Aktenzeichen S 8 AS 794/17
Leitsatz
Prüfungskompetenz des Sozialgerichts bezüglich eines Amtshaftungsanspruchs nach Verweisung durch ein Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit. (Rn. 13)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Gegenstand des Verfahrens ist nach Auslegung durch das Gericht (§ 123 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG) das Begehren des Klägers, für den Zeitraum von 2003 bis einschließlich August 2010 Sozialleistungen, die seiner Ansicht nach zu Unrecht nicht erbracht worden sind, sowie ergänzend Ersatz für den Schaden zu erhalten, der mit der unrechtmäßigen Nichtleistung zusammenhängen soll. Die vom Kläger angeführte Korrektur der Falscheinstufung versteht das Gericht nicht als eigenständiges Begehren, sondern als bloßes Element seines Begehrens. Auch steht der geforderte Betrag von 437.253 EUR nicht neben der verlangten Nachzahlung von nicht erbrachten Leistungen, sondern überschneidet sich damit. Das ergibt sich deutlich aus der Klageschrift vom 5. Januar 2017. Denn dort sind die nach Ansicht des Klägers ihm zustehenden Mehrleistungen in die Berechnung eingeflossen. Dem Kern nach handelt es sich somit um ein Überprüfungsbegehren nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) betreffend Sozialleistungen nach dem früheren Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II) sowie um einen ergänzenden sozialrechtlichen Herstellungsanspruch und Amtshaftungsanspruch.
Über die so verstandene Klage kann das Gericht trotz Art. 34 Satz 3 des Grundgesetzes (GG), § 202 SGG und § 17 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) vollumfänglich entscheiden. Hinsichtlich des Überprüfungsbegehrens folgt dies unproblematisch aus § 51 Abs. 1 Nr. 4a und 6a SGG. Dass der erhobene Anspruch auch Zeiten der Geltung des BSHG, also vor dem 1. Januar 2005 betrifft, und für Streitigkeiten der Sozialhilfe damals die Verwaltungsgerichtsbarkeit nach § 40 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mangels abdrängender Zuweisung zuständig war, ändert daran nichts. Denn maßgeblich für die Bestimmung der Zuständigkeit ist das bei Klageerhebung geltende Recht, zumal eine andere Ansicht zu schwer lösbaren prozessualen Problemen führen würde (vgl. BSG, Beschluss vom 13. Oktober 2005, B 9b SF 4/05 R).
Soweit die Klage auch auf einen Amtshaftungsanspruch gestützt wird, behält § 17 Abs. 2 Satz 2 GVG die Prüfung zwar den ordentlichen Gerichten vor; vorliegend wäre wohl das Landgericht Berlin zur Entscheidung berufen gewesen. Allerdings ist die Klage hier ursprünglich zum Amtsgericht Lindau also einem Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit erhoben worden, das für den Rechtsstreit unter Einschluss des Begehrens gegen den Beklagten aus Amtshaftung den ordentlichen Rechtsweg für unzulässig erklärt und das Verfahren an die Sozialgerichtsbarkeit verwiesen hat. Weder aus dem Trennungsbeschluss des Amtsgerichts vom 20. Februar 2017 noch aus dem Verweisungsbeschluss vom 25. April 2017 lässt sich ersehen, dass ein Verfahren wegen eines gegen das beklagte Jobcenter geltend gemachten Amtshaftungsanspruchs in der ordentlichen Gerichtsbarkeit verbleiben sollte. Abweichend von § 17 Abs. 2 Satz 2 GVG ist damit wegen der Bindungswirkung der Rechtswegverweisung (und nachfolgenden Verweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit gemäß § 98 SGG) die Entscheidungskompetenz des Sozialgerichts auch für einen Anspruch aus Amtshaftung anzunehmen.
Der amtsgerichtliche Verweisungsbeschluss vom 25. April 2017 für das hiesige Gericht auch bindend. Er ist zwar ohne die durch § 232 der Zivilprozessordnung (ZPO) vorgesehene Rechtsbehelfsbelehrung:ergangen. Dies führt aber nach zivilgerichtlicher Regelung – anders als etwa § 66 Abs. 2 SGG oder § 58 Abs. 2 VwGO – nicht zu einer längeren Anfechtungsfrist, sondern spricht – mit Ausnahme bei Anwaltszwang, der hier aber nicht gegeben war, lediglich für einen Anspruch auf Wiedereinsetzung gemäß § 233 Satz 2 ZPO (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2016, V ZB 131/15). Innerhalb der von § 234 Abs. 1 ZPO eröffneten Wiedereinsetzungsfrist ist jedoch weder vom Kläger noch vom Beklagten ein Antrag auf Wiedereinsetzung verbunden mit einer Beschwerde gegen die Rechtswegverweisung im Beschluss vom 25. April 2017 gestellt worden. Der Beklagte hat erst – zudem gegenüber dem Sozialgericht Berlin – im Schreiben vom 29. Juni 2017 Zweifel an der Rechtswegzuständigkeit geäußert. Selbst wenn man darin eine Beschwerde mit Antrag auf Wiedereinsetzung sehen wollte, wogegen spricht, dass von einer Behörde insofern ein ausdrücklicher Antrag erwartet werden kann, ist die Wiedereinsetzungsfrist verstrichen. Denn eine derart lange Hinderung zwischen der Zustellung des Beschlusses vom 25. April 2017 an den Beklagten am 3. Mai 2017 und dem Schreiben vom 29. Juni 2017 ist weder dargetan noch sonst erkennbar.
Die Klage ist bezüglich des Überprüfungsbegehrens aber schon nicht zulässig. Insofern fehlt es am vorgeschriebenen Vorverfahren, § 78 SGG. Der Kläger hat sich zuvor nicht an den Beklagten gewandt und eine Entscheidung beantragt.
Im Übrigen ist die Klage zulässig. Insbesondere ist wegen der Bindungswirkung der örtlichen Zuständigkeitsverweisung im Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Juni 2017 das Sozialgericht Augsburg nunmehr zur Entscheidung berufen, § 98 SGG, § 17a Abs. 2 GVG. Der Klage steht auch nicht das frühere Verfahren S 17 AS 1102/10 vor diesem Gericht entgegen, weil dieses nicht durch rechtskräftige Entscheidung, sondern durch Klagerücknahme beendet wurde.
Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
Über die Unzulässigkeit des Überprüfungsbegehrens hinaus und ungeachtet dessen, ob überhaupt Leistungen an den Kläger von einem Sozialleistungsträger zu Unrecht nicht erbracht worden sind, ist die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X für den streitigen Zeitraum abgelaufen. Dieser reicht ausweislich der oben dargelegten Auslegung des Begehrens bis August 2010. Die Klageerhebung vor dem Amtsgericht Lindau Anfang 2017, die als Antragstellung gedeutet werden könnte, könnte daher allenfalls zu einer Überprüfung und Erbringung von Leistungen für den Zeitraum ab 1. Januar 2013 führen. Hinsichtlich von Leistungen nach dem SGB II ist die Rückwirkung wegen § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II auf ein Jahr, also ab 1. Januar 2016 begrenzt ist. Ob dies aus § 116a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch auch für Leistungen nach dem BSHG gilt, kann offen bleiben, weil in jedem Fall die Ausschlussfrist greift.
Dahin stehen kann deshalb, ob überhaupt Sozialleistungen an den Kläger zu Unrecht nicht oder in zu geringem Umfang erbracht worden sind. Relevante Anhaltspunkte ergeben sich aber weder aus dem klägerischen Vortrag noch nach den vorliegenden Akten des Beklagten. Ohnedies ist das beklagte Jobcenter vor 2005 nicht existent gewesen, sondern der Kläger hat Leistungen vom Sozialhilfeträger, hier in Form des Bezirksamts Spandau erhalten.
Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch des Klägers wegen der von ihm gerügten Falscheinstufung, also der fehlerhaften Zuweisung zum Sozialhilfeträger anstatt des Bezugs von Arbeitslosenhilfe, oder sonstiger fehlerhafter Handlungen eines Sozialleistungsträgers vor August 2010, scheidet ebenfalls aus, weil – wie eben dargelegt – die vierjährige Frist aus § 44 Abs. 4 SGB X für den streitgegenständlichen Zeitraum abgelaufen ist. Diese Regelung ist auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch entsprechend anzuwenden, weil die Verletzung einer Nebenpflicht nicht weiterreichende Folgen haben kann als die Verletzung der Hauptpflicht (vgl. BSG, Beschluss vom 4. Juli 2017, B 10 EG 20/16 B).
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus Amtshaftung nach Art. 34 GG, § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Denn zumindest ist dieser Anspruch inzwischen verjährt. Für einen Amtshaftungsanspruch gilt nämlich die dreijährige Verjährungsfrist gemäß den §§ 195, 199 Abs. 1 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 23. Juli 2015, III ZR 196/14). Diese, seit 1. Januar 2002 geltende Fassung kommt auch zur Anwendung, sofern der Anspruch auf Sachverhalte aus der Zeit vor dem Jahr 2002 gestützt wird. Denn Art. 231 § 6 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB) bestimmt, dass die neuen Verjährungsvorschriften auch auf bereits zuvor entstandene Ansprüche anzuwenden sind und in der Regel die kürzere Verjährungsfrist greift. Wie aus der im September 2010 erfolgten Klageerhebung im Verfahren S 17 AS 1120/10 deutlich wird, hatte der Kläger spätestens seitdem die Vorstellung von einem schuldhaften Handeln des Beklagten. Gerechnet von diesem Zeitpunkt an, war bei dreijähriger Verjährungsfrist aber mit Ablauf des Jahres 2013 Verjährung eingetreten. Der Beklagte konnte sich nunmehr darauf berufen und hat diese Einrede auch mit Schriftsatz vom 7. November 2017 erhoben.
Ungeachtet der Verjährung ergeben sich für das Gericht auch keine Anhaltspunkte für eine Amtspflichtverletzung. Der Kläger meint im Kern, er habe Anspruch auf Arbeitslosenhilfe anstelle von Sozialhilfe gehabt und deswegen zu Unrecht geringere Leistungen erhalten. Woraus dies folgen soll und warum er sich nicht lange zuvor deswegen an die zuständige Arbeitsverwaltung gewandt hat, bleibt offen. Daher wäre dem Kläger auch § 839 Abs. 3 BGB entgegenzuhalten.
Schließlich hat der Kläger es unterlassen trotz der Aufforderung des Gerichts gemäß § 106a SGG mit Schreiben vom 21. September 2017 innerhalb der gesetzten Frist Beweismittel zu benennen oder vorzulegen oder die Umstände darzulegen, welche Kausalität und Höhe des geltend gemachten Schadens betreffen. Nachdem sich auch sonst nicht ergibt, wie die vom Kläger neben der zu geringen Leistungsbewilligung aufgeführten Schadenspositionen auf eine behauptete – jedoch tatsächlich nicht zu erkennende – Amtspflichtverletzung zurückgeführt werden sollen, fehlt es zudem an der Ursächlichkeit.
Eine Beiladung des vor 2005 leistenden Sozialhilfeträgers nach § 75 SGG ist unterblieben, zum einen weil offenkundig kein Anspruch mehr gegeben sein kann, zum anderen weil in der Klageschrift vom 5. Januar 2017 auch das zuständige Bezirksamt als Beklagter aufgeführt ist, jedoch insofern keine Verweisung an das hiesige Gericht erfolgt ist. Daraus ist zu folgern, dass ein weiterer Rechtsstreit anderweitig anhängig ist und somit eine Beiladung wegen anderweitiger Rechtshängigkeit nach § 202 SGG, § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht infrage kommt. Dies könnte nämlich wegen der bezüglich eines Sozialhilfeträgers eröffneten Möglichkeit einer Verurteilung als Beigeladener nach § 75 Abs. 5 SGG zu unterschiedlichen bzw. mehrfachen gerichtlichen Entscheidung führen.
Die Klage ist somit insgesamt abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG. Das Gericht nimmt gemäß der eingangs dargelegten Auslegung des Klagebegehrens einen einheitlichen Streitgegenstand an, für den somit insgesamt die Kostenfreiheit gilt.