Medizinrecht

Kein Mehrbedarf bei Histaminintoleranz

Aktenzeichen  L 11 AS 861/15

Datum:
20.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, § 7a, §§ 19 Abs. 1, Abs. 7, § 20, § 21 Abs. 5
SGG SGG § 96, § 124 Abs. 2, § 160 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, § 193, § 143, § 144, § 151

 

Leitsatz

Bei aus medizinischen Gründen kostenaufwändiger Ernährung sind die notwendigen Aufwendungen zu berücksichtigen, die über den im Regelbedarf nach § 20 SGB II bereits berücksichtigten Anteil hinausgehen, mit dem die laufenden Kosten eines typischen Leistungsberechtigten im Rahmen eines soziokulturellen Existenzminimums für eine ausreichende ausgewogene Ernährung im Sinne einer ausreichenden Zufuhr von Proteinen, Fetten, Kohlehydraten, Mineralstoffen und Vitaminen, im Ergebnis eine Vollkosternährung, bestritten werden können. Voraussetzung sind weiter medizinische Gründe iSv gesundheitlichen Beeinträchtigungen, eine kostenaufwändige Ernährung und ein Ursachenzusammenhang zwischen den medizinischen Gründen und der kostenaufwändigen Ernährung. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 9 AS 250/12 2015-11-05 Urt SGWUERZBURG LSG München

Tenor

I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 05.11.2015 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Das Gericht konnte durch den bestellten Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung entscheiden, denn die Beteiligten haben sich hiermit ausdrücklich einverstanden erklärt (§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz -SGG- i. V. m. § 124 Abs. 2 SGG).
Die form- und fristgerechte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), in der Sache jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Bescheid des Beklagten vom 16.01.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2012 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 04.07.2012 und der Bescheid vom 04.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.08.2012 rechtmäßig sind und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen.
Streitgegenstand ist vorliegend die Gewährung von Alg II in Bezug auf die Gewährung von Leistungen für Regel- und Mehrbedarfe für die Zeit vom 01.02.2012 bis zum 31.01.2013, worüber der Beklagte mit Bescheid vom 16.01.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2012 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 04.07.2012 (dieser ist nach § 96 SGG Gegenstand des bei dessen Erlass bereits beim SG anhängigen Verfahrens S 9 AS 250/12 geworden) und mit Bescheid vom 04.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.08.2012 entschieden hat. Eine weitergehende Beschränkung des Streitgegenstandes auf Leistungen für den Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung, die nur ein Begründungselement für den Leistungsanspruch bezüglich Regel- und Mehrbedarfe darstellen, ist nicht möglich (vgl. BSG, Urteil vom 11.02.2015 – B 4 AS 26/14 R). Nur die Leistungen für Unterkunft und Heizung, die einen abtrennbaren Streitgegenstand darstellen (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2014 – B 4 AS 4/14 R; Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 42/13 R; Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R), sind – im Hinblick auf die Beschränkung des klägerischen Begehrens – vorliegend nicht mehr zu prüfen.
Ein höherer Anspruch auf Alg II nach §§ 19 Abs. 1, 7 SGB II für den Zeitraum vom 01.02.2012 bis zum 31.01.2013, der über die Bewilligung der Regelleistungen in den angefochtenen Bescheiden hinausgeht, besteht nicht.
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sowie hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum 43 bzw. 44 Jahre alt, erwerbsfähig und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Er war darüber hinaus in der Zeit vom 01.02.2012 bis zum 31.01.2013 hilfebedürftig. Dementsprechend hat der Beklagte auch zutreffend Alg II unter Berücksichtigung der jeweils maßgeblichen Regelleistung iHv monatlich 374 EUR bzw. für Januar 2013 iHv 382 EUR – und der hier nicht streitgegenständlichen Bedarfe für Unterkunft und Heizung – bewilligt bzw. jedenfalls tatsächlich gezahlt.
Weitere Leistungen standen dem Kläger nicht zu. Ein Mehrbedarf war nicht zu berücksichtigen. Nach § 21 Abs. 5 SGB II wird bei Leistungsberechtigten, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Dabei müssen die notwendigen Aufwendungen über den im Regelbedarf nach § 20 SGB II bereits berücksichtigten Anteil hinausgehen, mit dem die laufenden Kosten eines typischen Leistungsberechtigten im Rahmen eines soziokulturellen Existenzminimums für eine ausreichende ausgewogene Ernährung im Sinne einer ausreichenden Zufuhr von Proteinen, Fetten, Kohlehydraten, Mineralstoffen und Vitaminen, im Ergebnis eine Vollkosternährung, bestritten werden können (vgl. dazu BSG, Urteil vom 20.02.2014 – B 14 AS 65/12 R). Voraussetzung sind weiter medizinische Gründe iS von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, eine kostenaufwändige Ernährung und ein Ursachenzusammenhang zwischen den medizinischen Gründen und der kostenaufwändigen Ernährung (vgl. BSG, Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R; Urteil vom 20.02.2014 – B 14 AS 65/12 R).
Der Kläger leidet unstreitig an einer Vielzahl von Erkrankungen, wobei nach den vom Kläger vorgelegten Unterlagen, den Befundberichten und dem Gutachten des Prof. B. insbesondere eine multiple Fettstoffwechselstörung, Refluxkrankheit der Speiseröhre, Magenschleimhautentzündung, Bluthochdruck, und Allergien gegen Benzoylperoxid und Parabene festgestellt wurden. Bezüglich der Histaminintoleranz besteht jedenfalls der Verdacht des Vorliegens. Ob beim Kläger eine Histaminintoleranz tatsächlich vorliegt ist insofern unerheblich, da selbst bei deren Unterstellung keine kostenaufwändigere Ernährung notwendig ist. Insofern ist es auch ohne Belang, dass der Gutachter des SG wohl lediglich von einem Verdacht einer solchen Erkrankung ausgegangen ist, da er sich mit den Auswirkungen auf die bei einer solchen Unverträglichkeit notwendige Ernährung auseinandergesetzt hat.
Der Gutachter Prof. B. hat zutreffend, überzeugend und widerspruchsfrei in seinem Gutachten vom 26.07.2015 erhöhte Aufwendungen für die im Fall des Klägers medizinisch angezeigte Ernährung verneint. Im Wesentlichen sind danach bei der Histaminintoleranz der Konsum histaminhaltiger Lebensmittel zu meiden bzw. zu reduzieren und ggf. durch andere Lebensmittel zu ersetzen. Darauf stellen im Grunde alle beteiligten Mediziner ab. Sofern aber Dr. R., Dr. R. und der Assistenzarzt S. davon ausgehen, hierdurch würden Mehrkosten im Vergleich zur gesunden Vollkost entstehen, kann dem nicht gefolgt werden. Belegt wird deren Ansicht nicht. Insbesondere erscheint gerade die für den Kläger offensichtlich teure Ernährung mit Soja-Produkten nicht medizinische indiziert. Im Übrigen kommt auch Prof. D. in seinem Befundbericht vom 16.12.2014 zum Ergebnis, dass sich Mehraufwendungen und Einsparungen bei der medizinisch notwendigen Ernährungsform die Waage halten und eine relevante finanzielle Belastung nicht zu erwarten ist. Es kann von der hinreichenden Sachkunde und Einschätzungsmöglichkeit des Gutachters Prof. B. ausgegangen werden, der sich an der Universität H-Stadt, Institut für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft, mit Ernährungswissenschaft explizit befasst. Soweit er auf Alkoholkarenz und Bewegung zur Therapie verweist, ist dies unschädlich, da er sich daneben auch eingehend mit der notwendigen Ernährung im Hinblick auf das Krankheitsbild des Klägers auseinandersetzt. Sofern vom Kläger gerügt wird, das Gutachten gehe nicht auf das Zusammenspiel der verschiedenen Krankheiten ein, ist dies ebenfalls nicht durchgreifend. Insofern kann dem Gutachten im Hinblick auf die Ausführungen zu den bei den einzelnen Erkrankungen notwendigen Ernährungsformen entnommen werden, dass es insofern keine Überschneidungen bzw. Beeinflussungen gibt. Das Weglassen von Nahrungsmitteln mit hohem Histamingehalt oder mit Parabenen steht nicht im Widerspruch zu einer fettarmen und gesunden Ernährung.
Der Einwand des Klägers, dass das Schweizer Allergiezentrum eine „Diät“ bei Histaminintoleranz vorsehe, führt nicht zu einer anderen Sichtweise. Die dort empfohlene dreistufige Ernährungsumstellung mit einer Karenzphase, Testphase und Dauerernährung, die im Übrigen auch den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) entspricht (vgl. z. B. Diätik Kompakt – Fachinformationen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V., 1. Auflage 2014, Seite 4 f), belegt keinen Kostenmehrbedarf. Vielmehr geht es dabei um das Austesten, welche Lebensmittel nicht vertragen werden und das anschließende Weglassen. Mehrkosten können damit alleine nicht begründet werden. Auf dieses Vorgehen weißt auch der Gutachter Prof. B. in seinem Gutachten vom 26.07.2015 hin. Im Übrigen ist der Histamingehalt nicht nur von der Art der Lebensmittel abhängig, sondern es ergibt sich eine große Schwankungsbreite des Histamingehalts vor allem durch die Lagerdauer, den Reifegrad sowie bestimmte Verarbeitungsprozesse (vgl. DGE a. a. O. Seite 5 mit dem Beispiel von Fisch). Auch hier ist nicht ersichtlich, dass das Berücksichtigen dieser Umstände mit Mehrkosten verbunden ist.
In Bezug auf die Fettstoffwechselstörung kommt der Gutachter Prof. B. ebenfalls zu dem Ergebnis, dass hier keine Mehrkosten entstehen würden. Dem schließt sich das Gericht an. Ein spezieller Kost- und Ernährungsplan ist hier nicht notwendig. Die vom Regelbedarf umfasste ausgewogene Vollkost ist die geeignete Ernährungsform und entspricht auch den Empfehlungen der DGE, die bereits die Erkenntnisse zur Prävention und Therapie u. a. von Fettstoffwechselstörungen berücksichtigt hat (vgl. auch BayLSG, Urteil vom 21.11.2014 – L 8 SO 128/12). Nicht nachvollziehbar ist, weshalb Geflügelfleisch generell teurer sein soll, als Schweinefleisch. Allein die Vorlage von Kassenbelegen für den Kauf von Schweinefleisch einerseits und Geflügelfleisch andererseits, kann dies nicht belegen. Es erscheint zudem nicht zwingend nachvollziehbar, dass die vom Regelbedarf umfasste gesunde Vollkost alleine Schweinefleisch beinhaltet bzw. dieses gewichtsmäßig eins zu eins durch Geflügelfleisch ersetzt werden müsste. Insofern erscheint die Darlegung des Gutachters nachvollziehbar.
Auch aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Erkrankungen und deren Erfordernissen für die Ernährung vermag das Gericht keinen Mehrbedarf zu erkennen. Dies folgt aus dem Ergebnis, dass in keinem Fall ein Abweichen von der grundsätzlichen Ernährungsform der gesunden Vollkost krankheitsbedingt indiziert ist.
Schließlich kann auch aus den Angaben des Dr. E. vom 29.01.2015 kein anderes Ergebnis hergeleitet werden. Dort ist die Rede von einer Sondenernährung und Vitaminen sowie Spurenelementen bei nachgewiesenem Mangel. Eine Sondenernährung wird hier nicht geltend gemacht und es gibt keine Anhaltspunkte für eine entsprechende Notwendigkeit. Bei Vitaminen und Spurenelementen ist unklar, ob dabei auf nicht von § 21 Abs. 5 SGB II erfasste Nahrungsergänzungsmittel abgestellt wird. Im Hinblick auf das überzeugende Gutachten des Prof. B. wäre jedenfalls kein Mehrbedarf zu berücksichtigen.
Da auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers und der oben vorgenommenen Auseinandersetzung mit dem Gutachten des Prof. B. für das Gericht keine hinreichenden Zweifel an der Richtigkeit und Schlüssigkeit der Ergebnisse des Gutachtens vom 26.07.2015 verblieben sind, bedurfte es nicht der Einholung eines weiteren Gutachtens, wie es der Kläger angeregt hat.
Die Berufung war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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