Aktenzeichen L 4 P 38/18
GB XI aF § 45b
Leitsatz
1. Der Anspruch auf Leistungen der Verhinderungspflege setzt einen vorübergehenden Ausfall der Pflegeperson voraus. (Rn. 25)
2. Verhinderungspflege liegt nicht vor, wenn die Pflege neu organisiert wird, um die bisherigen Pflegepersonen dauerhaft zu entlasten. (Rn. 25)
Verfahrensgang
S 9 P 29/17 2018-05-04 Endurteil SGAUGSBURG SG Augsburg
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 04.05.2018 wird zurückgewiesen.
II. Die Kläger haben gesamtschuldnerisch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auf 3.666,– Euro festgesetzt.
Gründe
Der Senat konnte in Abwesenheit der Kläger entscheiden, da diese ordnungsgemäß geladen waren und in der Ladung auf die Möglichkeit der Entscheidung auch im Fall des Ausbleibens hingewiesen wurde (§§ 110, 126, 132 SGG).
Streitgegenstand sind Leistungen der Verhinderungspflege. Die Kläger begehren Leistungen im selben Umfang, wie sie die Beklagte mit Bescheid vom 15.04.2016 für das Kalenderjahr 2015 bewilligt hat:
1.612,- Euro Verhinderungspflege, 806,- Euro Budget Kurzzeitpflege,
1.248,- Euro zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen (§ 45b SGB XI),
insgesamt also 3.666,- Euro.
Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zutreffend abgewiesen. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) zulässig, aber nicht begründet.
1. Ein Anspruch auf Zahlung von 1.612,- Euro nach § 39 Abs. 1 Satz 3 SGB XI kommt nicht in Betracht. Gleiches gilt für den in § 39 Abs. 2 Satz 1 SGB XI genannten Betrag vom 806,- Euro aus nicht in Anspruch genommenen Mitteln der Kurzzeitpflege. Diese Leistung kann nämlich nur ergänzend zu dem in § 39 Abs. 1 Satz 3 SGB XI genannten Betrag gezahlt werden („kann … erhöht werden“), sie setzt das Bestehen eines solchen Anspruchs voraus.
Maßstab für die Prüfung durch den Senat ist die im Kalenderjahr 2016 geltende Rechtslage. Ob die Beklagte im Verwaltungsverfahren eine falsche Fassung des § 39 SGB XI zitiert hat, spielt für das Ergebnis der gerichtlichen Prüfung keine Rolle.
§ 39 SGB XI lautete vom 01.01.2016 bis 31.12.2016 wie folgt:
„§ 39 Häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson
(1) Ist eine Pflegeperson wegen Erholungsurlaubs, Krankheit oder aus anderen Gründen an der Pflege gehindert, übernimmt die Pflegekasse die nachgewiesenen Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens sechs Wochen je Kalenderjahr; § 34 Absatz 2 Satz 1 gilt nicht. Voraussetzung ist, dass die Pflegeperson den Pflegebedürftigen vor der erstmaligen Verhinderung mindestens sechs Monate in seiner häuslichen Umgebung gepflegt hat. Die Aufwendungen der Pflegekasse können sich im Kalenderjahr auf bis zu 1.612 Euro belaufen, wenn die Ersatzpflege durch andere Pflegepersonen sichergestellt wird als solche, die mit dem Pflegebedürftigen bis zum zweiten Grade verwandt oder verschwägert sind oder die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft leben.“
(2) Der Leistungsbetrag nach Absatz 1 Satz 3 kann um bis zu 806 Euro aus noch nicht in Anspruch genommenen Mitteln der Kurzzeitpflege nach § 42 Absatz 2 Satz 2 auf insgesamt bis zu 2.418 Euro im Kalenderjahr erhöht werden. Der für die Verhinderungspflege in Anspruch genommene Erhöhungsbetrag wird auf den Leistungsbetrag für eine Kurzzeitpflege nach § 42 Absatz 2 Satz 2 angerechnet.
(3) Bei einer Ersatzpflege durch Pflegepersonen, die mit dem Pflegebedürftigen bis zum zweiten Grade verwandt oder verschwägert sind oder mit ihm in häuslicher Gemeinschaft leben, dürfen die Aufwendungen der Pflegekasse regelmäßig den Betrag des Pflegegeldes nach § 37 Absatz 1 Satz 3 für bis zu sechs Wochen nicht überschreiten. Wird die Ersatzpflege von den in Satz 1 genannten Personen erwerbsmäßig ausgeübt, können sich die Aufwendungen der Pflegekasse abweichend von Satz 1 auf den Leistungsbetrag nach Absatz 1 Satz 3 belaufen; Absatz 2 findet Anwendung. Bei Bezug der Leistung in Höhe des Pflegegeldes für eine Ersatzpflege durch Pflegepersonen, die mit dem Pflegebedürftigen bis zum zweiten Grade verwandt oder verschwägert sind oder mit ihm in häuslicher Gemeinschaft leben, können von der Pflegekasse auf Nachweis notwendige Aufwendungen, die der Pflegeperson im Zusammenhang mit der Ersatzpflege entstanden sind, übernommen werden. Die Aufwendungen der Pflegekasse nach den Sätzen 1 und 3 dürfen zusammen den Leistungsbetrag nach Absatz 1 Satz 3 nicht übersteigen; Absatz 2 findet Anwendung.
Vorliegend fehlt es bereits an einer Verhinderung von Pflegepersonen. Der Anspruch auf Verhinderungspflege bietet dem Pflegebedürftigen im Vergleich zum Pflegegeld zusätzliche Leistungen, denen nach der Vorstellung des Gesetzgebers bei einem vorübergehenden Ausfall der Pflegeperson eine Überbrückungsfunktion zukommt (BSG, Urteil vom 20.04.2016, B 3 P 4/14 R, Rn. 13 m.w.N.). Der vorliegende Fall ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass durch den Vertrag mit der Firma D.H. vom 29.09.2015, der – vorbehaltlich einer Kündigung – eine Laufzeit vom 04.10.2015 bis 02.10.2017 haben sollte, dauerhaft eine neue Pflegestruktur geschaffen wurde, weil die bis dahin allein pflegenden Angehörigen im Hinblick auf den ab September 2015 erhöhten Pflegeaufwand einer dauerhaften Entlastung bedurften. In diesem Sinne hat auch das LSG Baden-Württemberg in einem ähnlich gelagerten Verfahren entschieden (Urteil vom 12.04.2019, L 4 P 1878/18, Rn. 26).
Ohne dass es für die Entscheidung noch darauf ankäme, weist der Senat ergänzend darauf hin, dass Personen, die Leistungen für Verhinderungspflege erhalten, für denselben Zeitraum grundsätzlich kein Pflegegeld beanspruchen können (BSG, a.a.O., Rn. 23).
2. Auch ein Anspruch auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen (§ 45b SGB XI a.F.) für das Kalenderjahr 2016 besteht nicht.
Diese Norm lautete 2016 wie folgt:
„§ 45b Zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen, Verordnungsermächtigung
(1) Versicherte, die die Voraussetzungen des § 45a erfüllen, können je nach Umfang des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen in Anspruch nehmen. Die Kosten hierfür werden ersetzt, höchstens jedoch 104 Euro monatlich (Grundbetrag) oder 208 Euro monatlich (erhöhter Betrag). Die Höhe des jeweiligen Anspruchs nach Satz 2 wird von der Pflegekasse auf Empfehlung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Einzelfall festgelegt und dem Versicherten mitgeteilt. Der Spitzenverband Bund der Pflegekassen beschließt unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, des Verbandes der privaten Krankenversicherung e. V., der kommunalen Spitzenverbände auf Bundesebene und der maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen auf Bundesebene Richtlinien über einheitliche Maßstäbe zur Bewertung des Hilfebedarfs auf Grund der Schädigungen und Fähigkeitsstörungen in den in § 45a Abs. 2 Nr. 1 bis 13 aufgeführten Bereichen für die Empfehlung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zur Bemessung der jeweiligen Höhe des Betreuungs- und Entlastungsbetrages; § 17 Abs. 2 gilt entsprechend. Der Betrag ist zweckgebunden einzusetzen für qualitätsgesicherte Leistungen der Betreuung oder Entlastung. Er dient der Erstattung von Aufwendungen, die den Versicherten entstehen im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Leistungen
1.der Tages- oder Nachtpflege,
2.der Kurzzeitpflege,
3.der zugelassenen Pflegedienste, sofern es sich um besondere Angebote der allgemeinen Anleitung und Betreuung oder Angebote der hauswirtschaftlichen Versorgung und nicht um Leistungen der Grundpflege handelt, oder
4.der nach Landesrecht anerkannten niedrigschwelligen Betreuungs- und Entlastungsangebote, die nach § 45c gefördert oder förderungsfähig sind.“
Die Erstattung der Aufwendungen erfolgt auch, wenn für die Finanzierung der in Satz 6 genannten Betreuungs- und Entlastungsleistungen Mittel der Verhinderungspflege gemäß § 39 eingesetzt werden.
(1a) Pflegebedürftige, die nicht die Voraussetzungen des § 45a erfüllen, können ebenfalls zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach Absatz 1 in Anspruch nehmen. Die Kosten hierfür werden bis zu einem Betrag in Höhe von 104 Euro monatlich ersetzt.
(Absatz 2,3,4)
Diese Leistung ist zwar nicht von einem Anspruch nach § 39 SGB XI abhängig. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass die Voraussetzungen von § 45b Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB XI a.F. vorliegen. Insbesondere ist keiner der in § 45b Abs. 1 Satz 6 SGB XI a.F. genannten Fälle gegeben: Leistungen der Tages- oder Nachtpflege sind nach § 41 SGB XI solche, die in teilstationären Einrichtungen erbracht werden. So liegt es hier gerade nicht. Auch (vollstationäre) Kurzzeitpflege nach § 42 SGB XI hat die Versicherte nicht in Anspruch genommen. Die polnische Firma „D.H.“ stellt keinen zugelassenen Pflegedienst im Sinne von § 45b Abs. 1 Satz 6 Nr. 3 SGB XI a.F. dar. Auch ein niedrigschwelliges Betreuungs- und Entlastungsangebot im Sinne von § 45b Abs. 1 Satz 6 Nr. 4 SGB XI hat die Versicherte nicht in Anspruch genommen.
Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Versicherte bereits mit Bescheid vom 16.10.2015 auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von zusätzlichen Entlastungs- und Betreuungsleistungen hingewiesen wurde. Denn dabei handelt es sich nicht um eine in ihrem Umfang über das gesetzlich Zulässige hinausgehende Bewilligung oder Zusicherung, sondern lediglich um einen Hinweis auf die Rechtslage. Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 16.10.2015 „qualitätsgesicherte Angebote“ genannt und dann beispielhaft auf die Tatbestände des § 45b Abs. 1 Satz 6 Nr. 1, 2 und 3 SGB XI a.F. hingewiesen, die vorliegend gerade nicht erfüllt sind (s.o.). Zu keiner Zeit hat die Beklagte erklärt, dass sie darauf verzichten werde, eingereichte Belege zu prüfen.
3. Die Kläger können die streitgegenständlichen Ansprüche nicht auf den Umstand stützen, dass die Beklagte mit Bescheid vom 15.04.2016 entsprechende Leistungen für das Kalenderjahr 2015 gewährt hat. Insbesondere können sich die Kläger nicht auf eine Selbstbindung der Verwaltung berufen.
Eine Selbstbindung aufgrund einer früheren Verwaltungspraxis kann nur im Rahmen eines der Verwaltung eingeräumten Beurteilungsspielraums oder Ermessens eintreten. Im Widerspruch zu zwingenden gesetzlichen Vorgaben kann keine Selbstbindung der Verwaltung entstehen; einen aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Anspruch auf „Gleichbehandlung im Unrecht“ gibt es nicht (BSG, Urteil vom 19.09.2019, B 12 R 25/18 R, Rn. 28 m.w.N.).
Vorliegend hat die Beklagte, soweit sie Leistungen der streitgegenständlichen Art für das Kalenderjahr 2015 bewilligt hat, gegen zwingende gesetzliche Vorgaben verstoßen (s.o.). Damit scheidet ein Anspruch unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG, § 154 Abs. 2 VwGO. Die Kläger sind nicht Sonderrechtsnachfolger der Versicherten im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Es lag kein gemeinsamer Haushalt vor, denn die Versicherte lebte allein. Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger von der Versicherten zur Zeit ihres Todes wesentlich unterhalten worden wären, liegen nicht vor. Daher ist für die Kläger als Erben zwar das erstinstanzliche Verfahren nach § 183 Satz 2 SGG gerichtskostenfrei, weil die Klage bereits vor dem Tod der Versicherten erhoben wurde. Dies gilt jedoch nicht mehr für das Berufungsverfahren.
Gründe zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 GKG.