Medizinrecht

Gutachtenanordnung wegen Verdachts auf fehlende geistige Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wegen krankhafter seelischer Störung

Aktenzeichen  11 ZB 17.1131

Datum:
3.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 121524
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 8, § 46 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Ergibt sich aus einem Gutachten aus dem Jahr 2004 und einer nervenärztlichen Stellungnahme aus dem Jahr 2011, dass beim Fahrerlaubnisinhaber damals das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung für hinreichend sicher angesehen worden ist und verstärken seitdem aufgetretene Verhaltensweisen (wie zB Beleidigungen, Beschimpfungen, Belästigungen und Nachstellungen) die Bedenken, dass er weiterhin unter Störungen leiden könnte, die sein Realitätsurteil erheblich beeinträchtigen, ist die Anordnung eines Fahreignungsgutachtens gerechtfertigt. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 7 K 16.1188 2017-04-21 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Berufungszulassungsverfahren wird auf 15.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 3 (alt, Klasse 1 erteilt am 13.6.1978, erweitert auf Klasse 3 wohl am 30.11.1978).
Mit Schreiben vom 20. April 2015 teilte die Polizeiinspektion Gersthofen dem Landratsamt Augsburg (im Folgenden: Landratsamt) mit, beim Kläger bestehe der Verdacht auf fehlende körperliche oder geistige Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Er überziehe seine Umgebung mit einer Art Psychoterror. Es würden verschiedene Anzeigen gegen ihn vorliegen. In diesem Zusammenhang habe er diverse SMS-Nachrichten mit völlig wirrem Inhalt versandt.
Den vom Landratsamt angeforderten Strafakten, insbesondere einem Ermittlungsvermerk vom 20. April 2015 lässt sich entnehmen, dass der Kläger im Verdacht stand, seiner früheren Lebensgefährtin nachzustellen und sowohl sie als auch deren früheren Freund massiv beleidigt und belästigt zu haben.
Verschiedene Strafverfahren wegen Erpressung, Bedrohung, Nötigung und fahrlässiger Körperverletzung stellte die Staatsanwaltschaft Augsburg in den Jahren 2010 bis 2014 nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Das Amtsgericht Augsburg verurteilte den Kläger am 2. November 2011 wegen Beleidigung, erließ am 7. März 2013 einen Strafbefehl wegen Nötigung und am 19. Januar 2015 einen Strafbefehl wegen Beleidigung. Das Amtsgerichts Augsburg stellte am 17. Dezember 2015 das Verfahren wegen Beleidigung zu Lasten des früheren Freunds der früheren Lebensgefährtin des Klägers ein, da der Geschädigte seinen Strafantrag zurückgenommen hatte.
Der Strafakte hinsichtlich der angeblichen Erpressung liegen eine forensisch-psychiatrische Stellungnahme des Nervenarztes Dr. R. G* … vom 9. September 2011 zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und ein forensisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. R. G* … als Landgerichtsarzt beim Landgericht Augsburg aus dem Jahr 2004 bei, das in einem zivilrechtlichen Rechtsstreit des Klägers zur Frage der Prozessfähigkeit angefertigt wurde. Aus dem Gutachten ergibt sich, dass bei dem Kläger der Verdacht auf eine schizophrene Störung vorlag. Eine weitere Aufklärung des Krankheitsbildes sei mangels Zugang zum Probanden nicht möglich gewesen. Der Kläger gehe aber von Voraussetzungen, Zusammenhängen und Konsequenzen aus, die nicht dem allgemeinen Realitätskonsens entsprechen würden. Dies würde im psychiatrischen Bezugssystem als Wahn gewertet. Die Stellungnahme vom 9. September 2011 nimmt auf das Gutachten Bezug. Der Gutachter hält eine krankhafte seelische Störung für ausreichend gesichert. Es seien kognitive Beeinträchtigungen und ein gestörter Realitätsbezug zu erkennen. Aus psychiatrischer Sicht sei eine erhebliche Minderung der Steuerungsfähigkeit anzunehmen, eine Aufhebung letztlich nicht auszuschließen. Das Strafverfahren wegen Erpressung wurde auf Grundlage dieser Stellungnahme wegen Schuldunfähigkeit des Klägers gemäß § 20 StGB nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
Da der Kläger einer Aufforderung zur Vorsprache nicht nachkam, forderte das Landratsamt ihn mit Schreiben vom 25. Juli 2015 nach § 11 Abs. 2 FeV zur Vorlage eines ärztlichen Gutachtens bis spätestens 23. September 2015 auf. Es sei u.a. zu klären, ob bei ihm eine Erkrankung nach Nr. 7 der Anlage 4 vorliege und ob er ggf. gleichwohl in der Lage sei, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden.
Da der Kläger kein ärztliches Gutachten vorlegte, entzog ihm das Landratsamt mit Bescheid vom 28. Oktober 2015 die Fahrerlaubnis und ordnete die unverzügliche Vorlage des Führerscheins an. Nach § 11 Abs. 8 FeV sei auf die Ungeeignetheit des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen.
Die Regierung von Schwaben wies den dagegen erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2016 zurück, nachdem der Kläger sich zwar zu einer Begutachtung im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren bereit erklärt hatte, dort aber nicht vorstellig wurde. Das Landratsamt hatte mit Schreiben vom 12. Januar 2016 und 10. Februar 2016 seine Ausführungen ergänzt.
Die gegen den Bescheid vom 28. Oktober 2015 und den Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2016 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Augsburg abgewiesen. Das Landratsamt habe zu Recht ein ärztliches Gutachten angefordert, da bei einer Gesamtbetrachtung aller insoweit erheblichen Umstände viel für den Verdacht spreche, beim Kläger könne eine psychische Störung nach Nr. 7 der Anlage 4 vorliegen. Auch sein Eindruck in der mündlichen Verhandlung, wo er ausschweifende Ausführungen zu politischen und wirtschaftlichen Fragestellungen gemacht habe, die mit dem Streitgegenstand nicht in Zusammenhang gestanden hätten, weise auf eine psychische Erkrankung hin.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem der Beklagte entgegentritt. Der Kläger macht geltend, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Der Verdacht der fehlenden Eignung des Klägers könne nicht auf ein Gutachten aus dem Jahr 2004 gestützt werden, mit dem nur eine Verdachtsdiagnose gestellt worden sei. Nach Nr. 7.6 der Anlage 4 müsse unterschieden werden, ob eine schizophrene Psychose akut sei oder nicht. Weitschweifige Ausführungen in der mündlichen Verhandlung seien kein Anhaltspunkt für eine akute schizophrene Psychose.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit liegen vor, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – NVwZ 2016, 1243 Rn. 16). Das ist vorliegend nicht der Fall.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Mai 2016 (BGBl I S.1217), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2015 (BGBl I S. 1674), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV, der nach § 46 Abs. 3 FeV auch im Entziehungsverfahren entsprechend Anwendung findet, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Bewerber anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen.
Nach Nr. 7.6.1 der Anlage 4 zur FeV ist nicht geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wer unter einer akuten schizophrenen Psychose leidet. Nach Nr. 7.6.2 der Anlage 4 ist nach Ablauf einer akuten schizophrenen Psychose Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 wieder zu bejahen, wenn keine Störungen nachweisbar sind, die das Realitätsurteil erheblich beeinträchtigten. Für Fahrzeuge der Gruppe 2 ist Fahreignung nur ausnahmsweise unter besonders günstigen Umständen zu bejahen.
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist aber nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – NJW 2002, 78). Das war hier der Fall.
2. Die auf § 11 Abs. 2 FeV i.V.m. Nr. 7 der Anlage 4 gestützte Gutachtensanordnung vom 25. Juli 2015 war rechtmäßig und leidet weder an formellen noch an materiellen Fehlern. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 11 Abs. 2 FeV waren erfüllt, da hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen einer psychischen Erkrankung, die die Fahreignung ausschließen kann, vorlagen. Zwar trifft es zu, dass dem zum Zeitpunkt der Gutachtensanordnung bekannten Sachverhalt keine ausreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen einer akuten schizophrenen Psychose nach Nr. 7.6.1 der Anlage 4 zu entnehmen sind. Denn aus dem im Jahr 2004 erstellten Gutachten sowie der Stellungnahme zur Schuldfähigkeit aus dem Jahr 2011 kann nach dem Zeitablauf von mehreren Jahren nicht auf einen akuten Krankheitszustand geschlossen werden.
Das Landratsamt hat die Anordnung aber auch nicht speziell auf Nr. 7.6.1 der Anlage 4, sondern allgemein auf Nr. 7 der Anlage 4 gestützt. Es lagen jedenfalls hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass beim Kläger gemäß Nr. 7.6.2 der Anlage 4 nach Ablauf einer akuten schizophrenen Psychose weiterhin Störungen vorhanden sein könnten, die das Realitätsurteil erheblich beeinträchtigen. Nach Nr. 3.12.5 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach, gültig ab 1.5.2014, Stand 28.12.2016, S. 77) können solche Störungen z.B. bei Wahn, Halluzination oder einer schweren kognitiven Störung angenommen werden.
Aus dem Gutachten aus dem Jahr 2004 und der nervenärztlichen Stellungnahme aus dem Jahr 2011 ergibt sich, dass beim Kläger damals das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung für hinreichend sicher angesehen worden ist. Zudem stellte der Gutachter 2011 fest, dass weiterhin eine kognitive Beeinträchtigung und ein gestörter Realitätsbezug zu erkennen seien. Dies deutet auf eine Erkrankung nach Nr. 7.6.2 der Anlage 4 hin. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers seitdem erheblich gebessert hat. Die seit 2011 zur Anzeige gebrachten und teilweise abgeurteilten Verhaltensweisen des Klägers, insbesondere die Umstände, die zur Verurteilung vom 19. Januar 2015 wegen Beleidigung führten und die Umstände, die dem Ermittlungsvermerk vom 20. April 2015 zugrunde lagen, lassen nicht auf eine Besserung der Beeinträchtigungen schließen, sondern bestärken die Bedenken, dass er weiterhin gemäß Nr. 7.6.2 der Anlage 4 unter Störungen leiden könnte, die sein Realitätsurteil erheblich beeinträchtigen. Insbesondere die in den Aussagen des Zeugen Dr. H* … vom 5. April 2015 und der Zeugin S* … vom 15. April 2015 angegebenen Belästigungen (zahllose Anrufe und ausschweifende Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, Beschimpfungen und weitere Nachstellungen) zum Nachteil seiner früheren Lebensgefährtin und deren früherem Freund weisen darauf hin, dass der Kläger unter Wahnvorstellungen oder schweren kognitiven Störungen leiden könnte.
Soweit der Kläger geltend macht, das Verwaltungsgericht sei auf der Grundlage der Begutachtung von 2011 davon ausgegangen, dass eine schizophrene Psychose vorliege – was aber nicht zutreffe – kann dies seinem Antrag nicht zum Erfolg verhelfen. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Stellungnahme vom 9. September 2011 auf eine schizophrene Psychose im Sinne der Nr. 7.6 der Anlage 4 hinweist und durch das angeordnete Gutachten aufgeklärt werden sollte, ob dies tatsächlich der Fall ist.
3. Als unterlegener Rechtsmittelführer hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO).
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 2 des Gerichtskostengesetzes i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, Anh. § 164 Rn. 14).
5. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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