Medizinrecht

Rentenversicherung:

Aktenzeichen  S 16 R 345/15

Datum:
30.5.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 140567
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 25.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015 wird aufgehoben.
II. Die Beigeladene wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vom 28.05.2014 rechtsmittelfähig unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes zu entscheiden.
III. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen die Beklagte zu 1/3 und die Beigeladene zu 2/3.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 25.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Neuverbescheidung des Antrags auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vom 28.05.2014 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts gegenüber der Beigeladenen. Dabei wird die Beigeladene im Außenverhältnis gegenüber dem Kläger jedenfalls zu beachten haben, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach jedenfalls nach dem über § 14 SGB IX für die Beigeladene zu beachtenden SGB IX i.V.m. SGB VI (umfassende Prüfung: vgl. G., Urteile vom 20.10.2009, Az.: B 5 R 5/07 R und vom 30.10.2014, Az.: B 5 R 8/14 R) vorliegen.
Die Beigeladene ist für die Entscheidung gegenüber dem Kläger zuständig. § 14 SGB IX bestimmt: (Absatz 1) Werden Leistungen zur Teilhabe beantragt, stellt der Rehabilitationsträger innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist; bei den Krankenkassen umfasst die Prüfung auch die Leistungspflicht nach § 40 Abs. 4 des Fünften Buches. Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu. Muss für eine solche Feststellung die Ursache der Behinderung geklärt werden und ist diese Klärung in der Frist nach Satz 1 nicht möglich, wird der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet, der die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache erbringt. Wird der Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt, werden bei der Prüfung nach den Sätzen 1 und 2 Feststellungen nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 des Sechsten Buches und § 22 Abs. 2 des Dritten Buches nicht getroffen.
(Absatz 2) Wird der Antrag nicht weitergeleitet, stellt der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf unverzüglich fest. Muss für diese Feststellung ein Gutachten nicht eingeholt werden, entscheidet der Rehabilitationsträger innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang. Wird der Antrag weitergeleitet, gelten die Sätze 1 und 2 für den Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, entsprechend; die in Satz 2 genannte Frist beginnt mit dem Eingang bei diesem Rehabilitationsträger. Ist für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich, wird die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens getroffen. Kann der Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, für die beantragte Leistung nicht Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 sein, klärt er unverzüglich mit dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger, von wem und in welcher Weise über den Antrag innerhalb der Fristen nach den Sätzen 2 und 4 entschieden wird und unterrichtet hierüber den Antragsteller.
Zuständig ist demnach die Beigeladene für die Entscheidung über den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Der Antrag wurde ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung im Verfahren S 15 LW 9/11 vor dem Sozialgericht Nürnberg am 28.05.2014 bei der Vertreterin der jetzigen Beigeladenen (und damaligen Beklagten) gestellt. Diese nahm (auch) den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben entgegen. Nicht anschließen kann sich die Kammer der Argumentation, die Beigeladene habe den Antrag nur für die Beklagte entgegengenommen. Eine entsprechende (Empfangs-)Vollmacht liegt weder vor, noch ist diese anderweitig ersichtlich. Die Beigeladene kann auch im Außenverhältnis zum Kläger zuständiger Leistungsträger sein. Trotz dessen, dass die Beigeladene gemäß § 6 Absatz 1 Nr. 4 SGB IX i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben grundsätzlich nicht erbringt, kann eine Zuständigkeit mangels (rechtzeitiger) Weiterleitung begründet werden (§ 14 Absatz 2 Satz 1 SGB IX, vgl. auch Luik in jurisPK, SGB IX, § 14 Rn. 81, 91). Der Antrag wurde nicht rechtzeitig, sondern erst mit Eingang vom 17.07.2014 an die Beklagte weitergeleitet. Dem steht nicht entgegen, dass die Beigeladene das Verhandlungsprotokoll im Verfahren S 15 LW 9/11 ausweislich des Eingangsstempels erst am 16.07.2014 erhalten hat und anschließend umgehend tätig wurde. Der Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist dennoch bereits am 28.05.2014 mündlich gestellt worden. Dies ist zum einen möglich, da kein Schriftformerfordernis besteht, und zum anderen auch so geschehen. Ausdrücklich ist in der Niederschrift über die öffentliche Verhandlung vom 28.05.2014 aufgeführt, dass der Antrag entgegengenommen wurde. Gründe, weshalb dieser nicht innerhalb der Frist nach § 14 SGB IX weitergeleitet wurde, sind nicht ersichtlich. Insbesondere, wenn bereits bei Antragstellung für die Beigeladene offensichtlich war, dass ihre Zuständigkeit nicht in Betracht kommt (§ 6 Absatz 1 Nr. 4 SGB IX i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), hätte eine Weiterleitung umgehend stattfinden können, zumal auch nicht ersichtlich wird, dass sich nach Eingang des Protokolls durch den dann in Papierform vorliegenden Antrag Änderungen der Beurteilung ergeben hätten oder hierauf weitere Ermittlungen nötig gewesen wären.
Der Kläger erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 11 SGB VI). Auch die persönlichen Leistungsvoraussetzungen liegen vor. Dies jedenfalls nach dem für die Beigeladene über § 14 SGB IX zu beachtenden SGB VI. § 14 SGB IX i.V.m. § 9 SGB VI bestimmen: (§ 9 Absatz 1 Satz 1 SGB VI) Die Rentenversicherung erbringt Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, um 1. den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und 2. dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. (§ 9 Absatz 1 Satz 2 SGB VI) Die Leistungen zur Teilhabe haben Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind. (§ 9 Absatz 2 SGB VI) Die Leistungen nach Absatz 1 können erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.
Für Leistungen zur Teilhabe haben gemäß § 10 Absatz 1 SGB VI Versicherte die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, 1. deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und 2. bei denen voraussichtlich a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann, b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann.
Die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist auf Grund der vorliegenden Behinderungen gemindert. Bezugsberuf ist beim Kläger dabei nicht der allgemeine Arbeitsmarkt. Es kann dabei dahinstehen, ob eine „Verfallfrist“ nach 10-jähriger Arbeitslosigkeit dergestalt besteht (gesetzlich nicht -ausdrücklichnormiert), dass Anknüpfungspunkt nach solch langer Arbeitslosigkeit nicht mehr die letzte Tätigkeit darstellt, sondern auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückzugreifen ist (vgl. hierzu: Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 07.01.2014, Az.: L 5 R 626/12; a.A.: z.B. SG Karlsruhe, Urteil vom 13.03.2013, Az.: S 16 R 3178/13; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.12.2015, Az.: L 8 R 1033/14 – jeweils zitiert nach Juris). Jedenfalls dann bleibt der Bezugsberuf vor der (längeren) Arbeitslosigkeit relevant, wenn, wie im vorliegenden Fall, die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bereits innerhalb des 10-Jahreszeitraums eingetreten sind und lediglich der Antrag auf Leistungen zur Teilhabe außerhalb dieses Zeitraums gestellt wurde. Der Kläger war zumindest bis zum Jahr 2001 als Maurer tätig und der Leistungsfall zur Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist spätestens am 16.06.2010 eingetreten. Soweit die (weiteren) Voraussetzungen bis auf einen Antrag jedenfalls innerhalb dieses Zeitraums vorliegen, ist nicht ersichtlich, weshalb das Rehabilitationsrisiko nicht durch die Rentenversicherung abgedeckt werden sollte. Der Versicherungsfall (vgl. hierzu auch Ulrich Freudenberg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI Rn. 247) ist dann zu diesem Zeitpunkt eingetreten. Das von der gesetzlichen Rentenversicherung versicherte Risiko hat sich realisiert. Für die Frage, ob hieraus auch ein Leistungsfall (vgl. Ulrich Freudenberg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI Rn. 247) entsteht, sind lediglich noch die Rechtsinstitute der Verjährung und Verwirkung zu prüfen. Eine Verjährung des Anspruchs kommt im vorliegenden Fall jedoch nicht in Betracht, da bereits der (vollständige) Anspruch, das heißt der Leistungsfall, erst mit dem Antrag auf Leistungen zur Teilhabe entsteht (vgl. § 115 Absatz 1 Satz 1 SGB VI). Der vorliegende Antrag stammt vom 28.05.2014. Auch die Voraussetzungen einer Verwirkung liegen jedoch nicht vor. Zwar liegt bei einem Leistungsfall bereits vor vielen Jahren der Eintritt des Zeitmoments (Zeitablauf) nahe, jedoch fehlt es am Umstandsmoment für eine Verwirkung. Der Kläger hat nicht über längeren Zeitraum untätig gewartet und einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht gestellt und so den Eindruck vermittelt, er wolle und werde einen solchen nicht mehr stellen. Der Kläger durchlief hingegen zunächst ein Verfahren auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Als dessen für den Kläger negativer Verlauf ersichtlich wurde, stellte er einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Der Kläger ist den typischen Anforderungen des/der Bezugsberufs/-berufe nicht mehr im erforderlichen Umfang von mindestens 6 Stunden arbeitstäglich im Rahmen einer 5-Tage-Woche gewachsen. Er kann eine berufliche Tätigkeit als Maurer oder Landwirt in diesem Umfang ausüben. Dies steht zur Überzeugung der Kammer nachvollziehbar bereits auf Grund des Ausschlusses der Leistungsschwere (jedenfalls keine schweren, nach Dr. E. auch keine mittelschweren Hebe- und Tragetätigkeiten) fest. Auch Dr. B. und Dr. G. schließen zumindest schwere Hebe- und Tragetätigkeiten aus. Dies ist jedoch typische Voraussetzung sowohl für eine Tätigkeit als Maurer, als auch für eine Tätigkeit als Landwirt ausweislich der Ausführungen nach „berufenet“ der Agentur für Arbeit (vgl. hierzu: G., Urteil vom 20.10.2009, Az.: B 5 R 22/08 R – zitiert nach Juris) und daher zu beachten. Auch die grundsätzliche Fähigkeit zur Inanspruchnahme für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist gegeben, da der Kläger jedenfalls mindestens 6 Stunden arbeitstäglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig ist, so übereinstimmend Dr. E., Dr. B. und Dr. G.. Auch die Wegefähigkeit des Klägers ist gegeben. Ausweislich des schlüssigen Gutachtens des Dr. E. kann vom Kläger die Wegstrecke zur Arbeitsstätte zu Fuß von mehr als 500 Metern, viermal täglich, jeweils innerhalb von 20 Minuten, noch zurückgelegt werden. Öffentliche Verkehrsmittel könnten auch zur Hauptverkehrszeit benutzt werden. Der Leistungsfall für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben trat nach Übereinstimmung der Gutachter Dr. E., Dr. B. und Dr. G. spätestens am 16.06.2010 ein.
Auch eine dauerhafte Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist durch die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erwarten. So bestätigen die Gutachter Dr. G., Dr. B. und Dr. E. allesamt ein Leistungsvermögen für den Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von 6 Stunden und mehr. Die Erwerbsfähigkeit kann durch Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben wiederhergestellt werden. Die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen wird die Beigeladene zu ermitteln haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei ist zum einen der Klageerfolg gegenüber der Beigeladenen zu berücksichtigen, zum anderen, dass die Beklagte mangels rechtzeitiger Weiterleitung durch die Beigeladene nicht in der Sache über den Antrag des Klägers vom 28.05.2014 hätte entscheiden dürfen.

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