Medizinrecht

Kein Abschiebungsverbot nach Sierra Leone wegen HIV-Erkrankung

Aktenzeichen  M 30 K 17.46275

Datum:
20.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 15757
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a
AsylG § 3d, § 3e

 

Leitsatz

1 Von einer zu einem Abschiebungsverbot führenden konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (Anschluss an BayVGH BeckRS 2016, 45091 Rn. 15). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG an ein ärztliches Attest sind auf die Substantiierung der Voraussetzungen an ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu übertragen (Anschluss an BayVGH BeckRS 2018, 1335 Rn. 7). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Überprüfung, ob die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen den gesetzlichen Anforderungen entsprechen, ist Aufgabe des erkennenden Gerichts. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist insoweit nicht erforderlich (Anschluss an BayVGH BeckRS 2018, 1335 Rn. 8) (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Gründe

Die in der mündlichen Verhandlung auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1AufenthG beschränkte zulässige Klage ist unbegründet. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, ist der Bescheid des Bundesamtes vom 10. Juli 2017 rechtskräftig worden. In Bezug auf die damit (nur noch) streitgegenständliche Ablehnung von Abschiebungsverboten ist die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, vgl. § 77 Abs. 1 AsylG, besteht keine Verpflichtung der Beklagten, bei der Klägerin das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Rückkehr nach Sierra Leone festzustellen.
1. Aus der HIV-Erkrankung der Klägerin ergibt sich kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
a. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erfasst sind davon nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben‚ wenn diese sich im Heimatstaat wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert. Es ist aber nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Es kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben‚ die dazu führen‚ dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine ziel-staatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände‚ die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Von einer konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (vgl. zum Ganzen: BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris; BVerwG‚ U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – NVwZ 2007, 712).
Allerdings besteht nach § 60a Abs. 2c Satz 1 und Satz 2 AufenthG die gesetzliche Vermutung, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht. Nach § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG soll diese ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Diese Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG an ein ärztliches Attest sind dabei auf die Substantiierung der Voraussetzungen an ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu übertragen (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn 7 m.w.N.; B.v. 4.10.2018 – 15 ZB 18.32354 – beck-online; B.v. 26.4.2018 – 9 ZB 18.30178 – juris).
Die Überprüfung, ob die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen diesen Anforderungen entsprechen, ist dabei Aufgabe des erkennenden Gerichts. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist insoweit nicht erforderlich (BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – beck-online).
b. Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines gesundheitsbedingten Abschiebungsverbots bei der Klägerin nicht vor.
Den vorliegenden, allgemein zugänglichen Erkenntnissen der WHO nach, die auch in der mündlichen Verhandlung am 16. Mai 2019 dargestellt wurden, besteht in Sierra Leone in Bezug auf HIV eine Prävalenz von (nur) 1,25%. (www.afro.who.int/countries/health-topics?country=874). Sierra Leone sei eines der am wenigsten beeinträchtigten Länder im regionalen und globalen Vergleich. Somit besteht in Sierra Leone hinsichtlich einer HIV-Infektion keine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG. Demzufolge ist vorliegend eine individuelle Gefahrenlage zu prüfen.
(1) Soweit bei der Klägerin eine HIV-Erkrankung im September 2017 diagnostiziert wurde und sodann eine – lebenslang erforderliche – antiretrovirale Therapie eingeleitet wurde, ergibt sich daraus nicht bereits ein Abschiebungsverbot.
Nachdem sich die Klägerin zum Zeitpunkt des Therapiebeginns im CDC-Stadium A1 befunden hat, somit im Anfangsstadium der in die Klinischen Kategorien A bis C mit den jeweiligen Laborkategorien 1 bis 3 unterteilten CDC-Klassifikation, ist bereits nicht hinreichend erkennbar, dass ein Abbruch jeglicher Behandlung bei der Klägerin eine derartig schwerwiegende und alsbaldige Verschlimmerung nach sich ziehen wird, die den hohen Anforderungen an ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entspricht.
Im Arztbrief vom 14. März 2019 ist (nur) die Rede davon, im Falle eines Abbruchs/Beendigung der Therapie könne sich das HI-Virus erneut ungehindert rezipieren und das Immunsystem insoweit schwächen, dass über einen kürzeren oder längeren Zeitraum das Endstadium der Erkrankung eintrete. Tödlich verlaufende opportunistische Infektionen seien die Folge.
Angaben individuell in Bezug auf die Klägerin finden sich hierin nicht. Insbesondere lässt sich nicht entnehmen, in welcher zeitlichen Hinsicht und welcher Weise bei der Klägerin mit ihrem bisher individuellen Krankheitsverlauf eine Unterbrechung oder der Abbruch der antiretroviralen Therapie zu schwersten, lebensbedrohlichen Verschlimmerungen führen wird. Schließlich reicht die Verschlimmerung einer Erkrankung alleine für das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht aus, sondern bedarf es einer derart wesentlichen Verschlechterung durch die Abschiebung, dass die Abschiebung für die Klägerin bedeuten würde, dass sie quasi sehenden Auges einer alsbald zu erwartenden nahezu lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt würde.
Das Attest beschreibt hingegen nur in allgemeiner Form die Notwendigkeit der Therapie und Dauerhaftigkeit der antiretroviralen Therapie. Dass eine HIV-Erkrankung unbehandelt zum Tode und ein Therapieabbruch zu einer stark verkürzten Lebenserwartung führt, steht für das Gericht außer Frage, ebenso dass im Endstadium opportunistische Infektionen eine tödliche Folge haben. Bei der Klägerin befand sich die Erkrankung hingegen im Anfangsstadium CDC A1.
In welcher zeitlichen und qualitativen Weise ein Therapieabbruch das Mortalitätsrisiko der Klägerin aber konkret individuell erhöht, ob die Erkrankung selber zum Tode führen würde oder vielmehr zu erwartende anderweitige Infektionen etc. ist gerade nicht erkennbar, aber i.S.v. § 60a Abs. 2c AufenthG für eine qualifizierte Bescheinigung erforderlich. So lässt sich auch den in der Rechtsprechung stattgebenden Entscheidungen bei Vorliegen einer HIV-Infektion, allerdings in Bezug auf das Herkunftsland Nigeria, durchaus entnehmen, dass die dort vorgelegten Atteste die Folgen des zu erwartenden Krankheitsverlaufs verbunden mit gewissen zeitlichen und qualitativen Elementen darstellten (vgl. Sächs. OVG, U.v. 6.6.2005 – A 5 B 281/04 – juris; VG Aachen, U.v. 13.11.2008 – 2 K 77/06.A – juris; VG Ansbach, U.v. 23.3.2004 – AN 9 K 03.31160 – juris; VG München, U.v. 20.4.2005 – M 21 K 00.51713 – juris). Die im vorliegenden Attest enthaltenen sehr allgemeinen Aussagen reichen hingegen nicht aus.
Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens durch das Gericht ist insoweit nicht veranlasst (s.o.), der Beweisantrag war in der mündlichen Verhandlung abzulehnen.
(2) Weitere Ermittlungen in Bezug auf den individuellen Stand der HIV-Infektion der Klägerin und individuell bei der Klägerin zu erwartenden Entwicklung bei Abbruch der begonnenen Therapie können im Übrigen auch deshalb unterbleiben, da die Klägerin in Sierra Leone durchaus eine antiretrovirale Therapie erhalten kann.
Die im Verfahren vom Bundesamt vorgelegte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. März 2019 auf Anfrage des Verwaltungsgerichts … stellt heraus, dass eine medikamentöse Behandlung einer HIV-Infektion mit einer antiretroviralen Therapie in Sierra Leone möglich ist. Bereits mit Auskunft vom 26. September 2017 hatte das Auswärtige Amt mitgeteilt, dass in Sierra Leone die Möglichkeit zur Behandlung von HIV/AIDS bestehe.
Soweit das Verwaltungsgericht … im Jahre 2003 von einer nicht hinreichenden Sicherstellung der Behandlung bezugnehmend auf den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 2. Juli 2002 ausgegangen ist (VG Gera, U.v. 24.7.2003 – 4 K 20431/01.GE – juris), ist von veralteten Erkenntnissen auszugehen. Den allgemein im Internet zugänglichen Quellen lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Vielmehr wird das Bestehen eines National HIV Strategic Plan 2016 – 2020 herausgestellt (vgl. WHO a.a.O.; UNAIDS, www.unaids.org/en/regioncountries/countries /sierraleone). Sierra Leone erhielt im Jahre 2010 eine Auszeichnung für seine Bemühungen, eine weitere Verbreitung von HIV aufzuhalten (siehe BFA der Republik Österreich – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Sierra Leone vom 3.4.2017).
Soweit die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. März 2019 in Bezug auf das Medikament Genvoya, das auch die Klägerin derzeit erhält, oder einem vergleichbaren Medikament eine Versorgung als nicht sichergestellt benennt, ergibt sich daraus nichts Gegenteiliges. Zwar mag dies für die Klägerin eine Medikationsumstellung von einer Kombinationstherapie auf eine Einzelmedikation bedeuten. Dass dies aber eine nicht zumutbare Verschlechterung darstellt, lässt sich den im Verfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen nicht entnehmen. Vielmehr lässt der Arztbrief vom 6. September 2018 durchaus die Möglichkeit einer Therapieanpassung erkennen. Nach im Internet allgemein zugänglichen Quellen existieren mittlerweile über 30 Einzel- und Kombinationspräparate einer antiretroviralen Therapie (https://www.hexal.de /patienten/ratgeber/hiv-hepatitis/hiv-therapie). Soweit der in der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisantrag die Notwendigkeit ausschließlich des Medikaments Genvoya als Tatsache behauptet, handelt es sich um eine bloße Mutmaßung ohne jeglichen Anhaltspunkt und insofern einen Ausforschungsbeweis.
Dahinstehen kann, ob in Sierra Leone Hämatologen zur Verfügung stehen, was die Klägerbevollmächtigen bestreiten. Insoweit ist jedenfalls nicht erkennbar, dass eine Behandlung durch andere Ärzte als spezialisierte Hämatologen bereits den Schweregrad für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen können.
(3) Das Gericht geht zudem davon aus, dass die Klägerin die erforderlichen Untersuchungen und die Medikamente auch erhalten kann.
So ergibt sich aus der von der Beklagten im Verfahren vorgelegten Auskunft von MedCOI vom 23. Mai 2018, dass viral load, CD4 und Early Infant Diagnosis (EID) in den HIV-Kliniken für HIV-Patienten kostenfrei zur Verfügung stehen, ebenso eine entsprechende Behandlung. Laut der Auskunft vom 26. September 2017 besteht die Möglichkeit der kostenlosen Behandlung von HIV/AIDS. Tests zur Diagnostik wie CD4 Count und Virraload würden kostenlos über das Bill und Melinda Gates Programm ausgegeben. Dies deckt sich mit der aktuellen Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. März 2019, dass infektiologische Untersuchungen im Choitram Memorial Hospital in Freetown und Connaught Hospital in Freetown möglich sowie Untersuchungen und Behandlungen in staatlichen Krankenhäusern und bei einigen Nichtregierungsorganisationen im Gesundheitssektor kostenlos seien.
Selbst für den Fall einer gewissen Kostenpflichtigkeit von Behandlungen und Medikamenten geht das Gericht davon aus, dass eine Erreichbarkeit für die Klägerin nicht entfällt. Die Klägerin ist in ihrer Erwerbstätigkeit wegen ihrer HIV-Erkrankung nicht eingeschränkt (vgl. auch die Angaben ihres Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung). Sie hat vor ihrer Ausreise als Reinigungskraft gearbeitet. Selbst wenn ihre Mutter kein Geld verdienen und ihr jüngerer Bruder noch zur Schule gehen mag, wird die Klägerin bei einer Rückkehr eine familiäre Unterstützung bekommen, die sich vielleicht weniger in finanzieller Unterstützung aber in Bezug auf Wohnen und Verpflegung o.ä. zeigen wird.
(4) Soweit der Hausarzt der Klägerin mit Attest vom 20. März 2019 Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung attestiert, ergeben sich hieraus mangels Substantiiertheit dieser Aussage weder ein Abschiebungsverbot noch Konsequenzen in Bezug auf die Erreichbarkeit der antiretroviralen Therapie oder die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen durch das Gericht.
2. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK besteht nicht.
a. Für den Fall einer Rückkehr nach Sierra Leone wäre die Klägerin in Freetown keiner Verfolgung bzw. unmenschlichen Behandlung durch die Sande oder Bondo Society oder einer anderen Society ausgesetzt.
Die Angaben der Klägerin in Bezug auf eine Zwangsinitiierung bei einem Geheimbund wegen ihres verstorbenen Vaters sind bereits nicht glaubhaft. Ihr Vorbringen ist in wesentlicher Hinsicht widersprüchlich.
Bei der Anhörung beim Bundesamt gab die Klägerin an, sie hätte ihrem Vater als Vorsitzenden eines Geheimbundes nachfolgen sollen. Ausdrücklich sprach sie davon, „seinen Platz in der Society übernehmen“ zu sollen. Sie habe ihnen gesagt, dass sie eine Frau sei und kein Mann und als Frau nicht die Rolle eines Mannes übernehmen könne. In der Klagebegründung wird hingegen mitgeteilt, sie habe in den Frauenbund der Sande- oder Bundu-Society eintreten sollen. Dies widerspricht sich jedoch insoweit erheblich, als sie dort nicht den Platz ihres Vaters einnehmen könnte, was die Klägerin bei der Anhörung aber gerade benannte. In der mündlichen Verhandlung erklärte die Klägerin wiederum, durch den Geheimbund eine Verfolgung zu befürchten, dem ihr Vater angehört habe. Dieser heiße Sande. Bei der Sande Society handelt es sich jedoch den allgemeinen Erkenntnissen nach um einen Frauen-Geheimbund. Auf entsprechenden Vorhalt in der mündlichen Verhandlung erklärte die Klägerin, es gebe diesen Geheimbund auch für Männer. Sie würden sich auch wie Frauen kleiden. Diesem Geheimbund habe sie angehören sollen. Diese Angaben lassen sich mit den vorliegenden Erkenntnismitteln über Sande, Bondo, Poro und Gbangbani etc. nicht in Übereinstimmung bringen und sind als Schutzbehauptung zu werten.
In Verbindung mit den der Klägerin in der Bescheidsbegründung vorgehaltenen vagen und detailarmen Angaben der Klägerin ist daher vielmehr die Annahme begründet, dass die Klägerin bislang keine Berührung mit den Geheimbünden in Sierra Leone hatte. Die attestierten Narben können durchaus eine andere Entstehung haben und beweisen keine Zwangsinitiierung.
Für den Fall einer Rückkehr ist somit nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger mit einer Frauen oder Männer Society Probleme bekommen wird.
Zudem gab die Klägerin in der mündlichen Verhandlung zudem selber an, dass nur wer auf dem Land geboren werde, zu einer Society gehöre. Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes ist es jedenfalls in den Großstädten Sierra Leones möglich, grundsätzlich unbehelligt vom Poro Geheimbund und anderen Geheimgesellschaften zu leben (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. Januar 2017 an das VG Augsburg). Dort gebe es viele Menschen, die nicht Mitglied einer Geheimgesellschaft sind und ohne Probleme leben könnten. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass jemand gefoltert werde oder seinen Arbeitsplatz verliere, wenn er offen bekenne, die Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft abzulehnen. Die Religionsfreiheit erstrecke sich auch auf traditionelle Glaubensvorstellungen, so das Auswärtige Amt. Die Angaben der Klägerin, dass neben ihr und ihren Geschwistern selbst ihre Mutter bis zur Beerdigung des Vaters in Kambia keinen Bezug zu den Geheimbünden hatte, da sie in der Stadt und nicht auf dem Land lebten, bestätigt dies. Nicht in Freetown, sondern in Kambia will die Klägerin schließlich anlässlich der Beisetzung ihres Vaters die Probleme mit Sande bekommen haben.
Es erscheint daher bereits nicht wahrscheinlich, dass die Sande Society aus Kambia noch vier Jahre später in Freetown nach der Klägerin sucht, falls sie – entgegen der vorstehenden Annahme des Gerichts – überhaupt jemals gesucht hat. Zudem wäre für die Society schon nicht bekannt, ob sich die Klägerin überhaupt oder wieder in Sierra Leone aufhält, nachdem ihre Mutter und Geschwister keine Beziehung zur Society haben und ein Melderegister nicht existiert (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.10.2017).
b) Ein außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK sprechen, ist nicht gegeben.
Dabei verkennt das Gericht die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Sierra Leone nicht. Sierra Leone gehört zwar zu den ärmsten Staaten der Erde und belegt nach dem Human Development Index von 2017 Rang 184 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (vgl. Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ): LIPortal – Länder-Informations-Portal – Sierra Leone – Stand November 2018 (LIPortal); BFA Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Sierra Leone, 3.5.2017). Die Nachwirkungen des Bürgerkrieges, die weit verbreitete Korruption und die unzureichend ausgebaute Infrastruktur beeinflussen die wirtschaftliche Lage in Sierra Leone (vgl. LIPortal). Die Arbeitslosigkeit im Land ist sehr hoch (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2016 – Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2016; BFA Republik Österreich a.a.O.). Es wird geschätzt, dass ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind (vgl. LIPortal; BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010). Die Mehrheit der Bevölkerung versucht zudem mit Gelegenheitsjobs oder Handel ein Auskommen zu erwirtschaften. Dabei wird die Subsistenzwirtschaft in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (LIPortal; BFA Republik Österreich a.a.O.). Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010). Im Übrigen wird auf die Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes Bezug genommen.
Es ist dennoch davon auszugehen, dass die Klägerin als erwerbsfähige Frau jedenfalls im Kreise ihrer Mutter und Geschwister (2 Brüder und eine Schwester) und Großfamilie selbst unter Berücksichtigung ihres bei der Mutter lebenden Kindes auch ohne Schulbildung, aber hingegen Berufserfahrung als Reinigungskraft in Sierra Leone bei einer Rückkehr nach Sierra Leone in der Lage sein wird, sich z.B. auch durch Gelegenheitsarbeiten zumindest eine existenzsichernde Grundlage zu schaffen. Aufgrund ihrer HIV-Erkrankung ist die Klägerin in ihrer Erwerbstätigkeit nicht eingeschränkt und die erforderliche Behandlung für die Klägerin erreichbar (s.o.). Soweit das Bundesamt in den Bescheidsgründen noch eine Unterstützung durch den Ehemann annahm, die Klägerin dies aber in der mündlichen Verhandlung verneint, steht dies ebenfalls (noch) nicht entgegen.
Die in der mündlichen Verhandlung erwähnte Zwangsehe begründet im Übrigen auch kein Abschiebungsverbot. Die Klägerin hat keinen Kontakt mehr zu ihrem Ehemann und schon während der Ehe bei ihrer Mutter gelebt. Dass sie durch ihren Ehemann einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre, ist weder vorgetragen noch erkennbar.
Eine Rückkehr nach Sierra Leone würde die Klägerin somit zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zur Überzeugung des Gerichts in keine derart aussichtlose Lage stürzen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG in Betracht käme.
Die Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).

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