Aktenzeichen L 5 KR 94/18
Leitsatz
1. Abgebrochene Versuche der künstlichen Befruchtung zählen nicht als Behandlungsmaßnahme.
2. Abgebrochene Maßnahmen zählen auch bei freiwilligen Satzungsleistungen nicht als versuchte Behandlungsmaßnahme
Verfahrensgang
S 6 KR 537/17 2018-01-30 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30.01.2018 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 22.05.2017 in Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28.09.2017 verurteilt, der Klägerin den Eigenteil des im November /Dezember 2017 begonnenen Behandlungszyklus in Höhe von 1.669,99 € zu erstatten.
II. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte in beiden Instanzen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und begründet.
Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage auf Kostenerstattung abgewiesen. Die Klägerin hat einen Anspruch aus § 19b Abs. 1 der Satzung der Beklagten (§§ 11 Abs. 6, 194 Abs. 2 S. 2 SGB V) auf Erstattung der Kosten des geleisteten Eigenanteils für die Behandlung im November/Dezember 2017 in Höhe von 1.669,99 €. Der Anspruch ergibt sich direkt aus der Satzung (dazu Ziff. I) als ergänzender Anspruch parallel zur GKV-Leistung (dazu Ziff. II). Deshalb werden das gegenständliche Urteil, der Bescheid und der Widerspruchsbescheid, welche die Klägerin in ihren Rechten auf Kostenerstattung verletzen, aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung verurteilt.
I.
Die Anspruchsgrundlage auf Kostenerstattung ist die Satzung der Beklagten.
1. In Auswertung der Akten der Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge ist zunächst festzustellen, dass die Klägerin und ihr Ehemann sämtliche Voraussetzungen des § 27a SGB V erfüllen. Medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft sind nach ärztlichen Feststellungen erforderlich, die übrigen Voraussetzungen nach § 27a Abs. 1 Nr. 2-5 SGB V liegen vor, die Altersgrenzen des § 27a Abs. 3 S. 1 SGB V sind eingehalten, die Behandlungspläne sind zur Genehmigung gem.§ 27 Abs. 3 S. 2 SGB V vorgelegt worden. In der Folge sind auch die entsprechenden Voraussetzungen tatbestandlich erfüllt, die § 19b der Satzung aufbauend auf der gesetzlichen Regelung verlangt. Auch sind die Eigenanteilskosten in Höhe von 1.699,99 € tatsächlich angefallen, beziffert und belegt. Diese Voraussetzungen sind im Übrigen auch zwischen den Beteiligten nicht streitig.
2. Aus dem Wortlaut „übernimmt die Kosten“ ergibt sich ein direkter Kostenerstattungsanspruch aus der Satzung. Es bedarf keines Rückgriffs auf § 13 Abs. 3 SGB V als Anspruchsgrundlage, denn § 13 Abs. 3 SGB V ist als gesetzlicher Kostenerstattungsanspruch vorliegend nicht vorrangig. Dieser regelt im Grundsatz einen Fall des sog. Systemversagens, die nicht rechtzeitige Erbringung einer Leistung (Abs. 3 S. 1 Alt. 1) oder die rechtswidrige Leistungsablehnung (Abs. 3 S. 1 Alt. 2), als Ausprägung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches (BSGE 79, 125 (126); NZS 2007, 84 (86)). Er verpflichtet die Krankenkassen zur Vornahme einer Rechtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustandes (= Kostenerstattung) der bestehen würde, wenn sie ihrer Rechtspflicht systemgemäß nachgekommen wäre (vgl. BSGE 65, 21 (26)), d.h. rechtzeitig geleistet (§ 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 SGB V) oder die Leistung nicht zu Unrecht verweigert (§ 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V) hätte (vgl. Kingreen in Becker/Kingreen, Gesetzliche Krankenversicherung, 6. Aufl. 2018, § 13 Rz. 16f.). Vorliegend hat die Beklagte hingegen die gesetzlich bestimmten Leistungen erbracht. Sie hat für den streitgegenständlichen Behandlungszyklus Novemver/Dezember 2017 die Kosten gemäß § 27a SGB V übernommen.
Streitig ist allein der genuine Anspruch auf Kostenerstattung als Satzungsleistung, und zwar direkt aus dem Mitgliedschaftsverhältnis der Klägerin und deren Ehemanns bei der Beklagten. Beide erfüllen tatsächlich das über die Voraussetzungen des § 27a SGB hinausgehende Erfordernis der Mitgliedschaft bei der Beklagten. Systemkonform rechnen die Leistungserbringer, wie es § 27a SGB V vorsieht, 50% der erbrachten Leistungen mit der Beklagten direkt ab und 50% mit ihren Patienten (Ärzte) bzw. Kunden (Apotheken) ab. Diesen Eigenanteil bekommen die Versicherten der Beklagten dann als Satzungsleistung erstattet. Weil hier die Leistung satzungswidrig nicht erfolgt ist, hat die Klägerin einen direkten Anspruch aus der Satzung.
II.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung des Eigenanteils für drei Behandlungsmaßnahmen aus der Satzung. Bei der Begrenzung auf drei Versuche zählen nur Befruchtungsversuche, welche vollständig durchgeführt worden sind, ohne eine Schwangerschaft zu begründen. Dies sieht § 27a SGB V vor (dazu 1.). Eine andere Definition von „Versuch“ in der Satzung durch Auslegung der Beklagten ist mangels Transparenz nicht zulässig (dazu 2.). Die Definition ist auch nicht durch das Schreiben vom 27.10.2016 im Verhältnis zu Klägerin anspruchsbegrenzend festgesetzt worden (dazu 3.).
1. Ausgangspunkt ist der Anspruch auf Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung als GKV-Leistung nach § 27a SGB V. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des § 19b der Satzung „zusätzlich zu den gesetzlich geregelten Ansprüchen“. Auch nach Auffassung und Praxis der Beklagten zählen für § 27a SGB V nur abgeschlossene Behandlungsversuche, d.h. inklusive Befruchtung und Embryonentransfer. Dies regelt die Richtlinie des G-BA gemäß § 27a Abs. 4 SGB V. Abgebrochene Versuche zählen dabei nicht als Behandlungsmaßnahme (RL Ziff. 8, allg. Meinung Lit. z.B KassKomm, Orlowski/Rau/Wasem, BeckOK, BT-Dr. 11/6760 S. 145, BR-Drucks. 65/90, S. 34). Denn Hintergrund der gesetzgeberischen Begrenzung auf drei Versuche ist nicht eine Kostenbegrenzung im Rahmen der Leistungen nach § 27a SGB V – dies wird durch den Eigenanteil geregelt – sondern das Tatbestandsmerkmal der hinreichenden Erfolgsaussicht. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass diese nach drei Versuchen (vor 2004 nach vier Versuchen) nicht mehr besteht, da aus medizinischer Sicht die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft danach deutlich zurückgeht (BT-Drucks. 15/1525, S. 83). Unter dem gleichen Gesichtspunkt hat der Gesetzgeber das weibliche Höchstalter auf 40 und das männliche auf 50 Jahre begrenzt (§ 27a Abs. 3 S. 1 SGB V). Wenn jedoch Schwangerschaften eintreten, besteht ein Anspruch gegen die GKV auf weitere Leistungen der künstlichen Befruchtung ohne numerische Beschränkungen.
Diese Regelungen stehen auch für die Beklagte außer Frage, denn sie hat 50% der Kosten für die streitgegenständliche Behandlung im November/Dezember 2017 als GKV-Leistung übernommen.
2. § 19b der Satzung der Beklagten bestimmt für die zusätzlichen Leistungen keine anderen Voraussetzungen als § 27a SGB V für den gesetzlichen Anteil.
a. Die Beklagte legt ihre Satzungsleistung auf Übernahme des Eigenanteils dahingehend aus, dass der Versuch der Herbeiführung einer Schwangerschaft bereits mit der Verordnung der hormonstimulierenden Medikamente beginnt.
„Medizinische Maßnahmen“ iSd. § 27a SGB V bezeichnen nicht die einzelnen medizinischen Vorgänge, die zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich sind, sondern mehrere aus solchen Einzelvorgängen zusammengefasste Gesamtvorgänge bezogen auf jeweils einen Behandlungszyklus. Dies folgt aus dem Zweck der Vorschrift. Ausgangspunkt ist der natürliche Zeugungsakt, mit dem eine Schwangerschaft herbeigeführt werden soll. Diesen ersetzt die künstliche Befruchtung. Mit dem Maßnahmebegriff wird zeitlich der zyklusbezogene extrakorporale Befruchtungsvorgang samt Eizellenübertragung umschrieben (LSG NRW – L 5 KR 20/07 unter Verweis auf vgl. BSG SozR 3-2500 § 27a Nr. 1; BSG SozR 4-2500 § 27a Nr. 1). Die so definierte Maßnahme der Befruchtung kann zu zwei Ergebnissen führen; entweder es kommt zur Befruchtung und Schwangerschaft, dann liegt eine erfolgreiche Maßnahme vor; oder die Gesamtmaßnahme bleibt nach dem Embryonentransfer ohne Erfolg, so dass sie nur der Versuch der künstlichen Befruchtung bleibt. Dem widerspräche es, die Gesamtheit der Maßnahme aufzuteilen und einen Versuch bereits bei Abbruch im Stadium der Follikelreifung anzusetzen. Auch das Verwaltungs-/Beihilferecht stellt bei einem Behandlungsversuch auf den durch einen Embryonentransfer abgeschlossenen Behandlungsvorgang ab (vgl. OVG Münster, Urt. v. 19.01.2018 – 1 A 2044/15).
Die Begrifflichkeit des „Maßnahmenversuchs“ kennt weder das Gesetz noch die Richtlinie des G-BA. Die Maßnahmen, in ihren verschiedenen Einzelvorgängen zur Substitution des Zeugungsakts, insgesamt stellen den Versuch der Herbeiführung einer Schwangerschaft dar.
b. Die Beklagte ist im Rahmen ihrer Zusatzangebote (§ 11 Abs. 6 SGB V) grundsätzlich berechtigt, einen Unterschied zu machen zwischen der Maßnahme, als Versuch der Herbeiführung einer Schwangerschaft, und dem Versuch der Maßnahme, d.h. eine Beschränkung ihrer Leistungspflicht auf Einzelvorgänge wie bspw. die hormonell unterstützte Eizellreifung. Sie müsste dies jedoch im Satzungswortlaut unmissverständlich deutlich machen (etwa „Der Versuch wird dabei – anders als im Rahmen der Leistung nach § 27a SGB V – nicht als die durch Embryonentransfer abgeschlossene Maßnahme definiert, sondern beginnt bereits mit der Verordnung hormonstimulierende Medikamente“). Dies fordert der Gesetzgeber im Rahmen der Mehrleistungen.
Mit der gesetzgeberischen Erlaubnis, den Preiswettbewerb der Krankenkassen in § 242 SGB V mit einem Leistungs- und Qualitätswettbewerb zu ergänzen, besteht grundsätzlich die Gefahr, dass die Kassen mit Zusatzangeboten gezielt um attraktive Versicherte werben (zur sozialpolitischen Problematik siehe Becker/Kingreen in Becker/Kingreen, SGB V, 6.Aufl. 2018, § 11 Rz. 40). Nachvollziehbar besteht dieses Risiko insbesondere bei Satzungsleistungen im Bereich der künstlichen Befruchtung, die auf der Mitgliedschaft beider Ehepartner aufsetzen. Der Gesetzgeber fördert zwar den Wettbewerb der Kassen, fordert dabei jedoch auch, dass die Art, die Dauer und der Umfang der jeweiligen Satzungsleistungen klar durch die Krankenkassen definiert und für den Einzelnen Versicherten verständlich dargestellt werden (BTDrucks 17/6906, S. 53). Hier wird zwischen dem Anspruch aus dem Gesetz und dem „zusätzlichen“ Anspruch aus der Satzung auf die ergänzenden 50% der Gesetzesleistung eine Unterscheidung vorgenommen, ohne dies ausreichend transparent zu machen. Nach dem Empfängerhorizont eines verständigen Versicherten ist nicht ersichtlich, dass die Kostenübernahme in Höhe von 50% aus § 27a SGB V nach anderen Voraussetzungen erfolgt als die Kostenerstattung der übrigen 50% aus der Satzung.
Die einschränkende Auslegung von § 19b der Satzung durch die Beklagte ist im Ergebnis nicht zulässig. Der Anspruch auf Leistung aus der Satzung besteht daher in dem Umfang, den ein verständiger Versicherten aus seinem Mitgliedschaftsverhältnis erwarten kann.
3. Zu keinem anderen Ergebnis führt das Schreiben der Beklagten vom 27.10.2016. Die Beklagte legt darin erstmals ihre Auslegung von § 19b der Satzung offen, indem sie mitteilt, dass nicht komplett durchgeführte Maßnahmen auf die Anzahl der Versuche angerechnet werden.
Es ist festzustellen, dass das Schreiben der Beklagten vom 27.10.2016 nicht die tatsächlichen Voraussetzungen eines Verwaltungsakts nach § 31 SGB X enthält. Obgleich die Überschrift „Genehmigung der Kinderwunschbehandlung“ einen Regelungsgehalt im Einzelfall verspricht, folgt dieser nicht. Das Schreiben enthält keinen Entscheidungstenor, sondern nur Mitteilungen zur Satzungsauslegung und der einzureichenden Unterlagen. Die Genehmigung der Leistungen nach § 27a SGB V iSd § 31 SGB X ist separat auf dem Behandlungsplan des MVZ erfolgt. Dieser ist nicht streitgegenständlich.
Wenn man dennoch von einem Bescheid ausgehen will, ist dieser nicht bestandskräftig, sondern Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden. Der Widerspruch der Klägerin vom 22.06.2017 (mangels Rechtsbehelfsbelehrung:des Schreibens vom 27.10.2016 mit Widerspruchfrist gemäß § 66 Abs. 2 SGG) bezieht sich auf die Begrifflichkeit bzw. Zählweise der „Versuche“ im Rahmen der Kostenerstattung des Eigenanteils und erfasst daher auch die Auslegung der Beklagten im Schreiben vom 27.10.2016.
III.
Nicht streitgegenständlich sind eventuelle Rückforderungsansprüche der Beklagten hinsichtlich der Kostenerstattung für die abgebrochenen Maßnahmen im Oktober/November 2016 und Februar 2017. Klarzustellen ist insoweit, dass im Rahmen der GKV-Leistung gemäß § 27a SGB V die Hormonstimulation ein Einzelschritt der Behandlungsmaßnahme ist (vgl. Ziff. 12.3 der Richtlinie über künstliche Befruchtung). Die Kosten von vorbereitenden Hormonstimulationen werden als GKV-Leistung (zu jeweils 50%) ohne numerische Begrenzung übernommen. Ein Gleichlauf von Satzungsleistung und gesetzlicher ist auch hier Inhalt der Satzung.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision wird zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Auslegung einer zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch im selben Wortlaut bestehenden Satzungsbestimmung einer bundesweit tätigen Krankenkasse mit knapp sechs Millionen Versicherten hat grundsätzliche Bedeutung.