Aktenzeichen S 7 KR 955/20 ER
Leitsatz
Tenor
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, vorläufig, bis zum Eintritt der Rechtskraft in der Hauptsacheentscheidung, längstens jedoch bis 31.12.2021, die Versorgung des Antragstellers mit dem Arzneimittel T. (Wirkstoff Ataluren) zu genehmigen.
II. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Im Streit steht die Versorgung mit dem Arzneimittel T..
Der 2009 geborene Antragsteller (Ast) ist bei der Antragsgegnerin (Ag) gesetzlich gegen Krankheit versichert. Bereits im Kindesalter traten beim Ast die typischen Symptome einer Muskeldystrophie Duchenne auf, die Diagnose wurde durch eine entsprechende Gendiagnostik gesichert. Bei dem zugrundeliegenden Gendefekt handelt es sich um eine Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen.
Anfänglich wurde der Ast mit dem lediglich symptomatisch wirkenden Kortikosteroid Calcort behandelt, das im Dezember 2017 wegen Gewichtszunahme abgesetzt wurde. Im Dezember 2017 erfolgte in der Kinderklinik E. die Einstellung auf T.. Der Ast war zu diesem Zeitpunkt 8 Jahre alt und noch gehfähig.
2014 wurde Ataluren als T. (Hersteller: P.) in der EU zugelassen in der Indikation Muskeldystrophie Duchenne bei gehfähigen Patienten ab einem Alter von 5 Jahren. Im Mai 2018 folgte eine Zulassungserweiterung für Kinder ab 2 Jahren. Die Zulassung des Arzneimittels erfolgte durch die European Medicines Agency (EMA).
Das Unternehmen beantragte im Jahr 2019 eine Indikationserweiterung im Sinne einer Hinzunahme der Behandlung von Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne, die nicht mehr laufen können. Nach der Überprüfung ihres ursprünglichen Gutachtens hat die Europäische Arzneimittel-Agentur ihre Empfehlung zur Versagung einer Änderung der Genehmigung für das Inverkehrbringen für das Arzneimittel T. (Ataluren) bestätigt (EMA, 18.10.2019, EMA/565599/2019).
Am 20.01.2020 erteilte die Ag eine Abgabegenehmigung für einzeln importierte Arzneimittel für den Zeitraum 01.01.2020 bis 31.03.2020. Enthalten war der Hinweis, für die Folgezeit ein aussagekräftiges Attest vorzulegen mit entsprechender Begründung, weshalb es keine alternativen Therapieoptionen gebe.
Mit Schreiben des Universitätsklinikum Erlangen vom 13.02.2020 beantragten die Eltern des Klägers die Fortsetzung der Behandlung mit T.. In dem Schreiben wird ausgeführt, dass der Ast ausgeprägte Krankheitssymptome zeige. Die Muskelkraft sei reduziert. Die Bewegungsfähigkeit sei bei unzureichender Kopf- und Rumpfstabilität ebenfalls stark eingeschränkt. Es bestehe die Angewiesenheit auf einen Rollstuhl.
Die Ag teilte dem Ast mit Schreiben vom 05.03.2020 mit, dass man eine medizinische Bewertung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) einholen werde.
In seinem Gutachten vom 18.03.2020 führt dieser aus, dass im Nutzenbewertungsverfahren des G-BA (Beschluss vom 01.12.2016) nur ein geringer Zusatznutzen bei gehfähigen Patienten über 5 Jahre nachgewiesen worden sei. Bei nicht gehfähigen Patienten sei keine Wirksamkeit nachgewiesen worden. Es handle sich um ein in Deutschland zugelassenen Medikament, auch wenn das Arzneimittel durch den Hersteller zwischenzeitlich vom deutschen Markt genommen worden sei. Unabhängig davon, dass das Medikament in Deutschland nicht mehr vertrieben werde, bleibe die deutsche Zulassung gültig. Das Arzneimittel mit dem Wirkstoff Ataluren sei bei einem vollumfänglichen Einsatz entsprechend seiner Zulassung vom behandelnden Vertragsarzt auf einem üblichen Kassenrezept regulär verordnungsfähig und bedürfe insofern vor der Abgabe durch die Apotheke keiner Genehmigung seitens der Krankenkasse.
Mit Schreiben vom 25.03.2020 teilte die Ag den behandelnden Ärzten mit, dass mit der Ablehnung auf Zulassungserweiterung durch die EMA zugleich der Anspruch eines Versicherten auf Versorgung mit dem entsprechenden Arzneimittel durch die gesetzliche Krankenversicherung verneint werde. Der Einsatz des Arzneimittels im Rahmen eines rechtskonformen Off-Label-Use sei demnach ebenfalls ausgeschlossen.
Laut den Unterlagen sei es beim Ast im Verlauf der Erkrankung im vergangenen Jahr zum Verlust der Gehfähigkeit gekommen. Dies sei im Rahmen der Pflegebegutachtung durch den MDK festgestellt und von den Behandlern in einer Anfrage wegen der Versorgung mit einem Rollstuhl vom 27.01.2020 bestätigt worden.
Eine Versorgung des Ast mit Ataluren zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sei demnach nicht mehr möglich. Man könne daher nach eingehender pharmazeutischer und interdisziplinär-medizinischer Prüfung keine Abgabegenehmigung für T. ab 01.04.2020 erteilen.
Mit Bescheid vom selben Tag lehnte die Ag gegenüber dem Ast die Erteilung einer Abgabegenehmigung ab.
Mit Schreiben vom 15.09.2020 unterstützte das Universitätsklinikum erneut die Weiterbewilligung der Abgabe von T..
Der Ast erhalte dieses zur Erhaltung der Muskelrestfunktion sowie der Erhaltung der Restbeweglichkeit. Es sei von einem Behandlungserfolg auszugehen, da beim Ast bislang keine weiteren schwerwiegenden Krankheitskomplikationen (z.B. behandlungsbedürftige Pneumonien) aufgetreten seien. Die Vermeidung bzw. die Herauszögerung der genannten Erkankungskomplikationen korreliere aus fachärztlicher Sicht direkt mit der konsequenten Einnahme des Medikaments T.. Es ergäben sich keine Hinweise auf unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen. An der komplexen medizinischen Situation des Ast habe sich seit der letzten Antragstellung auf Kostenübernahme keine Änderung ergeben.
Die Einschätzung, aufgrund derer die Zulassungserweiterung bei nicht gehfähigen Patienten abgelehnt worden sei, gelte inzwischen als überholt. Die Studienlage bestätige die Wirksamkeit von T. auch bei nicht gehfähigen Patienten eindeutig. Diesbezüglich verweise man auf die Ergebnisse der Phase-3-Studie ACT DMD. Danach könne der progressive Verlauf der Erkrankung mit dem Einsatz von T. verlangsamt werden, obwohl die Erkrankung bei Verlust der Gehfähigkeit als weit fortgeschritten angesehen werden könne. Die Ergebnisse hätten zur Folge, dass nach EMA-Beschluss der Satz „keine Wirksamkeit bei gehunfähigen Patienten nachgewiesen“ in der Fachinformation gestrichen worden und T. auch zur Fortsetzung der Therapie für alle Patienten, die unter T. die Gehfähigkeit verlieren würden, befürwortet und zugelassen sei.
Auf Nachfrage der Ag wurde seitens des Universitätsklinikums eine Pressemitteilung der PTC Therapeutics vom 29.06.2020 („EU label update supports T. use in patients who became non-ambulatory while on therapy“) übersandt.
Die Ag beteiligte nochmals den MDK.
Dieser führte unter dem 20.10.2020 aus, dass sozialmedizinisch entscheidend die Bewertung der EMA sei, die eine beantragte Zulassungserweiterung des Arzneimittels zurückgewiesen habe. Gemäß BSG-Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, habe ein Versicherter auch bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung keinen Anspruch auf Versorgung mit einem im Ausland für diese Indikation zugelassenen Arzneimittel, wenn die Europäische Arzneimittel-Agentur im zentralisierten Zulassungsverfahren die Zulassung des Arzneimittels zur Behandlung dieser Erkrankung bereits abgelehnt habe.
Eine sozialmedizinische Befürwortung des Off-Label-Use laut der Rechtsprechung des BSG könne im vorliegenden Fall nicht erfolgen, auch wenn keine medikamentösen Behandlungsalternativen genannt werden könnten.
Mit Bescheid vom 26.10.2020 teilte die Ag dem Ast mit, dass die Voraussetzungen für die Verordnung von T. nicht mehr erfüllt seien. Eine Abgabegenehmigung sei der Ag daher nicht möglich, da das Arzneimittel für sein Erkrankungsbild nicht zugelassen worden sei.
Mit Schreiben seiner Mutter vom 13.11.2020 erhob der Ast hiergegen Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 17.12.2020 beantragte der Ast Eilrechtschutz beim Sozialgericht Nürnberg.
Der Hersteller des Arzneimittels T. habe bei der europäischen Zulassungsbehörde inzwischen weitere Daten zur Wirksamkeit des Arzneimittels bei nicht mehr gehfähigen Patienten vorgelegt. Nach Prüfung habe die EMA auf diese Daten mit einer Änderung der Fachinformation reagiert. Der bisherige Zusatz in Abschnitt 4.1 „Bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen.“ sei ersatzlos gestrichen worden. Die aktuelle Fachinformation laute seit dem 23.07.2020 in Abschnitt 4.1 nunmehr:
T. wird angewendet für die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie infolge einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen bei gehfähigen Patienten im Alter ab 2 Jahren (siehe Abschnitt 5.1).
Das Vorliegen einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen ist durch Gentest nachzuweisen (siehe Abschnitt 4.4).
In medizinischen Fachkreisen bestehe inzwischen ein weitgehender Konsens darüber, dass jedenfalls eine Weiterbehandlung mit T. nach Verlust der Gehfähigkeit medizinisch angezeigt sei.
Die Behandlung des Ast erfolge innerhalb des zugelassenen Anwendungsgebiets von T.. Die Therapie sei beim Antragsteller zu einem Zeitpunkt aufgenommen worden, zu dem er noch gehfähig gewesen sei und sein Krankheitsbild innerhalb des (damals) noch zugelassenen Anwendungsgebiets gelegen sei. Der Verlust der Gehfähigkeit unter fortlaufender Therapie führe nicht dazu, dass die Fortführung der Behandlung als „off-label“ anzusehen sei. Maßgeblich für die Beurteilung sei der Zeitpunkt der Therapieeinleitung.
Dies müsse jedenfalls unstreitig seit der Anpassung des Labels durch die EMA zum 23.07.2020 gelten. Hinsichtlich des Wegfalls des Zusatzes „bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen.“ in Abschnitt 4.1 der Fachinformation sei dem Label kein Hinweis mehr zu entnehmen, dass die Fortführung einer „in-label“ begonnenen Therapie auch nach Verlust der Gehfähigkeit außerhalb des Anwendungsgebietes läge.
Rein hilfsweise, für den Fall, dass das Gericht der vorherigen Begründung nicht folge, ergebe sich jedenfalls ein Anspruch des Ast aus § 2 Abs. 1a SGB V. Demnach hätten Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steh, Anspruch auf eine andere Leistung, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe.
Auch in vergleichbaren Situationen hätten Sozialgerichte in jüngerer Zeit den Anspruch von Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne auf Behandlung mit nicht zugelassenen Arzneimitteln oder mit Arzneimitteln außerhalb ihrer Zulassung bestätigt (z.B. SG für das Saarland, Beschluss vom 21.09.2017 – S 1 KR 29/17 ER; SG Duisburg, Beschluss vom 10.08.2018 – S 9 KR 596/18 ER).
Die Eilbedürftigkeit zeige sich bereits in der Lebensbedrohung aufgrund des stetig voranschreitenden Muskelabbaus, nicht zuletzt mit Blick auf die lebenswichtige Muskel- und Lungenmuskulatur. Eine weitere Unterbrechung der für den Ast erforderlichen Therapie würde noch weiteren Schaden durch die rasche, nicht mehr durch T. gebremste Progression der Erkrankung mit sich bringen. Eine Selbstversorgung scheide aufgrund der (wie auch bei anderen seltenen Erkrankungen üblichen) hohen Therapiekosten aus, die sich im Jahr auf einen größeren dreistelligen (?) Betrag belaufen würden.
Der Ast beantragt die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig, bis zum Eintritt der Rechtskraft in der Hauptsacheentscheidung, die Versorgung des Antragstellers mit dem Arzneimittel T. (Wirkstoff Ataluren) zu genehmigen.
Die Ag beantragt den Antrag zurückzuwiesen.
Allein das Weglassen aus der Fachinformation zu T. des Satzes „Bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen“ lasse den Schluss, dass die EMA ihre Bewertung gegenüber dem Einsatz von T. bei nicht gehfähigen Patienten geändert habe, nicht zu. Die Zulassungsindikation bleibe auch nach der Änderung auf gehfähige Patienten beschränkt.
Auf die ausführliche Antragserwiderung (Bl. 77-82 der Gerichtsakte) wird verwiesen.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Ag verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag hat Erfolg.
Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2).
Ein Anordnungsantrag ist begründet, wenn das Gericht auf Grund einer hinreichenden Tatsachenbasis durch Glaubhaftmachung (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO) und/oder im Wege der Amtsermittlung (§ 103 SGG) einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund bejahen kann. Ein Anordnungsanspruch liegt vor, wenn das im Hauptsacheverfahren streitige materielle Recht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Ein Anordnungsgrund ist zu bejahen, wenn es für den Beschwerdeführer unzumutbar erscheint, auf den rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden. Ist die Klage offensichtlich zulässig und begründet, vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, ohne dass auf ihn aber verzichtet werden kann (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 29). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist eine unfassende Interessenabwägung erforderlich, wobei die Intensität einer drohenden Verletzung von Grundrechten, die wirtschaftlichen Verhältnisse, unbillige Härten und die Mitverantwortung des Antragstellers einzubeziehen sind (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 29a).
Bei der Auslegung und Anwendung der Regelungen über den vorläufigen Rechtsschutz sind die Gerichte gehalten, der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte, insbesondere desjenigen aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), Rechnung zu tragen. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1, 14; Beschluss vom 25. Oktober 1988 – 2 BvR 745/88 – BVerfGE 79, 69, 74). Dies gilt sowohl für Anfechtungs- als auch für Vornahmesachen. Hierbei dürfen die Entscheidungen der Gerichte grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – Breith 2005, 803, 806; Kammerbeschluss vom 27. Mai 1998 – 2 BvR 378/98 – NVwZ-RR 1999, 217, 218). Dabei darf die einstweilige Anordnung grundsätzlich die endgültige Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 86 b, Rn. 31).
Jedoch stellt Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In solchen Fällen sind die Gerichte, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, gehalten, die Sach- und Rechtslage eingehend zu prüfen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Februar 2009 – 1 BvR 120/09 – NZS 2009, 674, 675; Kammerbeschluss vom 19. März 2004 – 1 BvR 131/04 – NZS 2004, 527, 528). Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Juli 1996 – 1 BvR 638/96 – NVwZ 1997, 479, 480). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Februar 2009 – 1 BvR 120/09 – NZS 2009, 674, 675; Kammerbeschluss vom 29. November 2007 – 1 BvR 2496/07 – NZS 2008, 365, 366; Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – Breith. 2005, 803, 806 f.).
Ausgehend von diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erfüllt. Die im vorliegenden Fall vorzunehmende Folgenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus.
Der Antragsteller hat bei der hier vorzunehmenden Interessenabwägung den Anordnungsanspruch und -grund für die Therapie mit T. gemäß den Kriterien für den Off-Label-Use (vgl. Axer in Becker/Kingreen, SGB V, 5. Auflage, 2017, § 31, Rn. 24-28) i. V. m. § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) glaubhaft gemacht, weshalb die Antragsgegnerin diese Behandlung vorläufig zu genehmigen hat.
Zwar kann der Antragsteller mangels indikationsbezogener Zulassung von T. die Behandlung seiner Muskeldystrophie Duchenne zu Lasten der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 i. V. m. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht verlangen. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst unter anderem die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 SGB V). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der GKV nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 3, § 12 Abs. 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung nach nationalem Recht (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz) oder nach dem Recht der Europäischen Union fehlt. Das Fertigarzneimittel T. ist gemeinschaftsrechtlich nach Maßgabe der VO (EG) Nr. 726/2004 zwar für die Behandlung der Muskeldystrophie Duchenne bei gehfähigen Patienten ab dem Alter von 2 Jahren zugelassen, der Antrag, die Indikation auch auf nicht gehfähige Patienten zu erstrecken, wurde von der EMA jedoch abgelehnt. Dass mittlerweile die Fachinformation geändert wurde, ändert nach Ansicht der Vorsitzenden am Zulassungsumfang nichts.
Der Antragsteller hat vorliegend jedoch einen Anspruch nach den Kriterien für den Off-Label-Use in Verbindung mit § 2 Abs. 1a SGB V glaubhaft gemacht. Nach § 2 Abs. 1a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse. Die Krankenkasse erteilt für Leistungen nach Satz 1 vor Beginn der Behandlung eine Kostenübernahmeerklärung, wenn Versicherte oder behandelnde Leistungserbringer dies beantragen. Mit der Kostenübernahmeerklärung wird die Abrechnungsmöglichkeit der Leistung nach Satz 1 festgestellt.
Unstreitig liegt bei einer Muskeldystrophie Duchenne eine Erkrankung i.S.d. § 2 Abs. 1a SGB V vor. Die begehrte neue Behandlungsmethode ist dieser Erkrankung die einzig verbleibende Therapieoption für den Antragsteller. Die Vorsitzende folgt insoweit den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen der behandelnden Ärzte des Universitätsklinikums Erlangen (z.B. Stellungnahme vom 15.09.2020) und auch seitens des MDK wird ausgeführt, dass keine medikamentösen Behandlungsalternativen aufgezeigt werden können (Gutachten vom 20.10.2020).
Die Vorsitzende geht auch davon aus, dass bei dem Antragsteller eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Seitens des Ast wurde entsprechende medizinische Fachliteratur vorgelegt (Expertenempfehlung: Therapie nichtgehfähiger Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne, Der Nervenarzt 2020, https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs00115-020-01019-3), aus der hervorgeht, dass auch Patienten nach Verlust der Gehfähigkeit von einer Behandlung mit Ataluren profitieren können:
„Für Patienten mit DMD aufgrund einer Nonsense-Mutation (nmDMD), ca. 13% aller DMD-Patienten, steht Ataluren als potenziell dystrophinwiederherstellende, krankheitsmodifizierende Therapie zur Verfügung; klinische Daten aus dem STRIDE-Register zeigen eine verzögerte Krankheitsprogression auch nach Verlust der Gehfähigkeit.“
Zwar hat das Bundessozialgericht in einer neueren Entscheidung (BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR 10/16 R – (BSGE, SozR 4-2500 § 2 Nr. 6, Rn. 17 ff., juris) § 2 Abs. 1a SGB V dahingehend ausgelegt, dass § 2 Abs. 1a SGB V den Schutzzweck des Arzneimittelzulassungsrechts nicht konterkarieren darf.
Grund für die einschränkende Auslegung des § 2 Abs. 1a SGB V durch das Bundessozialgericht in der Entscheidung vom 13.12.2016 (B 1 KR 10/16 R) war, die zwingenden Sicherungen des Arzneimittelzulassungsrechts zum Schutz von Leben und Gesundheit der Versicherten nicht außerhalb klinischer Studien gestützt auf die Prinzipien der grundrechtsorientierten Auslegung auszuhebeln, faktisch zu unterlaufen und zu umgehen (BSG, Urteil vom 13.12.2016 – B 1 KR 10/16 R -, Rn. 20-24, juris).
Ohne der Rechtsprechung des BSG zu widersprechen, hält es die Vorsitzende aufgrund von sich zwischenzeitlich ergebenden neuen Erkenntnissen und unter Berücksichtigung des tatsächlichen Behandlungserfolges bei dem Antragsteller nicht für ausgeschlossen, dass der Nutzen der Therapie mit T. wissenschaftlich zu belegen ist.
So wird in der bereits oben zitierten Übersichtsarbeit (Expertenempfehlung) folgendes ausgeführt:
„In der Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) vom 01.12.2016 wurde zunächst kein Zusatznutzen bei nichtgehfähigen Patienten gesehen (https://www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung/239/), neue Daten legen das aber nahe. So zeigte die Gabe von Ataluren zusätzlich zur Standardtherapie im Krankheitsverlauf einen signifikant verzögerten Verlust der Gehfähigkeit und einen längeren Erhalt proximaler Muskelfunktionen als mit der Standardtherapie alleine [Mercuri E, Muntoni F, Osorio AN et al (2020) Safety and effectiveness of ataluren: comparison of results from the STRIDE registry and CINRG DMD natural history study. J Comp Eff Res 9(5):341-360. https://doi.org/10.2217/cer-2019-0171]. Hierbei wurden anhand einer Propensity-matching-Analyse mit Ataluren behandelte Patienten aus dem STRIDE-Register (n = 181, davon 17 nichtgehfähig) mit Patienten der Natural History Study der Cooperative International Neuromuscular Research Group (CINRG DNHS; n = 181) verglichen. Bei Atalurenbehandelten Patienten traten zudem die für nichtgehfähige Patienten relevanten Meilensteine einer pulmonalen Verschlechterung (FVC%p <60%, FVC%p <50%, FVC <1 l) in einem höheren Lebensalter auf als bei gematchten Patienten der CINRG-DHNS-Kohorte. In allen Studien waren Patienten sowohl mit als auch ohne gleichzeitige Therapie mit Glukokortikoiden eingeschlossen. Ataluren zeigte eine gute Verträglichkeit, unerwünschte Ereignisse traten mit Ausnahme von Diarrhö, Erbrechen und Infektionen der oberen Atemwege etwa gleich häufig in der Behandlungsgruppe wie unter Placebo auf.
Die Therapie mit Ataluren ist bei Patienten, deren DMD auf einer Nonsense-Mutation beruht, ab einem Alter von 2 Jahren zugelassen. Ataluren kann Patienten mit und ohne gleichzeitige Glukokortikoidtherapie verabreicht werden. Hinweise für eine verzögerte Krankheitsprogression im Hinblick auf relevante pulmonologische Endpunkte sprechen dafür, die Therapie mit Ataluren auch nach Verlust der Gehfähigkeit als „off-label use“ fortzuführen.“
Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V unter anderem eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf voraussetzt. Eine Aussicht auf Heilung wird auch von den behandelnden Ärzten nicht angenommen. Eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf ist bei dem Antragsteller aber nach den Ausführungen der behandelnden Ärzte des Ast zu verzeichnen. In dieser notstandsähnlichen Lage, in der der Antragsteller mit vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung regulär umfassten Mitteln nicht mehr behandelt werden kann, muss er nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen. Die Schutzwirkungen des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vermitteln in dieser ausweglosen Ausnahmesituation über diesen verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch hinaus einen subjektivrechtlichen Grundrechtsschutz. Die Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich an der grundrechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 -, Rn. 23, 25, juris; BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 BvR 2056/12 -, Rn. 18, juris).
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn der Antragsteller bei Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache Gefahr laufen würde, seine Rechte nicht mehr realisieren zu können oder gegenwärtige schwere unzumutbare rechtliche oder erhebliche wirtschaftliche Nachteile erlitte (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., 2017, § 86b, Rn. 29a). Die individuelle Interessenlage des Antragstellers – unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Interessenlage der Antragsgegnerin, der Allgemeinheit oder unmittelbar betroffener Dritter – muss es unzumutbar erscheinen lassen, den Antragsteller zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Die medikamentöse Behandlung des Antragstellers ist für diesen lebensnotwendig, so dass die Möglichkeit des Eintritts einer lebensbedrohlichen Situation nicht ausgeschlossen werden kann. Der Rechtsschutz durch die Hauptsache käme für den Antragsteller bei dieser Sachlage möglicherweise zu spät. Dagegen führt das Unterliegen der Antragsgegnerin allenfalls zu wirtschaftlichen Auswirkungen. Bei den Angaben in der Antragsschrift, die von einem höheren dreistelligen Betrag spricht, handelt es sich offensichtlich um einen Schreibfehler. Auszugehen ist vielmehr von einem sechsstelligen Betrag, der im Jahr für die Behandlungskosten zu erwarten ist.
Die Folgenabwägung führt daher zu dem Ergebnis, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, den Antragsteller vorläufig mit der begehrten Therapie zu versorgen bzw. die anfallenden Kosten zu übernehmen. Zur Klarstellung sei angemerkt, dass sich diese Verpflichtung ausschließlich auf die nach Erlass des Beschlusses anfallenden Maßnahmen/Kosten bezieht. In einem Verfahren, welches auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtet ist, beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet. Dies folgt daraus, dass ein Anordnungsgrund ein eiliges Regelungsbedürfnis erfordert, das regelmäßig nur für die Zukunft besteht. Dies bedeutet aber zugleich, dass die Bejahung eines Anordnungsgrundes grundsätzlich ausscheidet, soweit Leistungen für die Vergangenheit begehrt worden wären (Landessozialgericht [LSG] B-Stadt-Brandenburg, Beschluss vom 02.11.2011 – L 9 KR 284/11 B ER – juris Rn. 2), was vorliegend nicht der Fall ist.
Die Vorsitzende geht davon aus, dass mit der Befristung auf zunächst das Kalenderjahr 2021 dem Bedürfnis der Parteien nach einer Evaluation des weiteren Behandlungsverlaufs und der Möglichkeit zur Berücksichtigung neuerer medizinischer Erkenntnisse Rechnung getragen werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.