Aktenzeichen S 17 R 1267/17
SGB IX § 4, § 33, § 49
SGB VI § 9, § 10, § 16
Leitsatz
1. Beruht ein Anspruch auf Teilhabeleistungen zum Arbeitsleben ganz oder teilweise auf einer Gefährdung der Erwerbsfähigkeit durch eine seelische Erkrankung oder psychische Minderbelastbarkeit, kann zwar grundsätzlich ein gesundheitliches Leistungsbild anzunehmen sein, welches gegen eine berufliche Umorientierung in pädagogische oder therapeutische Tätigkeiten spricht. (Rn. 53)
2. Ergeben sich jedoch im Einzelfall Hinweise darauf, dass eine seelische Krise auf arbeitsplatzbezogenen Umständen (z.B. Mobbing) oder Belastungsfaktoren (z.B. Schichtarbeit) – gründet und diese Faktoren nicht zwingend mit der angestrebten Tätigkeit verbunden sind, kann neben der sozialmedizinischen gutachterlichen Beurteilung der medizinischen Situation eine genauere einzelfallbezogene Eignungstestung und Belastungserprobung geboten sein, um bei der Auswahl der Teilhabeleistung Eignung und Neigung des Leistungsberechtigten gerecht zu werden. (Rn. 54)
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18.08.2017 sowie des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2017 verurteilt, den Antrag des Klägers auf Teilhabe unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu verbescheiden.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers
Gründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Streitgegenstand ist die Ausgangsentscheidung vom 02.05.2017 mit ablehnender Überprüfungsentscheidung vom 18.08.2017, in welcher die Beklagte beantragte Leistungen zur Weiterbildung zum Therapeutischen Seelsorger abgelehnt hat.
Die Klage mit dem Antrag auf Neuverbescheidung ist auch begründet, weil die ablehnende Entscheidung vom 02.05.2017 wegen eines Ermessensfehlgebrauchs ermessensfehlerhaft war und damit auch zugleich das Recht unrichtig angewandt wurde im Sinne des § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, 10. Buch (SGB X). Das der Entscheidung zugrunde gelegte Leistungsbild des Klägers wurde nämlich nicht pflichtgemäß ermittelt.
Nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch, 6. Buch (SGB VI) können Versicherte unter weiteren Voraussetzungen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten, wenn ihre Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist.
Die Beklagte erbringt gemäß § 16 SGB VI in der anzuwendenden, bis 31.12.2017 geltenden Fassung die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den §§ 33 ff alte Fassung SGB IX (jetzt: §§ 49 ff SGB IX; sämtliche Vorschriften des SGB IX werden nachfolgend in der anzuwendenden alten Fassung zitiert).
Zur Teilhabe am Arbeitsleben werden die erforderlichen Leistungen erbracht, um die Erwerbsfähigkeit behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern (§ 33 Abs. 1 SGB IX). Die Leistungen umfassen insbesondere auch berufliche Anpassung und Weiterbildung (§ 33 Abs. 3 Nr. 3 SG IX) sowie berufliche Ausbildung, auch soweit die Leistungen in einem zeitlich nicht überwiegenden Abschnitt schulisch durchgeführt werden (§ 33 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX).
Bei der Auswahl der Leistungen werden Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen berücksichtigt (§ 33 Abs. 4 Satz 1 SGB IX). Ziel ist die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit behinderter Menschen und die Sicherung ihrer Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer (§ 33 Abs. 1 SGB IX, §§ 4 Abs. 1 Nr. 3, 10 Abs. 1 Satz 2 SGB IX).
Kommen nach den oben dargelegten Grundsätzen bei Vorliegen der Voraussetzungen für einen Anspruch des Versicherten auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach verschiedene Maßnahmen in Betracht, die gleichermaßen geeignet sind, die Teilhabe des Versicherten am Arbeitsleben zu sichern, hat der Reha-Träger ein Auswahlermessen, welche Maßnahme er gewähren will (vgl. BSG vom 17.10.2006, B 5 RJ 15/05 R, Rdnr. 42). Dieses Auswahlermessen muss i.S. von § 39 Abs. 1 S.2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) pflichtgemäß ausgeübt werden.
Neben der im Vordergrund stehenden Orientierung der Maßnahme am Gesetzeszweck der dauerhaften beruflichen Eingliederung soll zugleich bei der Entscheidung über das „Wie“ der Leistungen zur Teilhabe berechtigten Wünschen des Leistungsberechtigten entsprochen werden und dabei auch auf Anknüpfungspunkte wie die persönliche Lebenssituation, das Alter oder auch die religiösen oder weltanschaulichen Bedürfnisse des Leistungsberechtigten Rücksicht genommen werden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) .
Die besondere Bedeutung des Berufswunsches bei der Auswahl der Rehabilitationsmaßnahme kann also insbesondere dann zum Tragen kommen, wenn der behinderte Mensch einen die Eingliederung gewährleistenden Beruf wählt, für den er uneingeschränkt geeignet ist (vgl. BSG, Urteil vom 18.05.2000, B 11 AL 107/99, Rdnr. 15 m.w. Nw.).
Nach diesen Grundsätzen sind von der Beklagten geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erbringen, welche diese im eigenen pflichtgemäßen Ermessen unter Berücksichtigung von Eignung und Neigung und unter Berücksichtigung der Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit auszuwählen hat. Dabei ist unter Berücksichtigung von Anknüpfungspunkten wie persönlicher Lebenssituation oder Alter berechtigten Wünschen des Leistungsberechtigten zu entsprechen.
Die Beklagte ist vorliegend zumindest formal im Außenverhältnis zum Kläger zuständiger Reha-Träger nach § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX, nachdem sie innerhalb von zwei Wochen, nachdem das Reha-Begehren deutlich wurde, den Antrag nicht weitergeleitet hat; soweit eine nachzuholende pflichtgemäße Ermittlungen des Leistungsbildes ergäbe, dass die weitere Ausübung des bisherigen Berufes als Kranken- und Gesundheitspfleger allein oder ganz vordringlich wegen einer beruflich bedingten Hauterkrankung nicht möglich war, käme im Innenverhältnis der Träger letztlich auch eine Zuständigkeit der anderweitig befassten BGW nach den Vorschriften des siebten Buches Sozialgesetzbuch, SGB VII, in Betracht.
Zu Recht hat die Beklagte mit dem ursprünglichen, nicht streitgegenständlichen Bescheid vom 12.11.2015 dem Grunde nach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt.
Unzweifelhaft war die Erwerbsfähigkeit des Klägers im Beruf als Gesundheits- und Krankheitspfleger bereits alleine aufgrund der unstreitig bestehenden chronischen Hauterkrankungen zumindest gefährdet, hinzukommt eine unabhängig von ihrer Genese beachtliche in allen ärztlichen Befunden erweisliche Störung des Tag- / Nacht-Rhythmus, welche die im zuletzt ausgeübten Beruf regelhaft erwartete Leistung von Schichtdiensten unzumutbar erscheinen lässt. Eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit im Beruf als Gesundheitsund Krankenpfleger wurde auch von der Beklagten nicht bezweifelt.
Uneinigkeit besteht vorliegend darin, ob die vom Kläger begehrte Weiterbildung in einem pädagogisch-therapeutischen Beruf (hier: Seelsorger) geeignet ist, um die Teilhabe des Klägers am Arbeitsleben dauerhaft zu sichern.
Aus den aktenkundigen Stellungnahmen des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten ergibt sich die Grundhaltung, dass eine durch psychische Störungen zumindest mitbedingte Berufsaufgabe jedwede Tätigkeit mit pädagogischen oder therapeutischen Elementen dauerhaft als geeignete Umschulungstätigkeit ausschließt.
Eine allgemeine Zurückhaltung bei der Förderung einer Tätigkeit im pädagogischen oder therapeutischen Bereich ist dabei nicht zu beanstanden, wenn geklärt ist, dass der bisherige Beruf tatsächlich wegen Funktionsstörungen im nervenärztlichen Bereich aufgegeben werden musste und zu erwarten ist, dass eine dauerhafte gesundheitliche Einschränkung – beispielsweise eine dauerhafte psychische Minderbelastbarkeit – vorliegt.
Ergeben allerdings die Einzelfallumstände Hinweise darauf, dass für die Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit im bisherigen Beruf andere gesundheitliche Einschränkungen vordringlich verantwortlich sind und dass eine daneben begleitende nervlich-seelische Funktionsstörung vorübergehend war und bereits überwunden ist, so ist auch eine einzelfallbezogene Prüfung des Leistungsbildes erforderlich, um bei der Auswahl der zu erbringenden Teilhabeleistung das Ermessen richtig ausüben zu können.
Aus den im zeitlichen Zusammenhand mit der erstmaligen Beantragung von Teilhabeleistungen zum Arbeitsleben vorgelegten ärztlichen Berichten des Hautarztes Dr. H. und Dr. K. ergibt sich, dass die bisherige Tätigkeit als Krankenpfleger durch das chronisch-rezidivierende Hautekzeme massiv beeinträchtigt wurde; außerdem berichtet wurde über Schlafstörungen und eine psychosoziale Konfliktsituation. Im Einklang damit hatte Dr. M. in seinem Bericht vom Oktober 2015 eine Mobbingsituation am Arbeitsplatz bei der Klinik W. als vermutete Ursache für eine durch Psychotherapie ab 2012-2015 behandelten Anpassungsstörung mit Erschöpfung und depressiver Verstimmung sowie Schlaflosigkeit beschrieben. Dabei bestand insbesondere hoher Leidensdruck aufgrund von Schlafstörungen mit gestörtem Tag/Nacht-Rhythmus, welche durch den massiven Schichtdienst befördert wurden.
Die Beklagte ging nachfolgend in ihrer Leistungseinschätzung vom 01.03.2016 von einer fehlenden Eignung für pädagogisch/therapeutische Tätigkeiten aus, ohne diese Einschätzung im Anschluss hieran während des langanhaltenden Verwaltungsverfahrens einer näheren Überprüfung zum Beispiel durch eine Maßnahme zur Belastungs- und Eignungserprobung zu unterziehen.
Diese die gesundheitliche Eignung weiter aufklärenden Maßnahmen hätten sich angesichts der vorgelegten positiven Eignungsmessung des Landratsamts Oberallgäu vom 21.08.2015, dem Ergebnis der ärztlichen Begutachtung des Dr. W. vom 30.06.2016 und der positiven Berichte des Klinikum K. über die absolvierte Praktikumszeit als Seelsorger durchaus aufgedrängt.
Dabei erscheint es insbesondere unverständlich, weshalb das von der Beklagten selbst in Auftrag gegebene Gutachten des Dr. W. mit dem Ergebnis der Geeignetheit der angestrebten Förderung und der Empfehlung einer den Wünschen des Klägers entsprechenden Teilhabemaßnahme letztlich nicht weiter aufgegriffen wurde. Soweit die Beklagte Zweifel an der Richtigkeit der Beurteilung des Sachverständigen hatte, hätte Anlass bestanden, dem Leistungsberechtigten eine Maßnahme zur Berufsfindung und Arbeitserprobung konkret anzubieten, um hinsichtlich des bestehenden gesundheitlichen Eignungsbildes bessere Erkenntnisse zu erlangen.
Das Gericht verkennt nicht, dass die Kosten der ersten Ausbildungsstufe zum Begleitenden Seelsorger, welche der Kläger vom Oktober 2015 bis Juli 2016 absolviert hat, als selbstbeschaffte Maßnahme vor der behördlichen Entscheidung über den Antrag vom 04. 08.2015 nach § 15 SGB IX grundsätzlich ohne die zusätzlichen Voraussetzungen der Unaufschiebbarkeit des Maßnahmeantritts gem. § 15 Abs. 1 SGB IX nicht zu erstatten sind.
Unmittelbarer Streitgegenstand ist jedoch vorliegend nicht die Verwaltungsentscheidung vom 01.03.2016 mit sinngemäßer Ablehnung der Förderung der Ausbildung zum Begleitenden Seelsorger, sondern die erstmalig am 02.05.2017 abgelehnte Weiterbildungsmaßnahme zum Therapeutischen Seelsorger. Der Kläger hatte insoweit mit Schriftsatz vom 25.04.2017 einen eigenständigen Antrag zur Förderung zur der Weiterbildung zum therapeutischen Seelsorger gestellt. Dabei hat der Kläger auch fortgesetzt auf eine erforderliche individuelle Überprüfung seines Leistungsbildes hingewiesen und hat nach den vorliegenden Schriftsätzen durchaus deutlich gemacht, dass er trotz seiner eigenen klaren beruflichen Vorstellungen grundsätzlich bereit wäre, an Alternativangeboten, auch an vorbereitenden eignungsklärenden Maßnahmen mitzuwirken. Diese grundsätzlich vorhandene Bereitschaft zur Flexibilität hat der Kläger auch trotz seiner beharrlichen Versuche, in der Weiterbildung für eine seelsorgerische Tätigkeit Unterstützung zu finden, durch seine zuletzt angestrengten Versuche einer Tätigkeit als Berufsbetreuer unter Beweis gestellt.
Vorliegend durfte die Beklagte letztlich angesichts der vorstehend dargelegten Einzelfallumstände nicht allein vom Grundsatz ausgehen, dass eine durch eine festgestellte psychische Komorbidität mitbedingte Gefährdung der Erwerbsfähigkeit im bisherigen Beruf dauerhaft belegt, dass jedwede pädagogische oder therapeutische Tätigkeit für den Kläger nicht geeignet ist.
Das nunmehr am 03.08.2018 abgegebene Angebot insbesondere auch für die Durchführung einer erweiterten Arbeitserprobung und Berufsfindung ist letztlich zu begrüßen, vermag aber die Ermessensfehlerhaftigkeit der streitgegenständlichen Entscheidung vom 02.05.2017 nicht mehr zu beseitigen; die fehlende ermessensfehlerfreie Entscheidung spricht dabei einer falschen Anwendung des Rechts, so dass sich auch der Überprüfungsbescheid vom 18.08.2017 mit Widerspruchsbescheid vom 25.10.2017 als rechtswidrig erweist.
Eine Neuentscheidung unter Anwendung pflichtgemäßen Ermessens ist auch nicht obsolet, weil die gewünschte Weiterbildungsmaßnahme bereits aus arbeitsmarktpolitischen Erwägungen als ungeeignet ausscheidet. Dabei wurde die Ablehnung durch die Beklagte der Förderung der Weiterbildung zum Therapeutischen Seelsorger zuletzt allein auf eine fehlende gesundheitliche Eignung gestützt. Soweit im Bescheid vom 02.05.2017 arbeitsmarktpolitische Bedenken anklingen, erscheinen diese nicht stichhaltig. So bieten insbesondere kirchliche Träger seelsorgerische Tätigkeiten mit existenzsichernden Erwerbseinkünften bei abgeschlossener Weiterbildung zum Beratenden oder Therapeutischen Seelsorger auch ohne ein abgeschlossenes theologisches Studium in Bereichen wie der Klinikseelsorge, als Gemeindepädagoge oder auch als pastoraler Mitarbeiter an.
Die Beklagte war daher zu verpflichten, die beantragte Förderung der Weiterbildung zum Therapeutischen Seelsorger neu zu verbescheiden. Neben der erforderlichen individuellen Prüfung des aktuellen Leistungsbildes des Klägers wird die Beklagte bei ihrer Entscheidung im Falle eines positiven Leistungsbildes für eine qualifizierende Maßnahme auch zu berücksichtigen haben, dass der Kläger in Ermangelung einer geeigneten sachgerechten Entscheidung bereits erhebliche zeitliche und finanzielle Investitionen in die künftige berufliche Tätigkeit im Bereich der Seelsorge getätigt hat, was bei einer zeitnahen tragfähigen negativen Entscheidung möglicherweise entbehrlich gewesen wäre; außerdem ist zu berücksichtigen, dass angesichts der Berufsausbildung des Klägers dem Grunde nach durchaus qualifizierende Maßnahmen in Betracht kommen und im Falle eines positiven Leistungsbildes letztlich hinsichtlich der Auswahl der angemessenen Teilhabeleistung auf den Zeitpunkt einer erstmals möglichen günstigen Entscheidung abzustellen wäre.
Eine Ermessensreduzierung auf null für die Bewilligung der begehrten Weiterbildung zum therapeutischen Seelsorger lässt sich vorliegend angesichts der fehlenden geeigneten Prüfung des Leistungsbildes derzeit nicht begründen. Die Beklagte hätte jedoch bei Feststellung eines geeigneten Leistungsbildes zu prüfen, ob sich das Auswahlermessen vorliegend auf die vom Versicherten gewählte und begonnene Maßnahme verengt (vergleiche hierzu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.07.2014, Az. L 11 R 2652/13, Rn. 33 nach Juris)
Nachdem der Klage stattzugeben war, hat die Beklagte auch gemäß § 193 SGG die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.