Aktenzeichen S 21 P 126/16
Leitsatz
Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen für eine Zuordnung zur Pflegestufe I. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klage auf Pflegegeld der Stufe I ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben, jedoch nicht begründet. Der Leistungen der Pflegeversicherung ablehnende Bescheid der Beklagten vom 22.06.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger kann das begehrte Pflegegeld der Pflegestufe I mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht beanspruchen. Er hat auch keinen Anspruch auf Einholung einer ergänzenden Stellungnahme durch Herrn Dr. J..
Streitgegenstand ist hier nur noch die Frage, ob der Kläger Anspruch auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe 1 hat. Den Antrag bezüglich der rückwirkenden Gewährung von Leistungen bei eingeschränkter Alltagskompetenz rückwirkend bis zum Jahr 2010 hat der Kläger zurückgenommen. Seit dem 09.01.2014 werden von der Beklagten Leistungen bei eingeschränkter Alltagskompetenz gewährt. Das Verfahren bezüglich der zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach § 45 b SGB XI wurde abgetrennt und ist daher vorliegend nicht mehr Streitgegenstand.
1. Der Kläger hat den Antrag auf Pflegeleistungen bereits im Jahr 2016 gestellt. Gem. § 140 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Pflegeversicherung (SGB XI) erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Der Erwerb einer Anspruchsberechtigung auf Leistungen der Pflegeversicherung richtet sich gem. § 140 SGB XI ebenfalls nach dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht. Nach dieser Vorschrift beschränkt sich der Rechtsstreit daher auf die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Pflegestufe nach der bis zum 31.12.2016 geltenden Rechtslage bestanden haben. Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall.
2. Nach § 37 SGB XI setzt der Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld für eine selbst beschaffte Pflegehilfe unter anderem voraus, dass der Anspruchssteller pflegebedürftig ist und einer Pflegestufe zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt nach § 14 Abs. 1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichen oder höheren Maße der Hilfe bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI in der Unterstützung in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht.
Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Absatz 4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und das Zu-Bett-Gehen, das An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung, das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Welche Art der Hilfeleistung für die Zuordnung einer Pflegestufe dabei von Bedeutung ist, regelt § 14 Abs. 3 SGB XI. Danach ist als Hilfe die Unterstützung, die teilweise oder vollständige Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder die Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen zu sehen. Die Pflegebedürftigkeit einer bestimmten Pflegestufe kann nicht bereits daraus abgeleitet werden, dass die Schwerbehinderteneigenschaft und/oder die Voraussetzungen von Hilflosigkeit im Sinne des Schwerbehinderten-, Versorgungs- oder Einkommensteuerrechtes festgestellt sind (vgl. BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 8). Maßgebend ist, ob Funktionsdefizite bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens bestehen.
Die Zuordnung zur Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) setzt nach § 15 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, hat hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten zu betragen, von denen wiederum mehr als 45 Minuten auf die Grundpflege entfallen müssen. Die Grundpflege erfasst diejenigen Verrichtungen, die für die Körperpflege, die Ernährung und die Mobilität im Sinne von § 14 Abs. 4 Nr. 1 bis 3 SGB XI erforderlich sind (vgl. nur BSG, 18.9.2008, B 3 P 5/07 R, Juris, st. Rspr.).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Der Grundpflegebedarf des Klägers beträgt 18 min. Zu dieser Überzeugung gelangt die Kammer aufgrund der überzeugenden, schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen des Sachverständigen Herrn Dr. J. in seinem Gutachten vom 07.08.2017, der Gutachten des MDK und den eingeholten Befundberichten. Zwecks Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Darstellung des Hilfebedarfs des Klägers bei den einzelnen Verrichtungen der Grundpflege durch Herrn Dr. J. Bezug genommen. Bei der hauswirtschaftlichen Versorgung besteht ein umfassender Hilfebedarf von mindestens 45 Minuten täglich im Sinne der Höchstpauschalzeit. Ein Hilfebedarf in der Grundpflege von mindestens 46 min konnte von dem gerichtlich bestellten Sachverständigen jedoch nicht festgestellt werden. Der Sachverständige schätzt den Hilfebedarf des Klägers mit 9 min in dem Bereich Körperpflege und 9 min in dem Bereich Mobilität, also ein Hilfebedarf von insgesamt 18 min, ein. Das Gericht hat keinen Anlass, an den Feststellungen des Sachverständigen zu zweifeln und schließt sich dessen Einschätzung des Hilfebedarfs des Klägers vollumfänglich an. Der Sachverständige hat den Kläger nach eingehender Anamnese gründlich untersucht und alle vorliegenden Befunde in die Bewertung des Hilfebedarfs mit einbezogen. Mit der Wahl des Herrn Dr. J. als Sachverständigen hat das Gericht dem Wunsch des Klägers entsprochen. Mit seiner Einschätzung steht der gerichtliche Sachverständige auch in Einklang mit der Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen Herrn Dr. W. im Verfahren S 21 P 117/14.
Der Kläger kann mit seinen Einwendungen gegen das Gutachten nicht durchdringen. Der beschriebene Zeitaufwand durch die Schwindelattacken und Kreislaufbeschwerden führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Im Rahmen der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit sind medizinische Diagnosen nicht entscheidend, sondern vielmehr die Frage, inwieweit diese zu Einschränkungen führen, die den Hilfebedarf erhöhen. Der gerichtliche Sachverständige konnte sich im Rahmen seines Hausbesuchs ein Bild von den gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers machen. Ein höherer Hilfebedarf konnte von dem Sachverständigen dennoch nicht festgestellt werden. Auch der beschriebene Hilfebedarf bei der Behandlung der Warzen und Blutschwämmchen ist nicht zu berücksichtigen. Es handelt sich insoweit um medizinische Behandlungspflege, die im Rahmen des Grundpflegebedarfs nicht zu berücksichtigen ist. Bei der Feststellung des Zeitaufwandes ist nach § 15 Abs. 3 Satz 2 SGB XI ein Zeitaufwand für erforderliche verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen dann zu berücksichtigen; wenn der behandlungspflegerische Hilfebedarf untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung nach § 14 Abs. 4 SGB XI ist oder mit einer solchen Verrichtung notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang steht. (BSG, Urteil vom 08. Oktober 2014 – B 3 P 4/13 R -, SozR 4-3300 § 14 Nr. 8, Rn. 14). Die Behandlung der Warzen und Blutschwämmchen wird nicht im zeitlichen Zusammenhang mit einer Katalogtätigkeit erforderlich, sondern wird unabhängig von den Katalogtätigkeiten durchgeführt. Sie ist daher eine Maßnahme der Behandlungspflege, die nicht als Grundpflegebedarf berücksichtigt werden kann. Es war daher auch nicht erforderlich, den gerichtlichen Sachverständigen insoweit mit einer ergänzenden Stellungnahme zu beauftragen. Die Frage, ob die Behandlung der Warzen und Blutschwämmchen bei der Grundpflege zu berücksichtigen ist, ist einer Rechtsfrage und daher vom Gericht zu klären und nicht von dem gerichtlichen Sachverständigen. Da nach Auffassung des Gerichts die Behandlung der Warzen und Blutschwämmchen nicht im Rahmen der Grundpflege zu berücksichtigen ist, musste das Gericht dem insoweit gestellten Beweisantrag des Klägers nicht nachgehen.
3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des gerichtlichen Sachverständigengutachtens. Die in der Sitzung vom 15.12.2017 gestellten Beweisanträge des Klägers werden abgelehnt. Die Kammer hat sich nicht gedrängt gesehen, weitere medizinische Sachaufklärung im Rahmen der ihr nach §§ 103, 106 SGG obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung formulierten Beweisantrag des Klägers zu betreiben.
Der Kläger hat mit seinem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag, dass seine an das Gericht übersandten Unterlagen an den Sachverständigen zur Stellungnahme übersandt werden, schon keine bestimmte Tatsachenbehauptung aufgestellt, die bewiesen werden soll (vgl. zu diesem Erfordernis etwa BSG, Beschluss v. 02. Oktober 2015 – B 9 V 46/15 B Rn 8; und vom 27. März 2014 – B 9 V 69/13 B Rn 14 zitiert nach juris). Beweisanträge, die so unbestimmt beziehungsweise unsubstantiiert sind, dass im Grunde erst die Beweisaufnahme selbst die entscheidungs- und damit beweiserheblichen Tatsachen aufdecken soll beziehungsweise die allein den Zweck haben, dem Beweisführer, der nicht genügend Anhaltspunkte für seine Behauptungen angibt, erst die Grundlage für substantiierte Tatsachenbehauptungen zu verschaffen, legen dem Tatsachengericht keine weitere Beweisaufnahme nahe. Um eine solchen „Ausforschungsbeweisantrag“ hat es sich hier gehandelt, als der Kläger darum bat, die an das Gericht übersandte Unterlagen zur Stellungnahme zu übersenden. Einen solchen Beweisantrag kann das Gericht – wie hier – ablehnen.
Soweit der Kläger beantragt, dass der gerichtliche Sachverständige sich dazu äußern möge, ob er weiterhin an dem Gutachten des Herrn Dr. W. festhalte, obwohl dieses vom Bayerischen LSG gerügt und nicht akzeptiert worden sei, ist dem Beweisantrag nicht nachzugehen. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass das Bayerische Landessozialgericht ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 07.12.2016 das Gutachten nur bezüglich der Darlegungen zur eingeschränkten Alltagkompetenz für die Vergangenheit kritisiert hat. Über die Einschätzung der Höhe der Grundpflegebedarf hat das Bayerische Landessozialgericht sich nicht geäußert. Des Weiteren beruht das Gutachten des Herrn Dr. J. auf seiner eigenen gutachterlichen Einschätzung und Wahrnehmung. Der Sachverständige hat die Ausführungen des Herrn Dr. W. lediglich wiedergegeben und dann zu einer eigenen – in einzelnen Punkten abweichenden – Einschätzung gefunden. Der Beweisantrag ist daher als untauglich abzulehnen.
Auch dem Beweisantrag, dass Herr Dr. J. dazu gehört werden möge, ob er auf S. 11 des Gutachtens einen Grundpflegbedarf in Höhe von 70 min anerkannt hat, ist nicht nachzugehen. Es ist offensichtlich, dass Herr Dr. J. hier den Hilfebedarf in der Grundpflege und denjenigen der hauswirtschaftlichen Versorgung in Bezug genommen hat. Jeder anderen Interpretation der Ausführungen des Herrn Dr. J. fehlt die Grundlage. Diese Frage ist auch nicht rechtserheblich, das der Sachverständige auf Seite 11 seines Gutachtens lediglich einen Auszug aus der SG-Akte S 21 P 117/14 macht und keine eigenen gutachterlichen Würdigungen anstellt.
Weitere Ermittlungen von Amts wegen waren nicht veranlasst.
Die Klage war daher abzuweisen.
4. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.