Dies ergibt sich aus der Antragstellung der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren (Schriftsatz vom 16.02.2016).
Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage ergeben sich nicht (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2017, B 1 KR 24/17 R, Rn. 9 f.).
Die Klage ist auch begründet; der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch zu.
a) Die Klägerin ist nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Sie ist aktuell in Deutschland beschäftigt; die Beklagte ist auf den Lohnabrechnungen als Krankenkasse angegeben. Die Beklagte selbst hat mit Schreiben vom 25.10.2017 gegenüber dem Senat eingeräumt, dass eine frühere Abmeldung zum 31.05.2017 wieder storniert worden ist.
b) Zur Anwendung kommt nationales Recht. Insbesondere begehrt die Klägerin nicht Leistungen an ihrem Wohnort Großbritannien, sondern die Gewährung von Sachleistungen im Inland. Primär- oder Sekundärrecht der EU ist ebensowenig einschlägig wie § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich wesentlich von demjenigen, der dem von der Beklagten angeführten Urteil des Hessischen LSG vom 09.11.2017 (L 1 KR 210/17) zu Grunde lag. Der dortige Kläger hatte die Erstattung von Kosten begehrt, die durch eine Selbstbeschaffung in der Türkei, also einem Land außerhalb des in § 13 Abs. 4 Satz 1 SGB V genannten Bereichs, angefallen waren.
c) Eine Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V ist eingetreten.
aa) Die Klägerin hat am 01.09.2015 bei der Beklagten einen Antrag gestellt. Dieser Antrag umfasste die oben beschriebenen fünf postbariatrischen Wiederherstellungsoperationen. Dies ergab sich aus dem Arztbrief von Dr. W. vom 13.07.2015, der dem Antrag beigefügt war. Letzteres steht für den Senat fest auf Grund der Einlassung des MDK vom 22.02.2018. Das Schreiben der Klägerin vom 11.11.2015 stellt demgegenüber keinen weiteren, eigenständigen Antrag dar. Vielmehr hat die Klägerin in diesem Schreiben ausdrücklich auf ihren Antrag vom 01.09.2015 Bezug genommen und den Eintritt einer Genehmigungsfiktion geltend gemacht.
Der Antrag war auch hinreichend bestimmt. Die Fiktion kann nur dann greifen, wenn der Antrag so bestimmt gestellt ist, dass die auf Grundlage des Antrags fingierte Genehmigung ihrerseits im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB X hinreichend bestimmt ist. Ein Verwaltungsakt ist – zusammengefasst – inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 SGB X), wenn sein Adressat objektiv in der Lage ist, den Regelungsgehalt des Verfügungssatzes zu erkennen und der Verfügungssatz ggf. eine geeignete Grundlage für seine zwangsweise Durchsetzung bildet. So liegt es, wenn der Verfügungssatz in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzt, sein Verhalten daran auszurichten. Die Anforderungen an die notwendige Bestimmtheit richten sich im Einzelnen nach den Besonderheiten des jeweils anzuwendenden materiellen Rechts. Der Verfügungssatz, einen Naturalleistungsanspruch auf eine bestimmte Krankenbehandlung (§ 27 SGB V) zu gewähren, verschafft dem Adressaten eine Rechtsgrundlage dafür, mittels Leistungsklage einen Vollstreckungstitel auf das Zuerkannte zu erhalten. Die Vollstreckung erfolgt nach den Regelungen über vertretbare Handlungen (vgl. § 199 Abs. 1 Nr. 1, § 198 Abs. 1 SGG, § 887 ZPO). Es genügt hierfür, dass das Behandlungsziel klar ist. Dass hinsichtlich der Mittel zur Erfüllung der Leistungspflicht verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen, beeinträchtigt den Charakter einer Leistung als vertretbare Handlung nicht. Diese allgemeinen Grundsätze gelten ebenso, wenn Patienten zur Konkretisierung der Behandlungsleistung auf die Beratung des behandelnden Arztes angewiesen sind (BSG, a.a.O., Rn. 20 f. m.w.N.). Der Antrag der Klägerin genügte diesen Anforderungen. Sie hatte dem Antrag den Arztbrief von Dr. W. vom 13.07.2015 beigefügt, in dem die begehrten Operationen näher beschrieben waren.
bb) Der Antrag der Klägerin betraf eine Leistung, die sie für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV lag. Diese Voraussetzung hat das BSG in seinem Urteil vom 08.03.2016 (B 1 KR 25/15 R, Rn. 25-27) aus dem Regelungszusammenhang und -zweck abgeleitet.
(1) Die Klägerin durfte die streitgegenständlichen Operationen für erforderlich halten. Die Genehmigungsfiktion ist auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen beschränkt (BSG, a.a.O., Rn. 26). Dies bedeutet gleichzeitig, dass die objektive Erforderlichkeit im Sinne der §§ 27 Abs. 1 Satz 1, 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V nicht Voraussetzung für den Eintritt der Fiktion ist. Vorliegend konnte sich die Klägerin bei ihrer subjektiven Einschätzung auf den bereits zitierten Arztbrief von Dr. W. vom 13.07.2015 sowie ein Attest von Dr. U. vom 09.06.2014 stützen, die ebenfalls eine operative Entfernung der Fettschürze am Bauch befürworten. Die Klägerin durfte demnach insbesondere davon ausgehen, dass es sich nicht um ästhetische Operationen handelte.
Die Klägerin musste bei ihrer subjektiven Einschätzung nicht berücksichtigen, dass der MDK eine OP-Indikation verneint hat. Denn hiervon hat sie jeweils erst nach Ablauf der nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V maßgeblichen Frist (06.10.2015, s.u.) erfahren. Der Ablauf dieser Frist ist der späteste mögliche Zeitpunkt, auf den bei der Prüfung der Frage, ob die Klägerin die streitgegenständlichen Eingriffe für erforderlich halten durfte, abzustellen ist. Denn mit Ablauf der Frist ist – soweit die übrigen Voraussetzungen vorliegen – die Genehmigungsfiktion eingetreten. Spätere Erkenntnisse der Klägerin bleiben für die maßgebliche subjektive Einschätzung außer Betracht (so bereits das Urteil des Senats vom 12.01.2017, L 4 KR 37/15, Rn. 32).
(2) Die begehrten Operationen liegen auch nicht offensichtlich außerhalb des Leistungsspektrums der gesetzlichen Krankenversicherung. Derartige postbariatrische Operationen können in Einzelfällen bei dermatologischer Indikation zum Leistungsspektrum der GKV gehören (vgl. etwa SG München, Urteil vom 01.09.2016, S 3 KR 381/15 unter Hinweis auf SG Hamburg, Urteil vom 27.03.2015, S 33 KR 1376/12; SG Mannheim, Urteil vom 21.01.2014, S 9 KR 2546/12; SG Wiesbaden, Urteil vom 25.09.2013, S 1 KR 295/10). Auch eine OP-Indikation wegen Entstellung ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Feststellung, dass im Einzelfall ein Versicherter wegen einer körperlichen Anormalität an einer Entstellung leidet, ist in erster Linie Tatfrage (BSG, Urteil vom 08.03.2016, B 1 KR 35/15 R, Rn. 14). Ob eine dieser Indikationen bei der Klägerin tatsächlich bejaht werden kann, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Im Übrigen hat das BSG bereits entschieden, dass eine Hautstraffungsoperation am Bauch nach Gewichtsabnahme einer Genehmigungsfiktion zugänglich ist (Urteil vom 07.11.2017, B 1 KR 24/17 R). Gleiches gilt für Liposuktionen (zuletzt Urteil vom 07.11.2017, B 1 KR 7/17 R).
Schließlich war erkennbar, dass die Klägerin die Erbringung der beantragten Leistung nicht in einer Privat-, sondern in einer Vertragsklinik begehrte. Dr. W. schlägt die Chirurgische Klinik M. vor, die im Krankenhausplan des Freistaats Bayern aufgeführt ist.
cc) Die Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V ist verstrichen, ohne dass die Beklagte über den Antrag vom 01.09.2015 entschieden hätte. Vorliegend stand der Beklagten eine Frist von fünf Wochen ab Antragseingang zur Verfügung, weil sie eine Stellungnahme des MDK für erforderlich hielt und die Klägerin mit Schreiben vom 02.09.2015 darüber unterrichtet hat (§ 13 Abs. 3a Satz 1 und 2 SGB V; BSG, Urteil vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R, Rn. 28).
Die Frist begann am 02.09.2015 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB). Nicht entscheidend ist, ob zu diesem Zeitpunkt die für die Entscheidung erforderlichen Unterlagen vorlagen (siehe Urteil des Senats vom 12.01.2017, L 4 KR 295/14, Rn. 55 ff.).
Die fünfwöchige Frist endete mit Ablauf des 06.10.2015 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB). Eine Fristverlängerung nach § 26 Abs. 3 Satz 1 SGB X kommt nicht in Betracht, weil der 06.10.2015 auf einen Dienstag fiel. Innerhalb der Frist hat die Beklagte nicht über den Antrag der Klägerin entschieden; tatsächlich erging eine Entscheidung erst mit Bescheid vom 24.11.2015.
Die Beklagte hat der Klägerin keinen hinreichenden Grund für die Fristüberschreitung mitgeteilt. § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V bestimmt: „Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit.“ Die Mitteilung mindestens eines hinreichenden Grundes bewirkt für die von der Krankenkasse prognostizierte, taggenau anzugebende Dauer des Bestehens zumindest eines solchen Grundes, dass die Leistung trotz Ablaufs der Frist noch nicht als genehmigt gilt (BSG, a.a.O., Rn. 20). Will die Kasse den Eintritt der Genehmigungsfiktion verhindern, muss sie also nicht nur rechtzeitig – d. h. vor Ablauf der Frist – einen hinreichenden Grund nennen, sondern auch die exakte Dauer seines voraussichtlichen Bestehens. Vor allem aber muss die Krankenkasse ausdrücklich auf die Frist eingehen, deren Einhaltung ihr nicht möglich ist.
Daran fehlt es vorliegend. Die Beklagte hat sich vor Ablauf der Frist am 06.10.2015 lediglich mit dem Schreiben vom 02.09.2015 an die Klägerin gewandt. In diesem Schreiben ist die Beklagte in keiner Weise auf eine Frist und ihre Überschreitung – dementsprechend erst recht nicht auf die prognostizierte Dauer der Überschreitung – eingegangen.
dd) Der Eintritt der Genehmigungsfiktion bewirkt einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung der begehrten Operation als Sachleistung (vgl. dazu im Einzelnen BSG, Urteil vom 11.07.2017, B 1 KR 26/16 R, Rn. 12-13; ebenso bereits die Urteile des Senats vom 12.01.2017, L 4 KR 295/14 und L 4 KR 37/15).
ee) Die Genehmigung der streitgegenständlichen Operationen hat sich auch nicht „auf andere Weise erledigt“ (§ 39 Abs. 2 SGB X). Sind Bestand oder Rechtswirkungen einer Genehmigung für den Adressaten erkennbar von vornherein an den Fortbestand einer bestimmten Situation gebunden, so wird sie gegenstandslos, wenn die betreffende Situation nicht mehr besteht. Umstände, die die Genehmigung entfallen lassen könnten, sind nicht ersichtlich. Die Operationen sind nach den tatsächlichen Verhältnissen nach wie vor durchführbar. Die Leistung ist auch aus rechtlichen Gründen nicht unmöglich geworden.
2. Die (isolierte) Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 24.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2016 ist ebenfalls zulässig und begründet.
Die gegen die Ablehnungsentscheidung neben der allgemeinen Leistungsklage erhobene isolierte Anfechtungsklage ist zulässig. Die Beklagte setzte mit ihrer Leistungsablehnung nicht das mit Eintritt der Genehmigungsfiktion beendete, ursprüngliche Verwaltungsverfahren fort, sondern eröffnete ein neues, eigenständiges Verfahren (BSG, Urteil vom 07.11.2017, B 1 KR 24/17 R, Rn. 11 m.w.N.). Die Klage ist auch begründet, denn die Ablehnungsentscheidung verletzt die Klägerin in ihrem sich aus der fiktiven Genehmigung ihres Antrags ergebenden Leistungsanspruch (siehe Nr. 1).
3. Der Rücknahmebescheid (Ziffer I. des Bescheides vom 21.06.2017) war aufzuheben.
a) Das LSG muss auf Klage über die Rücknahme der fingierten Genehmigung entscheiden. Sie ist zum Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden (§ 96 Abs. 1 SGG i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG). Danach wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Die Rücknahme der fingierten Genehmigung änderte in diesem Sinne die Ablehnungsentscheidung. Ein späterer Verwaltungsakt ändert oder ersetzt dann einen früheren, angefochtenen, wenn er den Verfügungssatz des Ursprungsbescheides ersetzt, abändert oder unter Aufrechterhaltung des Rechtsfolgenausspruchs dessen Begründung so modifiziert, dass sich der entscheidungserhebliche Sachverhalt ändert. Es genügt auch, wenn der spätere in die Regelung des früheren Verwaltungsakts eingreift und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert. Dies dient dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (Art. 19 Abs. 4 GG). Es harmoniert mit dem maßgeblichen zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff. Dementsprechend bezieht überzeugend auch die Rechtsprechung des BSG Verwaltungsentscheidungen in das Gerichtsverfahren ein, mit denen ein Versicherungsträger es während eines Gerichtsverfahrens ablehnt, hinsichtlich des gerichtlichen Streitgegenstands nach § 44 SGB X tätig zu werden oder einer Änderung Rechnung zu tragen. Dies bezweckt zu vermeiden, dass – durch welcher Art Vorgehen auch immer – über denselben Streitgegenstand mehrere gerichtliche Verfahren nebeneinander geführt werden. Es entspricht auch dem Regelungszweck, den Streitstoff konzentriert im Interesse umfassender beschleunigter Erledigung einer einheitlichen und nicht mehreren, sich denkmöglich widersprechenden Entscheidungen zuzuführen, indem ein Zweit- oder Drittprozess ausgeschlossen wird. Geeigneter Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit der Regelung des § 96 Abs. 1 SGG ist nur die isolierte Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung. Die Klägerin greift gerade nicht den fingierten Verwaltungsakt an, sondern stützt ihre allgemeine Leistungsklage auf ihn (BSG, a.a.O., Rn. 12 m.w.N.).
Voraussetzung für die Aufhebung des Rücknahmebescheides vom 21.06.2017 ist also die Erhebung einer Anfechtungsklage. Eine solche hat der Kl.-Bev. bereits mit Schriftsatz vom 16.02.2016 fristgerecht erhoben. Einer weiteren Anfechtungsklage gegen den Rücknahmebescheid vom 21.06.2017 bedarf es nach der zitierten Rechtsprechung nicht. Ein Widerspruch bzw. eine weitere Klage gegen diesen Bescheid ist vielmehr wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig.
b) Die Rücknahme der Genehmigung ist aufzuheben, denn sie ist rechtswidrig. Sie verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf Versorgung mit den streitgegenständlichen Eingriffen.
Der Senat schließt sich insoweit der Rechtsauffassung des 1. Senats des BSG in seinem Urteil vom 07.11.2017 (B 1 KR 24/17 R, Rn. 37-46) an. Die dortigen Ausführungen, auf die der Senat ausdrücklich Bezug nimmt, sind auf den vorliegenden Fall übertragbar. Die vom 3. Senat des BSG in seinem Urteil vom 11.05.2017 (B 3 KR 30/15 R, Rn. 50 ff.) dargestellte abweichende Rechtsauffassung, der noch keine abschließende Überzeugungsbildung des 3. Senats zu Grunde liegt (a.a.O., Rn. 52), teilt der Senat dagegen nicht. Ausschlaggebend hierfür ist, dass nach der vom 1. BSG-Senat vertretenen Rechtsauffassung die Gleichbehandlung von Versicherten, die eine fiktiv bewilligte Leistung nicht vorfinanzieren können, mit finanziell besser gestellten Versicherten gewährleistet wird (so bereits das Urteil des Senats vom 22.02.2018, L 4 KR 526/16).
Anhaltspunkte dafür, dass Ziffer I. des Bescheides vom 21.06.2017 auf eine andere Rechtsgrundlage (etwa § 48 SGB X) gestützt werden könnte, sind nicht ersichtlich.
c) Auch der nochmalige Ablehnungsbescheid (Ziffer II. des Bescheides vom 21.06.2017) ist nach § 96 Abs. 1 SGG i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG zum Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Er ist aufzuheben, weil er die Klägerin in ihrem sich aus der fiktiven Genehmigung ihres Antrags ergebenden Leistungsanspruch verletzt.
Die Berufung der Beklagten war damit insgesamt zurückzuweisen. Lediglich der Tenor des erstinstanzlichen Urteils war klarstellend dahingehend zu ändern, dass die Wörter „Extension des alten Nabels“ durch die Wörter „Exzision der alten Narbe“ ersetzt werden. Dies entspricht dem Wortlaut des Arztbriefs von Dr. W. vom 13.07.2015, der den Inhalt des Antrags vom 01.09.2015 und damit auch der Fiktivgenehmigung prägt, und erscheint medizinisch gemeint.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Insbesondere liegt keine Divergenz zum Urteil des BSG vom 11.05.2017 (B 3 KR 30/15 R, Rn. 50 ff.) vor, weil es sich bei den dortigen Ausführungen nicht um einen die Entscheidung tragenden Rechtssatz, sondern um ein obiter dictum handelt (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 160 Rn. 13), dem noch keine abschließende Überzeugungsbildung des 3. BSG-Senats zu Grunde liegt (BSG, a.a.O., Rn. 52).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel