Aktenzeichen L 15 VG 31/14
SGB V SGB V § 52 Abs. 2
SGG SGG § 193
StGB StGB § 113 Abs. 1, § 125, § 223 Abs. 1, § 240
BGB 630e Abs. 1
BVG BVG § 1 Abs. 3
Leitsatz
1. Selbst wenn die Operation als vorsätzliche Körperverletzung einen strafbaren ärztlichen Eingriff darstellen würde, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Gewalttat im Sinn des OEG vorliegt, wenn die Operation zum Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv also aus Sicht eines verständigen Dritten jedenfalls auch dem Wohl der Klägerin im Sinn der Rechtsprechung des BSG gedient hat. (amtlicher Leitsatz)
2. Für die Frage der feindseligen Willensrichtung bei der Vornahme eines ärztlichen Eingriffs ist auf die herrschende medizinische Meinung zum Zeitpunkt der Durchführung des ärztlichen Eingriffs abzustellen, nicht auf etwaige spätere Erkenntnisse und Änderungen des medizinischen Meinungsstands. (amtlicher Leitsatz)
3 Nach dem Willen des Gesetzgebers ist die Verletzungshandlung im OEG eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt, obwohl sich die Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 StGB gewonnenen Bedeutung orientiert. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 15 VG 9/12 2014-07-16 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16. Juli 2014 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung von Schädigungsfolgen und Versorgung nach dem OEG.
Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt ist, was die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte angeht, weitgehend identisch mit dem Sachverhalt, wie er dem Urteil des Senats vom 10.05.2016, Az.: L 15 VG 39/12, zugrunde gelegen hat.
Im Tatbestand des vorgenannten Urteils ist Folgendes ausgeführt:
„Den beigezogenen Akten des LG ist weiter zu entnehmen, dass mit Beweisbeschlüssen vom 28.03.2013, 28.10.2013 und 12.05.2014 Prof. Dr. H., Arzt für Kinder- und Jugendmedizin, mit der Erstellung eines medizinischen Sachverständigengutachtens nebst Ergänzungsgutachten beauftragt worden ist. Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat die beauftragten Gutachten unter dem 12.08.2013, 03.02.2014 und 05.08.2014 erstattet. Ergänzend wurde er in der Sitzung des LG am 26.02.2015 mündlich angehört. Der Sachverständige hat unter anderem Folgendes ausgeführt:
„Zusammenfassend liegt damit bei M. R. am ehesten eine partielle Gonadendysgenesie vor. Im Jahr 1994 wurde die Behandlung von Menschen mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung im Wesentlichen nach den Vorstellungen einer klaren Zuordnung zu den beiden Geschlechtern männlich/weiblich unter dem Gedanken eines erheblichen Sozialisierungspotentials des Menschen in einem zugeordneten Geschlecht vorgenommen. … Ich gebe daher zunächst eine deutsche Quelle, nämlich das Fachbuch „Pädiatrische Endokrinologie“, …, erschienen im Enke Verlag 1993, an. In Kapitel 5 … gibt der Autor Prof. Gernot Sinnecker die damalige Meinung zur Geschlechtszuordnung und zum Vorgehen an. Er schreibt: „Die rasche, richtige und sichere Festlegung des Geschlechts, in dem ein Kind mit zwittrigem Genitale aufwachsen soll, ist für seine weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Die Entscheidung basiert auf der Einschätzung, in welchem Geschlecht am ehesten mit einer normalen Genitalfunktion gerechnet werden kann. Diese Einschätzung ist abhängig von anatomischen Verhältnissen, insbesondere von der Größe und dem Entwicklungspotential des Phallus. Die operativen Korrekturmöglichkeiten und auch die kulturellen Gegebenheiten der betroffenen Familie müssen berücksichtigt werden. Deshalb soll diese Entscheidung gemeinsam mit Fachvertretern der Gynäkologie, der Urologie, Kinderchirurgie, Psychologie und Humangenetik getroffen werden.“ Im Verlauf heißt es: „Der äußere Aspekt des Genitale sollte weder bei den Eltern, noch bei dem Kind selbst und bei seinen Spielgefährten Zweifel an seiner Geschlechtsidentität aufkommen lassen. Deshalb ist bei allen Kindern, die ein zwittriges Genitale haben und als Mädchen aufwachsen, eine möglichst frühzeitige Korrektur des äußeren Genitale (Vulvaplastik) anzustreben. Eine Reduktionsplastik der Klitoris, bei der unter Erhaltung der Gefäßnervenstränge und der Glans nur der Phallusschaft entfernt wird, kann bei phallusähnlicher Klitorishypertrophie indiziert sein.“ Dieser Beitrag, in einem damals anerkannten Textbuch, gibt die damals vorherrschende Meinung wieder.“ (Gutachten vom 12.08.2013)
„Auch in der „Erwachsenenmedizin“ wurde das Vorgehen bei Menschen mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung dargestellt. Jean Wilson und James Griffin gehörten zu jener Zeit zu den international bekanntesten Internisten, die sich damit beschäftigten. Diese beiden Ärzte und Wissenschaftler haben das Kapitel „Disorders of Sexual Differentiation“ … geschrieben …, in dem es heißt, dass „die Entscheidung zum Vorgehen der Genitalauffälligkeiten vom individuellen Fall“ abhängen. Hier heißt es auch, dass „männliche Neugeborene mit ambivalenten Genitale“ bei „schwerwiegenden Fehlbildungen als Mädchen aufwachsen sollten und Korrekturoperationen des Genitale und Entfernung der Hoden so früh wie möglich vorgenommen werden sollten“. „In diesen Menschen ist auch eine Östrogentherapie indiziert zum angemessenen Zeitpunkt, um die Entwicklung normaler weiblicher sekundärer Geschlechtsmerkmale zu ermöglichen“. … Bei den geschlechtsangleichenden Operationen ist damals am ehesten von einer relativen Indikation ausgegangen worden, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Nach den gängigen Lehrbuchartikeln waren diese Operationen „angebracht“. …Die Bestimmung des Chromosomensatzes allein lässt also keine Zuordnung Richtung „männlich“ oder „weiblich“ zu. Dies ist aus den o.a. Ausführungen von Wilson und Griffin im Jahr 1994 zu entnehmen und ist auch in der sogenannten Chicago Consensus Conference konstatiert worden. Wir wissen, dass es bestimmte Unterschiede in manchen Organen gibt, die durch XX oder XY bedingt sind; jedoch sind die meisten anatomischen Veränderungen durch den hormonellen Einfluss hervorgerufen.“ (Ergänzungsgutachten vom 03.02.2014)
Die Klägerin kann sicherlich über die technischen und inhaltlichen Möglichkeiten der Behandlungen aufgeklärt werden und hierzu ihre Zustimmung geben. Einen Vorsatz zur falschen Aufklärung kann ich nicht erkennen. … Die Behandlung wurde von der Klägerin gewünscht, die dazu ihre Zustimmung gegeben hat. Die Behandlung ist auch heute noch lt. Consensus-Statement als medizinisch sinnvoll zu erachten, sofern die behandelte Person im weiblichen Geschlecht leben möchte.“ (Ergänzungsgutachten vom 05.08.2014)
„Menschen mit einem Chromosomensatz von 46 XY können eine komplett weibliche Anatomie mit voll ausgebildeter Gebärmutter und voll ausgebildeten Eileitern haben. Dies liegt daran, dass bei diesen die Keimdrüse nicht richtig ausgebildet ist. … Es gibt heute wie damals keine Evidenz für eine klare Behandlungsmethode. … Grundsätzlich ist eine Hormonbehandlung indiziert, zum einen als Prävention gegen Osteoporose, zum anderen zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität und der sexuellen Lebensqualität. Es werden deshalb Sexualhormone danach verabreicht, wie es dem Wunschgeschlecht des Patienten entspricht. … In der noch nicht verabschiedeten S2K-Leitlinie wird die Hormonbehandlung entsprechend dem Phänotyp empfohlen. … Zum Zeitpunkt der Behandlung im vorliegenden Rechtsstreit bestand sowohl in Deutschland, als auch in Europa die vorherrschende Meinung, dass der Chromosomensatz dem Betreffenden nicht mitgeteilt wird. Die Universitätsklinik Lübeck hat Mitte der 90-iger Jahre begonnen, das bestehende Konzept zu ändern und weitergehend aufzuklären. Dies wurde unterschiedlich gehandhabt. So ist mir bekannt, dass die Universität Münster eine solche Information den Patienten nicht gegeben hat. Meine Ausführungen gelten nicht nur für den Kinder- und Jugendbereich, sondern auch für den Erwachsenenbereich. … In unserer Klinik in Lübeck hätten wir 1995 einen Menschen, vergleichend dem vorliegenden Fall, über den Chromosomensatz aufgeklärt. Ich weiß aber, dass andere Kollegen in anderen Kliniken das nicht getan haben. Hintergrund für die war es, dass gerade ein erwachsener Mensch in einem bestimmten Geschlecht bereits sozialisiert ist und eine Information über diesen Chromosomensatz zu einer Unsicherheit führen könnte, so dass insbesondere bei erwachsenen Patienten die Angabe dieses Chromosomensatzes vermieden wurde. … Die erste Leitlinie zu diesem Themenkomplex gab es glaub ich 2007. Alle Leitlinien sind nicht evidenzbasiert. … 1995 wurde mehr dazu gedrängt, die Person einem bestimmten Geschlecht zuzuordnen, während man heute eher zurückhaltend ist und auch je nach Patientenwunsch eine Operation unterlassen kann. … Im Alter von M. R. war damals eine „Entweder-Oder-Entscheidung“ typisch. … es bestand ja die medizinisch relative Indikation, um medizinischen Schaden bzw. Nachteil abzuwenden, zum Beispiel um die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ohne Schmerzen zu ermöglichen. Eine Operation bei DSD wird dementsprechend auch von der Krankenkasse bezahlt. … Damals war das Denken so, dass eine Operation in die weibliche Richtung einfacher ist, als in die männliche. … Die anatomischen Gegebenheiten bei M. R.machten sicher eine Operation in die weibliche Richtung einfacher. Heute würde man dessen ungeachtet nach dem Sozialisationsgeschlecht entscheiden, ob und in welche Richtung man operiert. Ob 1995 bei M. R.die Möglichkeit bestand, in die männliche Richtung zu operieren, kann ich aus meiner Fachrichtung nicht beantworten. … Die Einbindung eines Psychologen bzw. Psychiaters dient dazu, herauszufinden, ob der betreffende Mensch in dem ihm bislang zugewiesenen Geschlecht weiter leben möchte oder Zweifel an der Geschlechtsidentität bestehen. Die Einbindung eines solchen Arztes ist aber kein Muss, sondern wird auch in der S2K-Leitlinie mit „sollte“ beschrieben. Die Einbindung anderer Fachbereiche war 1994 eine bloße Empfehlung in Lehrbüchern.“ (Protokoll der öffentlichen Sitzung am 26.02.2015)“
In den Gründen seines Urteils vom 10.05.2016 hat der Senat zudem Folgendes erläutert:
„Der angefochtene Bescheid ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin ist nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs der sie behandelnden Ärzte im Sinne des OEG geworden.
Wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wobei die Anwendung dieser Vorschrift gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat. Die vorsätzliche Beibringung von Gift steht nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 gleich.
Bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geht der Senat grundsätzlich von folgenden Erwägungen aus (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom 26.01.2016 – L 15 VG 30/09 -, 16.11.2015 – L 15 VG 28/13 -, 20.10.2015 – L 15 VG 23/11 – und 05.02.2013 – L 15 VG 22/09 -, m. w. N.; siehe auch: Bundessozialgericht , Urteile vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R – und 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R sowie B 9 V 3/12 R -):
Nach dem Willen des Gesetzgebers ist die Verletzungshandlung im OEG eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt, obwohl sich die Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 StGB gewonnenen Bedeutung orientiert (vgl. BSG, Urteile vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R – und 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R -, m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB wird der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person geprägt und wirkt damit körperlich auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R -, m. w. N.). Dieses Verständnis der Norm entspricht am ehesten dem strafrechtlichen Begriff der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, also einem tätigen Einsatz materieller Zwangsmittel wie körperlicher Kraft (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.). Trotz seiner inhaltlichen Nähe zur Gewalttätigkeit nach § 125 StGB setzt der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus, so dass auch ein nicht zum körperlichen Widerstand fähiges Opfer von Straftaten unter dem Schutz des OEG steht (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.).
Danach ist unter einem tätlichen Angriff im Sinne des OEG grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung zu verstehen, wobei ein tätlicher Angriff jedenfalls dann nicht vorliegt, wenn es an einer unmittelbaren Gewaltanwendung fehlt (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.). Fehlt es an einem tätlichen – körperlichen – Angriff, ergeben sich für die Opfer allein psychischer Gewalt aus § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG keine Entschädigungsansprüche (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.). Auch eine (bloß) objektive Gefährdung reicht ohne physische Einwirkung, z. B. Schläge, Schüsse, Stiche, Berührung etc., für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht aus (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.).
Von der Rechtswidrigkeit eines strafbaren tätlichen Angriffs ist auszugehen, soweit nicht ein Rechtfertigungsgrund gegeben ist. Ein Angriff, der den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt, ist grundsätzlich rechtwidrig. Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 17.08.2011 – L 15 VG 21/10 -, m. w. N.).
Mit Blick auf die hier vorliegende besondere Fallkonstellation des ärztlichen Eingriffs ist weiter maßgeblich zu beachten, dass das BSG in seinem Urteil vom 29.04.2010 – B 9 VG 1/09 R – hierzu insbesondere Folgendes ausgeführt hat:
„b) Grundvoraussetzung für die Bewertung eines ärztlichen Eingriffs als „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ iS des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist danach, dass dieser als vorsätzliche Körperverletzung strafbar ist. Deshalb ist die einschlägige Rechtsprechung der Strafgerichte, insbesondere des BGH, zu beachten. Danach erfüllt jeder ärztliche Eingriff den Tatbestand einer (vorsätzlichen) Körperverletzung iS des § 223 Abs. 1 StGB. Er bedarf grundsätzlich der Einwilligung, um rechtmäßig zu sein. Diese Einwilligung kann nur wirksam erteilt werden, wenn der Patient in der gebotenen Weise über den Eingriff, seinen Verlauf, seine Erfolgsaussichten, seine Risiken und mögliche Behandlungsalternativen aufgeklärt worden ist. Aufklärungsmängel können eine Strafbarkeit des Arztes wegen (vorsätzlicher) Körperverletzung jedoch nur begründen, wenn der Patient bei einer ordnungsgemäßen Aufklärung nicht in den Eingriff eingewilligt hätte. Das Fehlen einer „hypothetischen Einwilligung“ ist dem Arzt nachzuweisen. Eine Beschränkung der Strafbarkeit kann sich zudem unter dem Gesichtspunkt des Schutzzweckgedankens ergeben, wenn sich ein Risiko realisiert, das nicht in den Schutzbereich der verletzten Aufklärungspflicht fällt. Dies wird etwa dann in Betracht zu ziehen sein, wenn sich der Aufklärungsmangel lediglich aus dem unterlassenen Hinweis auf Behandlungsalternativen ergibt, der Patient jedoch eine Grundaufklärung über die Art sowie den Schweregrad des Eingriffs erhalten hat und auch über die schwerstmögliche Beeinträchtigung informiert ist (vgl. aus der neueren Rechtsprechung: BGH, Urteil vom 29.6.1995 – 4 StR 760/94 – BGHR StGB § 223 Abs. 1 Heileingriff 4 = MedR 1996, 22, 24 ; BGH, Urteil vom 19.11.1997 – 3 StR 271/97 – BGHSt 43, 306, 308 f = NJW 1998, 1802, 1803 ; BGH, Beschluss vom 15.10.2003 – 1 StR 300/03 – JR 2004, 251, 252 ; BGH, Urteil vom 20.1.2004 – 1 StR 319/03 – JR 2004, 469, 470 ; BGH, Urteil vom 5.7.2007 – 4 StR 549/06 – BGHR StGB § 223 Abs. 1 Heileingriff 8 = MedR 2008, 158, 159 ; BGH, Urteil vom 23.10.2007 – 1 StR 238/07 – MedR 2008, 435, 436 ; dazu auch Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 223 RdNr. 9, 15 ff, § 228 RdNr. 12 ff).
c) Der erkennende Senat entwickelt seine bisherige Rechtsprechung zur Auslegung des Rechtsbegriffs „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ iS des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG für die besondere Fallkonstellation des als vorsätzliche Körperverletzung strafbaren ärztlichen Eingriffs weiter. In aller Regel wird zwar eine Handlung, die den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt, eine Angriffshandlung iS des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein. Die Verletzungshandlung im OEG hat jedoch durch das Tatbestandsmerkmal „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ – allerdings in Anknüpfung an die Vorschriften des StGB – eine eigenständige gesetzliche Ausprägung gefunden (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 28.3.1984 – 9a RVg 1/83 – BSGE 56, 234, 235 f = SozR 3800 § 1 Nr. 4 S 8 f; BSG, Urteil vom 24.4.1991 – 9a/9 RVg 1/89 – SozR 3-3800 § 1 Nr. 1 S 2; BSG, Urteil vom 10.9.1997 – 9 RVg 1/96 – BSGE 81, 42, 43 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 11 S 38; BSG, Urteil vom 3.2.1999 – B 9 VG 7/97 R – SozR 3-3800 § 1 Nr. 14 S 56). Das bedeutet, dass nicht jeder als vorsätzliche Körperverletzung strafbare ärztliche Eingriff zugleich ein „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ iS einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung sein muss. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass ärztliche Eingriffe – wie die gesamte Tätigkeit des Arztes – von einem Heilauftrag iS des § 1 Abs. 1 Bundesärzteordnung (danach dient der Arzt der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes; vgl. dazu auch § 1 Abs. 1 Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte) bestimmt werden (vgl. hierzu Laufs in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Aufl. 2009, S 17 f; Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, S 233 f). Ärztliche Eingriffe werden demnach grundsätzlich in der Absicht durchgeführt, zu heilen und nicht in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf die körperliche Unversehrtheit des Patienten einzuwirken. Zum anderen ergibt sich die Strafbarkeit eines ärztlichen Eingriffs als vorsätzliche Körperverletzung gerade aus der Verknüpfung von vorsätzlichem Aufklärungsmangel, Fehlen einer wirksamen Einwilligung und damit rechtswidrigem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Eine strafbare vorsätzliche Körperverletzung kann bei einem ärztlichen Eingriff bereits dann vorliegen, wenn der Arzt nicht ordnungsgemäß aufgeklärt hat und der Patient die Einwilligung zum ärztlichen Eingriff bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht erteilt hätte. Es sind deshalb durchaus Fälle denkbar, bei denen der vorsätzliche Aufklärungsmangel zwar zu einer strafbaren vorsätzlichen Körperverletzung führt, es wegen einer vorhandenen Heilungsabsicht jedoch nicht gerechtfertigt ist, den ärztlichen Eingriff als eine gezielte gewaltsame Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit des Patienten, mithin als eine feindselige Angriffshandlung iS des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, zu bewerten (vgl. etwa den der Entscheidung des BGH vom 20.1.2004 – 1 StR 319/03 – JR 2004, 469 zugrunde liegenden Fall der Durchführung einer zweiten Operation zur Bergung einer bei der ersten Operation abgebrochenen Bohrerspitze bei unterlassener Aufklärung über Grund und Anlass der Maßnahme).
Für die besondere Fallkonstellation des ärztlichen Eingriffs müssen deshalb – neben der Strafbarkeit als Vorsatztat – bestimmte weitere Voraussetzungen hinzukommen, bei deren Vorliegen die Grenze zur Gewalttat, also zum „vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff“, überschritten ist. Nach Auffassung des erkennenden Senats wird ein Patient unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des OEG dann zum Gewaltopfer, wenn ein als vorsätzliche Körperverletzung strafbarer ärztlicher Eingriff objektiv – also aus der Sicht eines verständigen Dritten – in keiner Weise dem Wohl des Patienten dient. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich der Arzt bei seiner Vorgehensweise im Wesentlichen von eigenen finanziellen Interessen leiten lässt und die gesundheitlichen Belange des Patienten hintangestellt hat. Mit dem Abstellen auf das Wohl des Patienten werden neben den Fällen der Heilung einer behandlungsbedürftigen Erkrankung auch die Fälle reiner Schönheitsoperationen erfasst, also Fälle, in denen ohne jede medizinische Indikation allein den Schönheitsvorstellungen des Patienten dienende Eingriffe (s § 52 Abs. 2 SGB V) vorgenommen werden.“
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe: Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette, nämlich schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen, des Vollbeweises; für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen mit der Folge, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R -, m. w. N.). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugungsbildung zu begründen (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R -, m. w. N.).
Auch das Fehlen rechtfertigender Gründe muss im Vollbeweis erwiesen sein (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom 17.08.2011 – L 15 VG 21/10 – und 18.05.2015 – L 15 VG 17/09 ZVW -, m. w. N.), wobei der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG) greift. Die Beweiswürdigung des Gerichts hat sich an den individuellen Gegebenheiten des konkreten Falls zu orientieren, soweit nicht gesetzliche Beweisregeln existieren. Letzteres ist nicht der Fall. Generalisierungen oder typisierende Betrachtungsweisen sind daher unangebracht. Es gibt keinen beweisrechtlichen Automatismus, dass das Fehlen von Rechtfertigungsgründen anhand von unmittelbaren Beweismitteln (z. B. Zeugenaussagen, Filmmitschnitten) nachgewiesen sein müsste (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, a. a. O.). Die Rechtswidrigkeit des Angriffs kann unter Umständen auch dann als erwiesen angesehen werden, wenn der genaue Tatablauf im Übrigen nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht.
Unter Beachtung dieser Maßgaben ist die Klägerin nach Überzeugung des Gerichts nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs der sie behandelnden Ärzte im Sinne des OEG geworden. Es geht dabei von einem Geschehensablauf aus, wie er im Tatbestand des Urteils des LG vom 17.12.2015 als unstreitig festgehalten ist; er entspricht sowohl der Aktenlage als auch dem Vortrag der Klägerin im vorliegenden Verfahren.
Wie der Beklagte zu Recht in seiner erschöpfenden und zutreffenden Stellungnahme vom 08.04.2016 ausgeführt hat, bleibt vorliegend bereits fraglich, ob die angeschuldigten ärztlichen Eingriffe und Behandlungsmaßnahmen überhaupt als vorsätzliche Körperverletzung strafbar sind. Ein diesbezügliches Strafverfahren ist jedenfalls nicht durchgeführt worden.
So hat der anerkannte Experte Prof. Dr. H., der beispielsweise auch für den Deutschen Ethikrat als Sachverständiger eine schriftlichen Stellungnahme zur Intersexualität erstellt hat und dessen gutachterliche Ausführungen und Bekundungen im Verfahren der Arzthaftungsklage vor dem LG in vorliegendem Verfahren nicht nur als Urkundenbeweis, sondern auch als Sachverständigenbeweis verwertet werden können (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 117 Rdnr. 6, m. w. N.), mit Blick auf die im Rahmen der Arzthaftungsklage vor dem LG geltend gemachten Behandlungsfehler auf der Grundlage der Behandlungsdokumentation schlüssig und gut nachvollziehbar dargelegt, dass die Einleitung der feminisierenden Behandlung durch die die Klägerin behandelnden Ärzte an sich dem Stand der medizinischen Wissenschaft im Jahre 1994 entsprach. Dementsprechend hat das LG in seinem Urteil vom 17.12.2015 insoweit auch festgehalten, dass gegen die Behandlung an sich nach Überzeugung der Kammer bei vorheriger hinreichender Aufklärung der Klägerin keine Bedenken bestünden, da sie als Mädchen aufgewachsen und erzogen worden sei. Auch sei die am 15.08.1994 durchgeführte Laparoskopie indiziert gewesen und mit der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt worden. Weiterhin habe der Sachverständige zur Überzeugung der Kammer auch ausgeführt, dass die verordnete Therapie mit weiblichen Geschlechtshormonen prinzipiell dem Stand der ärztlichen Wissenschaft entsprochen habe und diesem Stand auch heute noch entspreche. Diese Einschätzung macht sich der Senat zu Eigen. Das von der Klägerin dem SG vorgelegte Literaturverzeichnis vermag insoweit keine andere Beurteilung zu rechtfertigen. Es erschöpft sich in der bloßen Auflistung von 457 Fundstellen, ohne auch nur ansatzweise einen Bezug zum konkreten, hier zur Beurteilung stehenden Sachverhalt erkennen zu lassen.
Weiter hat der Sachverständige Prof. Dr. H. bei seiner Anhörung durch das LG am 26.02.2015 bekundet, Hintergrund für das frühere Unterlassen einer vollständigen Aufklärung sei gewesen, dass gerade ein erwachsener Mensch in einem bestimmten Geschlecht bereits sozialisiert sei und eine Information über den Chromosomensatz zu einer Unsicherheit führen könne, weshalb insbesondere bei erwachsenen Patienten dessen Angabe vermieden worden sei. Allerdings sei ihm nicht bekannt, ob es Fälle gegeben habe, in denen weitere Angaben zum Beispiel über den Chromosomensatz gemacht worden seien, die dann zu schweren Folgen für den jeweiligen Menschen geführt hätten. Allgemein seien Einzelfälle beschrieben, in denen erhebliche Traumatisierungen eingetreten seien, ohne dass entschieden werden könne, ob diese aufgrund der DSD selbst eingetreten seien oder aufgrund einzelner Informationen im Aufklärungsgespräch.
Ein Weiteres kommt hinzu. Aufklärungsmängel können eine Strafbarkeit des Arztes wegen vorsätzlicher Körperverletzung nur begründen, wenn der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht in den Eingriff eingewilligt hätte, wobei das Fehlen einer „hypothetischen“ Einwilligung dem Arzt nachzuweisen ist. Angesichts der Sozialisation der Klägerin als Frau, ihrem sozialen Umfeld und Alter sowie den gesellschaftlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der Behandlung erscheint es durchaus fraglich, ob die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt nicht doch in die feminisierende Behandlung eingewilligt hätte.
Selbst wenn man unterstellt, dass die angeschuldigten ärztlichen Eingriffe und Behandlungsmaßnahmen als vorsätzliche Körperverletzung strafbare ärztliche Eingriffe darstellten, ist die Klägerin unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des OEG nicht zum Gewaltopfer im Sinne des OEG geworden. Das Gericht ist davon überzeugt, dass diese zum Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv – also aus Sicht eines verständigen Dritten – jedenfalls auch dem Wohl der Klägerin im Sinne der Rechtsprechung des BSG dienten. Dies ergibt sich aus den nachvollziehbaren und in sich schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. H., der auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin seit vielen Jahren als einer der führenden Experten für die Therapie und Begleitung von Menschen mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung – auch aus dem Erwachsenenbereich – anerkannt ist. Er war in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums bereits im streitgegenständlichen Zeitraum mit derartigen Behandlungen befasst. Das Gericht macht sich auch dessen überzeugenden Ausführungen insoweit zu Eigen.
So hat der Sachverständige Prof. Dr. H., der den Stand der medizinischen Wissenschaft unter ausführlicher Auseinandersetzung mit den führenden Literaturstimmen der damaligen Zeit dargestellt hat, in der mündlichen Verhandlung vor dem LG nochmals ausdrücklich hervorgehoben, dass es Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus medizinischer Sicht üblich gewesen sei, auf eine konkrete Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht hinzuwirken, insbesondere bei Personen im damaligen Alter der Klägerin. Weiter hat er nochmals ausdrücklich bestätigt, dass auch eine medizinisch relative Indikation bestanden habe, um medizinischen Schaden bzw. Nachteil abzuwenden, zum Beispiel um die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ohne Schmerzen zu ermöglichen; dementsprechend werde eine Operation bei DSD auch von der Krankenkasse bezahlt. Bereits in seinem Ergänzungsgutachten vom 03.02.2014 hatte er insoweit herausgearbeitet, dass bei den geschlechtsangleichenden Operationen damals am ehesten von einer relativen Indikation ausgegangen worden sei, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Nach den gängigen Lehrbuchartikeln seien diese Operationen „angebracht“ gewesen. Die Behandlung sei, so der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 05.08.2014 weiter, laut Consensus-Statement auch heute noch als medizinisch sinnvoll zu erachten, sofern die behandelte Person im weiblichen Geschlecht leben möchte. Im Übrigen sei in der sogenannten Chicago Consensus Conference auch konstatiert worden, dass der Chromosomensatz allein keine Zuordnung zum männlichen bzw. weiblichen Geschlecht zulasse. Man wisse, dass es bestimmte Unterschiede in manchen Organen gebe, die durch den Chromosomensatz bedingt seien, die meisten anatomischen Veränderungen bzw. Unterschiede würden jedoch durch hormonellen Einfluss hervorgerufen.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist dem in der Ärzte Zeitung online vom 20.05.2011 veröffentlichten Artikel letztlich keine hiervon abweichende Auffassung des Sachverständigen zu entnehmen. Der Sachverständige wird dort nämlich wie folgt zitiert:
„Doch in den letzten 15 Jahren haben sich die Behandlungsmethoden dieser Störungen und auch der Zugang dazu grundlegend geändert. Es gibt schonendere Operationsmethoden, verfeinerte Hormontherapien und vor allem werden die Familien von Anfang an bei der Überlegung einbezogen, welche Behandlungsmethoden in Frage kommen.“ …
„Nicht in allen Fällen muss sofort operiert werden. Aber früher oder später stehen Eltern doch vor der schwierigen Entscheidung, in welchem Geschlecht das Kind aufwachsen soll“, … . „Im gewissen Sinne sind es tatsächlich kosmetische Operationen“, … . „Aber es geht ja auch darum, Kindern und Jugendlichen ein Aufwachsen möglichst nah an der Normalität zu ermöglichen“, …
Zudem ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen sowohl in seinen Gutachten als auch im Rahmen seiner Anhörung in der öffentlichen Sitzung des LG am 26.02.2015 weiter davon auszugehen, dass Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – dem hier maßgeblichen Zeitraum – bei der Behandlung von Kindern mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung auf der Grundlage der damals führenden Fachliteratur ein wissenschaftlicher Standard befolgt wurde, der darauf basierte, unter Einbeziehung und mit Einwilligung der Eltern möglichst rasch eine – auch operative – Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht vorzunehmen und diese Zuordnung ab Eintritt der Pubertät durch Hormonsubstitution weiter zu festigen. Die Behandlung sei damals, so der Sachverständige weiter, im Wesentlichen mit Blick auf das Sozialisierungspotenzial des Menschen im Sinne einer klaren Zuordnung zum männlichen bzw. weiblichen Geschlecht durchgeführt worden. So habe zum Beispiel in dem im Jahr 1993 erschienenen deutschen Fachbuch „Pädiatrische Endokrinologie“ Prof. Gernot Sinnecker stellvertretend für die damals vorherrschende Meinung eine rasche, richtige und sichere Festlegung des Geschlechts, in dem ein Kind mit zwittrigen Genitale aufwachsen solle, für seine weitere Entwicklung als entscheidend angesehen. Der äußere Aspekt des Genitale solle weder bei den Eltern, noch bei dem Kind selbst und bei seinen Spielgefährten Zweifel an seiner Geschlechtsidentität aufkommen lassen. Das Vorgehen sei auch von Erwachsenenmedizinern nicht anders beurteilt worden, wie sich etwa aus dem von Jean Wilson und James Griffin verfassten Kapitel „Disorders of Sexual Differentiation“ in dem Lehrbuch „Harrison’s Principles of Internal Medicine“ ergebe.
Auf dem Gebiet der Therapie von Kindern gebe es auch eine Veröffentlichung von Money aus dem Jahre 1955, zu der sich Diamond in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dahingehend geäußert habe, dass die Meinungen von Money überholt und weitere biologische Phänomene zu erklären seien. Dies habe sich zunächst bei amerikanischen Selbsthilfegruppen ausgewirkt und in verschiedenen Fallbeschreibungen, in denen zum Teil auch nur die Wirkungsweise von Hormonen auf die Geschlechtsidentität beschrieben worden sei. Gullbrandson und Diamond hätten sodann 1997 in einer wegweisenden Publikation auf die bereits pränatale Prägung des Geschlechts hingewiesen und daraus abgeleitet, dass die Geschlechtszuordnung wesentlich differenzierter gesehen werden müsste. Diamond habe dann Anfang dieses Jahrtausends eine vorbehaltlose Aufklärung gefordert, was letztlich zu der Konsensuskonferenz im Jahre 2005 mit der Publikation Hughes et al. 2006 (Archives of Diseases in Childhood 2006, 91(7): 554-563) geführt habe mit der Folge, dass sowohl die Nomenklatur als auch die Klassifikation verändert und weitergehende Handlungsempfehlungen gegeben worden seien.
Die Veränderungen des Verständnisses und des Umgangs mit Besonderheiten der Geschlechtswicklung, die letztlich in die Konsensuskonferenz im Jahre 2005 gemündet hätten, hätten sich jedoch erst nach der initialen Behandlung der Klägerin vollzogen. Zum Zeitpunkt der Behandlung im vorliegenden Rechtsstreit habe sowohl in Deutschland als auch in Europa die vorherrschende Meinung gegolten, dass der Chromosomensatz dem Betreffenden nicht mitgeteilt werde. Dies gelte nicht nur für den Kinder- und Jugendbereich, sondern auch für den Erwachsenenbereich. Es gebe allerdings bis heute keine Statistiken, wie die Aufklärung und die Behandlung im Einzelnen erfolgt seien. Hintergrund für den Verzicht auf eine vollständige Aufklärung sei es gewesen, dass gerade ein erwachsener Mensch in einem bestimmten Geschlecht bereits sozialisiert sei und eine Information über den Chromosomensatz zu einer Unsicherheit führen könnte, so dass insbesondere bei erwachsenen Patienten dessen Angabe vermieden worden sei. Die Universitätsklinik Lübeck habe zwar Mitte der neunziger Jahre begonnen, das bestehende Konzept zu ändern und weitergehend aufzuklären. Er wisse jedoch, dass andere Kollegen in anderen Kliniken das nicht getan hätten.“
Die Begründung des Urteils vom 10.05.2016 ist „eins zu eins“ auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Im Jahr 1994 und erst recht zum Zeitpunkt der Operation der Klägerin im Jahr 1979 hat es der herrschenden medizinischen Meinung entsprochen, die Betroffenen vor Durchführung einer entsprechenden operativen Maßnahme nicht über das Ergebnis einer Chromosomenanalyse zu informieren, sondern dies im (vermeintlichen) Interesse der Beteiligten, nämlich zur Vermeidung einer psychischen Belastung, wie dies auch im vorliegenden Verfahren im Schreiben des Prof. Dr. Z. vom 14.01.1980 dargestellt worden ist, nicht mitzuteilen. Selbst wenn die damalige Operation der Klägerin als vorsätzliche Körperverletzung einen strafbaren ärztlichen Eingriff darstellen würde, was vorliegend dahingestellt bleiben kann, kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin Gewaltopfer im Sinne des OEG geworden ist. Denn das Gericht ist im aktuellen Verfahren genauso wie im zitierten der Überzeugung, dass die Operation aus dem Jahre 1979 zum Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv – also aus Sicht eines verständigen Dritten – jedenfalls auch dem Wohl der Klägerin im Sinne der Rechtsprechung des BSG gedient hat. Sofern im Rahmen der Klagebegründung von der Klägerseite die Ansicht, dass sich der Operateur nur von eigenen finanziellen Interesse leiten habe lassen, vertreten und dies damit begründet worden ist, dass die Aufklärung über den Chromosomensatz nur deshalb nicht erfolgt sei, weil der Arzt selbst Zweifel an der Richtigkeit seines Vorgehens und die Befürchtung gehabt habe, dass die Klägerin von der Operation bei entsprechender Aufklärung Abstand nehmen würde, ist dies nicht nachvollziehbar. Denn nach der damals herrschenden medizinischen Meinung, wie sie auch im Schreiben des Prof. Dr. Z. vom 14.01.1980 zum Ausdruck kommt, hat die unterbliebene Aufklärung gerade dem Wohl der Patientin gedient; von einer rein im finanziellen Interesse des behandelnden Arztes vorgenommenen Behandlung kann daher keine Rede sein.
Dass die opferentschädigungsrechtliche Beurteilung der bei der Klägerin durchgeführten operativen Maßnahme gegebenenfalls anders ausfallen würde, wenn die Behandlung heute und nicht schon im Jahr 1979 durchgeführt worden wäre, und dass von der Klägerin angeführte Institutionen (Deutscher Ethikrat, Sonderberichterstatter beim UN-Menschenrechtsrat, WHO) heute derartige Eingriffe verurteilen, ändert an der Beurteilung des Sachverhalts aus opferentschädigungsrechtlicher Sicht nichts. Denn für die Frage der feindseligen Willensrichtung bei der Vornahme des ärztlichen Eingriffs ist nach Auffassung des Senats auf die herrschende medizinische Meinung zum Zeitpunkt der Durchführung des ärztlichen Eingriffs abzustellen, nicht auf etwaige spätere Erkenntnisse und Änderungen des medizinischen Meinungsstands.
Der Vollständigkeit halber weist der Senat noch auf Folgendes hin:
Sofern die Klägerin (in der Anlage 1 zum Antrag vom 14.03.2011) die Vermutung aufgestellt hat, dass bei einer Leistenbruchoperation rechts im Alter von einem Jahr auch die Hoden entfernt worden sein könnten, kann darauf ein Anspruch auf Versorgung nicht gestützt werden. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass eine etwaige damals erfolgte operative Entfernung der Hoden, die ohnehin nicht durch medizinische Unterlagen belegt ist, im ausschließlichen finanziellen Eigeninteresse des behandelnden Arztes und nicht zum medizinisch begründeten Wohl der Klägerin erfolgt wäre. Weitere Ermittlungen sind insofern weder geboten noch erfolgversprechend, zumal die Klägerin selbst mit Blick auf die Jahrzehnte zurückliegende Behandlung mitgeteilt hat, dass Behandlungsunterlagen von damals nicht mehr vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).