Medizinrecht

Höhe des Arbeitslosengeldes einer zuvor Selbständigen (fiktive Bemessung)

Aktenzeichen  L 10 AL 74/16

Datum:
22.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 115777
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 3 Abs. 1
SGB III § 28a, § 150 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, § 152 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

Die Zugrundelegung eines fiktiven Bemessungsentgelts unter Berücksichtigung der Qualifikationsgruppen des § 152 Abs. 2 SGB III bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes bei Selbständigen verstößt nicht gegen Verfassungsrecht. Die für die Zeiträume der freiwilligen Weiterversicherung nach § 28a SGB III pauschal geleisteten Beiträge sind dabei unerheblich.

Verfahrensgang

S 7 AL 228/15 2016-03-04 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 04.03.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 12.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Streitgegenstand ist die Höhe des der Klägerin gewährten Alg für die Zeit ab 01.06.2015. Diese hat die Beklagte im Bescheid vom 12.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2015 festgesetzt. Dagegen wendet sich die Klägerin zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG), in die der Klageantrag auszulegen war.
Der Klägerin, die unstreitig die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg dem Grunde nach erfüllt (§ 137 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – SGB III), steht kein höherer Anspruch zu.
Da der Bemessungszeitraum innerhalb des auf zwei Jahre zu erweiternden Bemessungsrahmens (01.06.2013 bis 31.05.2015 – § 150 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III) im Hinblick auf die selbständige Tätigkeit der Klägerin nicht mindestens 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung – die Klägerin war in dem gesamten Zeitraum nicht unselbständig beschäftigt, sondern als Selbständige freiwillig weiterversichert – enthielt, war der Bemessung des Alg nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB III ein fiktives Bemessungsentgelt zugrunde zu legen. Nach § 152 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III berechnet sich dieses unter Zugrundelegung eines Arbeitsentgelts in Höhe von 1/450 der Bezugsgröße. Die Klägerin war im Hinblick auf die von der Beklagten anzustellende Arbeitsvermittlung unstreitig der Qualifikationsgruppe 3 zuzuordnen, da sie für eine Tätigkeit als Lager- und Transportarbeiterin geeignet ist, wofür eine Ausbildung erforderlich ist. Da es alleine auf die zu vermittelnden Stellen ankommt, spielt es keine Rolle, ob die Klägerin tatsächlich eine Ausbildung hat. Die Zuordnung in eine höhere Qualifikationsgruppe macht die Klägerin im Übrigen ebenso wenig geltend, wie die Erzielung eines die Werte dieser Qualifikationsgruppe übersteigenden Einkommens. Die Bezugsgröße im Sinne des § 18 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) betrug im Jahr 2015 jährlich 34.020 EUR (vgl § 2 Abs. 1 der Verordnung über maßgebende Rechengrößen der Sozialversicherung für 2015 vom 01.12.2014 – BGBl I 1957). 1/450 hiervon ergibt das Bemessungsentgelt von 75,60 EUR.
Für das Leistungsentgelt nach § 153 Abs. 1 SGB III ist vom Bemessungsentgelt die Sozialversicherungspauschale iHv 21% des Bemessungsentgelts, die Lohnsteuer – vorliegend unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse 1 – und der Solidaritätszuschlag in Abzug zu bringen. Insofern hat die Beklagte zutreffend ein tägliches Leistungsentgelt iHv 50,03 EUR ermittelt. Da die Klägerin kinderlos war, beträgt das Alg nach § 149 Nr. 2 SGB III 60% des Leistungsentgelts, so dass sich ein täglicher Zahlbetrag iHv 30,02 EUR ergibt.
Ein Bemessungsentgelt iHv 91,86 EUR war der Berechnung des Alg-Anspruchs dagegen nicht zugrunde zu legen. Eine gesetzliche Grundlage für die Berücksichtigung der Bezugsgröße, nach der sich die Beitragshöhe der freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung berechnet hat, ist nicht gegeben. Die oben dargestellte fiktive Berechnung des Alg der Klägerin unter Berücksichtigung der Qualifikationsgruppe 3 ist vorliegend nicht verfassungswidrig. Der Senat sieht insofern von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und folgt den Ausführungen des SG (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist folgendes auszuführen:
Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG durch die Bemessung des Alg der Klägerin kann nicht erkannt werden. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, so dass eine Verletzung dieses Grundsatzes jedenfalls dann gegeben ist, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder ein sonst sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt (vgl nur BVerfG, Urteil vom 23.10.1951 – 2 BvG 1/51 – BVerfGE 1, 14; Beschluss vom 18.07.2005 – 2 BvF 2/01 – BVerfGE 113, 167; BSG, Urteil vom 07.04.2016 – B 5 AL 1/15 R). In der Sozialversicherung ist dabei einerseits die hohe Bedeutung ihrer Funktionsfähigkeit sowie ihrer finanziellen Stabilität für das gemeine Wohl und andererseits die diesbezüglich gegebene weitgehende sozialpolitische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu beachten (vgl BVerfG, Beschluss vom 18.07.2005 – 2 BvF 2/01 – BVerfGE 113, 167; BSG, Urteil vom 07.04.2016 – B 5 AL 1/15 R).
Als existenzsichernde Leistung soll das Alg dem Arbeitslosen angemessenen Ersatz für den Ausfall leisten, den er dadurch erleidet, dass er gegenwärtig keinen bezahlten Arbeitsplatz findet. Problematisch ist jedoch, dass sich der entsprechende individuell eintretende Lohnausfall nicht konkret ermitteln lässt, so dass die Höhe des Alg nach typisierenden und pauschalierenden Merkmalen zu bestimmen ist. Grundsätzlich kommt dabei dem im Bemessungszeitraum erzielten Arbeitsentgelt Indizwirkung dahingehend zu, dass es typisierend dem entspricht, was bei Innehaben einer Arbeit auch aktuell erzielt werden könnte. Schließlich soll sich das Alg als Entgeltersatzleistung an einem möglichst zeitnahen Niveau auszurichten, das den auf Arbeitseinkommen gegründeten durchschnittlichen Lebensstandard des Arbeitslosen vor Entstehung des Anspruchs repräsentiert, so dass auch vor dem Bemessungszeitraum erzielte höhere Verdienste des Arbeitslosen, für die entsprechende Beiträge entrichtet wurden, regelmäßig keine Berücksichtigung mehr finden (vgl dazu: BSG, Urteil vom 21.07.2009 – B 7 AL 23/08 R – SozR 4-4300 § 132 Nr. 3 – mwN).
Im Falle einer freiwilligen Weiterversicherung von Selbständigen versagt diese Bemessungsmethode naturgemäß, weil es an einem vor der Arbeitslosigkeit erzielten Arbeitslohn aus einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis mangelt. Demzufolge ist für alle Arbeitslose, die keine ausreichenden Bemessungszeiträume mit Arbeitsentgelt im Bemessungsrahmen haben, gleichermaßen eine fiktive Bemessung über § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB III vorzunehmen, die als solche mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist (vgl dazu BSG, Urteil vom 29.05.2008 – B 11a AL 23/07 R – SozR 4-4300 § 132 Nr. 1; Urteil vom 25.08.2011 – B 11 AL 19/10 R). Da – wie oben ausgeführt – das Alg Ersatz für den ausfallenden Lohn während der Arbeitslosigkeit darstellen soll, ist es sachgerecht zu differenzieren, für welche Art von Beschäftigung – abhängig von der hierfür notwendigen Qualifikation – eine Arbeitsvermittlung in Betracht kommt. Die unterschiedliche Höhe des daraus resultierenden Alg findet demzufolge eine sachliche hinreichende Rechtfertigung, so dass ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nicht gesehen werden kann.
Soweit die Klägerin einwendet, das Alg hätte an der Bezugsgröße bemessen werden müssen, an der sich auch die Beiträge orientiert haben, überzeugt auch dies nicht. Wie dargelegt, ist für die Bemessung des Alg nicht die Summe der gezahlten Beiträge maßgeblich, vielmehr stellt das Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung den vorrangigen Anknüpfungspunkt für die Bemessung dar. Es fehlt im Einzelfall typischerweise an einer Beziehung der Gesamtleistung von Alg zur jeweiligen Beitragsleistung (BVerfG, Beschluss vom 03.04.1979 – 1 BvL 30/76 – BVerfGE 51, 115). Der Gesetzgeber ist bei der Ausgestaltung sozialversicherungsrechtlicher Systeme von Verfassungs wegen nicht gehalten ist, Geldleistungen der Höhe nach in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 11.03.1980 – 1 BvL 20/76 – BVerfGE 53, 313). Die Gegenleistung des Versicherungsbeitrags ist vielmehr der Zustand des Versichertseins, nicht die Leistung bei Arbeitslosigkeit (Lüdtke in Banafsche/Körtek/ Kruse, SGB III, 2. Auflage, § 151 Rn 5). Es ist auch nicht geboten, bei der Bemessung kurzfristiger Lohnersatzleistungen eine versicherungsmathematische Äquivalenz zwischen den entrichteten Beiträgen und der Höhe der Leistung herzustellen (BSG, Urteil vom 21.07.2009 – B 7 AL 23/08 R – SozR 4-4300 § 132 Nr. 3 – mwN).
Soweit das BVerfG (Beschluss vom 24.05.2000 – 1 BvL 1/98, 1 BvL 4/98, 1 BvL 15/99 – BverfGE 102, 127) zur Frage der Berücksichtigung von beitragspflichtigem einmaligen Arbeitsentgelt ausgeführt hat, dass Versicherte mit einem (insgesamt) gleich hohen beitragspflichtigen Arbeitsentgelt auch mit einer gleich hohen Lohnersatzleistung rechnen können, verfängt dies hier nicht. Zum einen hat die Klägerin vor ihrer Arbeitslosigkeit kein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt bezogen und zum anderen liegt es in der Natur der Sache, dass Selbständige im Vergleich zueinander äußerst unterschiedlich hohe Gewinne erwirtschaften. Eine einheitliche Pauschalierung der Beiträge ist daher unter Berücksichtigung der Verwaltungspraktikabilität sinnvoll und notwendig. Eine Orientierung der Beiträge am tatsächlichen Gewinn eines Selbständigen wäre nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand zu vollziehen. Dass sich die Beiträge auch nicht bereits nach den Bezugsgrößen entsprechend der Qualifikationsstufen bei der fiktiven Bemessung des Alg richten können, ist ebenso nachvollziehbar. Da für die Zuordnung zu den einzelnen Qualifikationsstufen nicht alleine die beim Betroffenen vorliegende Ausbildung maßgeblich ist, sondern die Ausbildung, die für die Stellen erforderlich ist, auf die sich die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit erstrecken, kann dies vor Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht ohne erheblichen Aufwand in jedem Einzelfall festgestellt werden. Eine systematische Benachteiligung von freiwillig Weiterversicherten liegt darüber hinaus schon deshalb nicht vor, da – wie die Klägerin selbst vorträgt – bei anderen Qualifikationsgruppen das Alg sogar über den für die Beitragsbemessung liegenden Bezugsgröße liegen kann. Zudem ist es bei allen Arbeitslosen, deren Alg fiktiv zu bemessen ist, so, dass dessen Höhe unabhängig von den zuletzt gezahlten Beiträgen ist und bei Personen, die zuvor Beiträge in gleicher Höhe entrichtet haben, ein unterschiedlich hoher Leistungsanspruch entstehen kann. Es findet somit gerade mit dieser Vergleichsgruppe eine Gleichbehandlung statt.
Die Klägerin hat somit keinen Anspruch auf ein höheres Alg. Die Berufung war demnach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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