Aktenzeichen S 2 KR 516/16
GG GG Art. 2 Abs. 2
Leitsatz
1. Eine „spezifische Nervenrehabilitation“ als nichtärztliche Leistung ist als neues Heilmittel iS von § 138 SGB V anzusehen und unterliegt daher einem Erlaubnisvorbehalt des Gemeinsamen Bundesausschusses. (Rn. 21)
2. Nachdem eine positive Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht vorliegt, kann ein Anspruch des Versicherten gegen die Krankenkasse u.a. in Betracht kommen, wenn die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 a SGB vorliegen. (Rn. 24)
3. Es liegt eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung iS von § 2 Abs. 1 a SGB vor, wenn die Gefahr besteht, dass der Versicherte auf einem Auge erblindet. (Rn. 28)
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. August 2016 verurteilt, dem Kläger für die Behandlung der spezifischen Nervenrehabilitation bei Herrn Dr. E. Kosten in Höhe von 8.878,00 Euro zu erstatten.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Gründe
Die zulässige und insbesondere form- und fristgerechte Klage ist begründet. Der Bescheid vom 27.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Kostenerstattung für die Behandlung der spezifischen Nervenrehabilitation bei Herrn Dr. E. in Höhe von 8.878 €. Vorliegend war nur noch die Kostenerstattung in Höhe dieses Betrages streitig, da die Behandlung bei Herrn Dr. E. laut Mitteilung des Klägers nun abgeschlossen ist. Über einen Sachleistungsanspruch für die Zukunft war daher nicht mehr zu entscheiden.
Vorliegend ist ein Kostenerstattungsanspruch in Höhe der geltend gemachten 8.878 € nach § 13 Abs. 3 SGB V gegeben. § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V lautet wie folgt:
„Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.“
Die Regelung hat daher zur Voraussetzung, dass der Versicherte einen Primäranspruch auf die entsprechende Dienst- oder Sachleistung hat. Im Fall des Klägers bestand ein solcher Primärleistungsanspruch bei grundrechtsorientierter Auslegung. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Nach §§ 27 Abs. 1, 32 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Heilmitteln. Bei der streitigen Therapie bei Herrn Dr. E. handelt es sich um ein Heilmittel. Der Anspruch umfasst nur solche Leistungen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen, § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V. Insoweit ist vorliegend § 138 SGB V von Bedeutung, wonach neue Heilmittel nur verordnet werden dürfen, wenn der GBA zuvor ihren therapeutischen Nutzen anerkannt hat. Neu ist ein Heilmittel dann, wenn es bisher nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung gewesen ist, was sich daran zeigt, ob es in den vom GBA erlassenen Heilmittel-Richtlinien aufgeführt ist oder nicht.
Die Leistungspflicht der Krankenkasse setzt voraus, dass der GBA eine positive Entscheidung über das streitige Hilfsmittel getroffen hat.
Vorliegend handelt es sich um ein neues Heilmittel, für das eine solche positive Entscheidung des GBA nicht vorliegt.
Demnach käme eine Kostenerstattung für die hier durchgeführten Behandlungen der spezifischen Nervenrehabilitation nicht in Betracht. Die Rechtsprechung erkennt jedoch Ausnahmen zum Erfordernis der vorherigen Anerkennung durch den GBA an, u.a. dann, wenn es sich um eine notstandsähnliche Situation nach § 2 Abs. 1a SGB V handelt. Vorliegend ergibt sich daher ein Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung aufgrund von § 2 Abs. 1a SGB V. Diese Regelung beruht auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung im Falle einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder einer vergleichbaren Erkrankung (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005,1 BVR 347/98).
Mit dieser Regelung hat daher der Gesetzgeber den Anforderungen des BVerfG an eine grundrechtsorientierte Auslegung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung im Falle einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder zumindest wertungsgemäß vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stand, Rechnung getragen.
§ 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V lautet wie folgt: Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsgemäß vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG kann im Einzelfall ein Anspruch hinsichtlich einer neuen Behandlungsmethode bestehen unter folgenden Voraussetzungen:
Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor bzw. eine wertungsgemäß vergleichbare Erkrankung, bezüglich dieser Erkrankung steht eine allgemein anerkannte dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung und bezüglich der beim Versicherten angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine auf Indizien gestützte nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
Vorliegend sind diese Voraussetzungen erfüllt. § 2 Abs. 1a SGB V ist auch im Fall eines neuen Heilmittels nach § 138 SGB V zu prüfen. Der Kläger hatte an einem Tumor im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels gelitten, der unbehandelt bei weiterem Wachstum zu einer Kompression, d.h. Quetschung des Hirnstammes und damit des lebenswichtigen Atem- und Kreislaufzentrums geführt hätte. Dieser Tumor konnte vollständig entfernt werden. Im Rahmen der Operation kam es jedoch zu einer hochgradigen Schädigung im Sinne einer Verletzung/Dehnung/traumatischen Ischämie des Nervus facialis, wobei es zu einem hochgradigen Funktionsausfall des Nerves kam. Dies führte dazu, dass der ausreichende Augenlidschluss rechts unmittelbar nicht mehr gegeben war. Beim Kläger bestand als Folge der Operation daher kein ausreichender Lidschluss des rechten Auges mehr. Infolgedessen hätte es zu einem Verlust der Sehfähigkeit auf dem rechten Auge kommen können. Insoweit handelt es sich zwar nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung. Es liegt jedoch nach Auffassung des Gerichts eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V vor, nachdem die Gefahr bestanden hat, dass der Kläger auf einem Auge erblindet. Mit dem Anspruch des Versicherten auf sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ist es nach Auffassung des Gerichts unvereinbar, wenn die Beklagte insoweit nicht von einer vergleichbaren Erkrankung ausgeht und auf die Sehfähigkeit des verbleibenden Auges verweist, wenn hier noch Aussichten bestanden, dass eine Heilung des betroffenen Auges eintreten kann. Insoweit lag daher eine wertungsgemäß vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V vor. Die Beklagte kann nicht darauf verweisen, dass nur ein Auge betroffen war und es nicht zu einem vollständigen beidseitigen Verlust der Sehkraft gekommen wäre.
Auch bestand bezüglich der Erkrankung des Klägers keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung. Herr Dr. G. hat nachvollziehbar dargelegt, dass rekonstruktive Möglichkeiten beispielsweise eines Nerventransfers von der Gegenseite oder vom Zungennerven sich nicht anboten. Eine operative Nervenrekonstruktion kam nicht infrage. Entscheidend ist, dass es sich beim Kläger nicht um eine idiopathische Facialisparese, sondern um eine Nervenverletzung im Rahmen einer Operation durch Dehnung, Minderdurchblutung und Nervenfaserdurchtrennung handelte. Insoweit sind hinsichtlich der Therapiemöglichkeiten die aktuellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie, Neurologie, Neurochirurgie, Orthopädie und orthopädische Chirurgie, plastische rekonstruktive und ästhetische Chirurgie, Unfallchirurgie unter Beteiligung der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung, der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Handtherapie, des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten und des Deutschen Verbandes für Physiotherapie sowie der Physiotherapeuten und Krankengymnasten heran zu ziehen. Insoweit ist zwar zu berücksichtigen, dass in den Leitlinien der konkrete Fall des Klägers, d.h. des Nervus facialis bei einer Tumorchirurgie nicht erwähnt wird, es sind jedoch Therapieempfehlungen von Nervenverletzungen vorhanden, die auch nach Auffassung des Gerichts auf den Kläger übertragen werden können. Herr Dr. G. weist überzeugend darauf hin, dass in den Leitlinien kognitiv therapeutische Übungen im Rahmen einer Nervenrehabilitation sowie auch muskuläre Faszikulationen erwähnt und empfohlen werden. Die streitige Therapie, die bei Herrn Dr. E. durchgeführt wurde, entspricht diesen erwähnten therapeutischen Übungen.
Zur Überzeugung des Gerichts steht aufgrund des schlüssigen Gutachtens von Herrn Dr. G. daher fest, dass die streitige Behandlung medizinisch indiziert und notwendig war und der Kläger nicht auf andere allgemein anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungen verwiesen werden konnte. Die Beklagte kann daher nicht lediglich darauf verweisen, dass Behandlungsalternativen wie ein Uhrglasverband und Befeuchten des Auges mit Salben und Tropfen ausreichend bzw. dass postoperativ eine reguläre Heilmitteltherapie nach der Heilmittelrichtlinie ausreichend gewesen wäre. Auch aus dem Befundbericht von Herrn Dr. E. ergibt sich nachvollziehbar, dass keine Behandlungsalternativen zur Verfügung standen.
Schließlich bestand bezüglich des vom Versicherten angewandten Heilmittels bei Herrn Dr. E. eine auf Indizien gestützte und nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Es bestand bei prognostischer Betrachtung eine auf Indizien gestützte Aussicht auf Erfolg, der voraussichtliche Nutzen überwog die möglichen Risiken. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass, je schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die Situation ist, desto geringer die Anforderungen an die ernsthaften Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Behandlungserfolg sind. Wie bereits ausgeführt, sind in den entsprechenden Leitlinien kognitiv therapeutische Übungen im Rahmen einer Nervenrehabilitation und auch muskulär erfasste Faszikulationen erwähnt; dies entspricht den Übungen, die auch von Herrn Dr. E. vorgenommen wurden. Insoweit bestand auch eine auf Indizien gestützte und nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung in dem Sinne, dass es zu einer Besserung des Lidschlusses und damit zu einem Erhalt des Augenlichts kommen könnte. Diese Prognose hat sich auch bestätigt, da es infolge der Behandlung bei Herrn Dr. E. zu einer Besserung des Lidschlusses und damit zum Erhalt des Augenlichts sowie darüber hinaus auch zu Verbesserungen im Mundwinkel- und Wangenbereich kam. Herr Dr. G. hat zwar darauf hingewiesen, dass zwar nicht festgestellt werden kann wie sich der Spontanverlauf ohne jedes therapeutisches Eingreifen gestaltet hätte. Dies ist jedoch nicht ausschlaggebend, da es darauf ankommt, ob es anhand der beantragten Therapie bei Herrn Dr. E. eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitszustand gab. Diese Aussicht war nach Auffassung des Gerichts vorliegend gegeben.
Insgesamt lag zur Überzeugung des Gerichts genau die Konstellation vor, für die auch das BVerfG im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Extremsituationen einer krankheitsbedingten Lebensgefahr oder wertungsgemäß vergleichbaren Erkrankung Alternativbehandlungen im Einzelfall zulassen wollte.
Insgesamt lag daher ein Primäranspruch des Klägers gegen die Beklagte vor.
Im vorliegenden Fall sind auch die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V erfüllt. Ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V ist nur gegeben, wenn entweder die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat oder die Leistung unaufschiebbar war. Vorliegend handelte es sich um den Fall, dass die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Der Ablehnungsbescheid datiert vom 27.11.2015. Der Kläger hat erst nach dieser Ablehnung, d.h. am 07.12.2015 mit der Behandlung begonnen. Der Beschaffungsweg im Sinne von § 13 Abs. 3 SGB V ist daher eingehalten, der Kläger war nicht verpflichtet, auch noch das Widerspruchsverfahren abzuwarten (LSG Baden-Württemberg, 22.10.2013, L 13 R 2947/12).
Insoweit sind sämtliche Voraussetzungen für den Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V erfüllt. Der Kläger hat entstandene Kosten für die Behandlung bei Herrn Dr. E. wegen der spezifischen Nervenrehabilitation in Höhe von 8.878 € anhand der vorgelegten Rechnungen nachgewiesen.
Insgesamt waren daher die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V in Höhe des geltend gemachten Betrages von 8.878 € gegeben. Die Beklagte hat dem Kläger diesen Betrag zu erstatten.
Nach alledem war die Klage begründet.
Folglich hat die Beklagte die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen, § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).