Medizinrecht

Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit einem Steh- und Bewegungstrainer

Aktenzeichen  S 21 KR 613/16

Datum:
20.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 158222
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 12 Abs. 1, § 33 Abs. 1 S. 1, § 128 aF

 

Leitsatz

1. Ein Hilfsmittel, das erhebliche Gebrauchsvorteile bietet, die sich nicht nur auf die Bequemlichkeit und den Komfort beschränken, ist von der Krankenkasse im Rahmen des Sachleistungsanspruchs zu übernehmen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Anspruch auf Versorgung mit einem bestimmten Hilfsmittel ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil es nicht in dem nach § 128 SGB V aF erstellten Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist; bei dem Hilfsmittelverzeichnis handelt es sich lediglich um eine Auslegungshilfe, die für die Gerichte nicht verbindlich ist (ebenso BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 44 = BeckRS 9999, 00050). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 16.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt die Klägerin mit dem Hilfsmittel I. zu versorgen.
III. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Versorgung mit dem Hilfsmittel „I.“. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hat die Versorgung mit dem I. zu Unrecht abgelehnt.
Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung im Hinblick auf „die Erforderlichkeit im Einzelfall“ nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse nach § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligen. Dagegen ist weder die vertragsärztliche Verordnung (§ 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V) des begehrten Hilfsmittels noch seine Listung im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) Voraussetzung für die Leistungspflicht der Beklagten (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteile vom 18. Mai 2011 – Az.: B 3 KR 12/10 R und B 3 KR 7/10 R m.w.N, nach juris).
Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind hier erfüllt.
1. Das streitgegenständliche I. versehen ist, stellt ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V dar (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 15.12.2011, L 5 KR 31/10 unter Rn. 22, veröffentlicht in juris).
2. Es handelt es sich bei dem I. nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (BSG, 16.04.1998, B 3 KR 9/97 R, juris; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 15.12.2011, L 5 KR 31/10).
3. Die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Hilfsmittel ist auch erforderlich im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V, da es der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dient. Der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dient ein bewegliches sächliches Mittel nach der Rechtsprechung des BSG, soweit es spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen (BSG, Urteil vom 19. April 2007 – B 3 KR 9/06 R -, BSGE 98, 213-219, Rn. 11). Eine unmittelbare Bedienung des Hilfsmittels durch den Arzt selbst ist dabei nicht zwingend erforderlich, so dass ein Hilfsmittel nicht schon deshalb nach § 33 Abs. 1 SGB V ausgeschlossen ist, weil die praktische Anwendung durch den Versicherten selbst erfolgt (BSGE 87, 105, 109 = SozR 3-2500 § 139 Nr. 1 S. 5 – Magnetfeldtherapiegerät; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 39 S. 220 – Therapie-Dreirad). Ein weitergehender spezifischer Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung i.S. von § 27 Abs. 1 SGB V kommt nur solchen Maßnahmen zur körperlichen Mobilisation zu, die in einem engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und für die gezielte Versorgung i.S. der Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V als erforderlich anzusehen sind. Das Hilfsmittel wird von allen Beteiligten als medizinisch erforderlich angesehen.
4. Dem Sachleistungsanspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel stehen Fragen der Wirtschaftlichkeit nicht entgegen. Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist in § 2 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 12 Abs. 1 SGB V verankert. § 12 Abs. 1 SGB V bestimmt, dass die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Wählen Versicherte Hilfsmittel, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen (§ 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V; ebenso § 31 Abs. 3 SGB IX). Krankenkassen haben insofern nicht für solche Verbesserungen aufzukommen, die keine Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern in erster Linie die Bequemlichkeit und den Komfort bei der Nutzung des Hilfsmittels bzw. lediglich ästhetische Vorteile betreffen (vgl. nur BSG, 25.06.2009, B 3 KR 10/08 R zu einer Salzwasserprothese; BSG, 21.03.2013, B 3 KR 3/12 R zu einer Unterschenkel-Sportprothese).
Nach Ansicht des Gerichts stellt die Versorgung mit dem Stehständer und dem M. Bewegungstrainer keine gleichwertige Alternativversorgung dar, vielmehr hat die Versorgung mit dem I. für die Klägerin erhebliche Gebrauchsvorteile. Diese beschränken sich nicht nur auf den Komfort und die Bequemlichkeit. Dies steht für das Gericht fest aufgrund der Stellungnahmen des Herrn Prof. Dr. med F. und der Neurologin Frau Dr. L. vom U. A-Stadt. Die Unterbringung zweier doch erheblichen Platz in Anspruch nehmender Geräte stellt einen erheblichen Nachteil dar. Es ist für das Gericht auch ohne weiteres nachvollziehbar, dass die Effektivität des Trainings deutlich besser ist, wenn die Klägerin die Trainingseinheiten in einem Gerät absolvieren kann und nicht erst von einem zum anderen Gerät befördert werden muss. Des Weiteren hat die Versorgung mit dem I. den Vorteil, dass die Klägerin von nur einer Person in das Gerät befördert werden kann und dafür nicht zwei Personen – wie bei dem Stehständer – erforderlich sind. Dies ermöglicht eine wesentlich schnellere und praktikablere Handhabung des Geräts. Entscheidend ist jedoch, dass das Hilfsmittel – wie die behandelnden Ärzte und Therapeuten übereinstimmend erklärt haben – einen wesentlich größeren therapeutischen Nutzen hat, als die Versorgung mit zwei einzelnen Geräten. Es ist für das Gericht nachvollziehbar, dass es medizinisch gesehen ein großer Unterschied ist, ob das Bewegungstraining liegend oder sitzend oder stehend durchgeführt werde. Ebenso ist es nachvollziehbar, dass gerade die alternierende Bewegung im Stehen für die Körperwahrnehmung einer aufrechten Position sowie für das Training der Muskeln und des Halteapparats wertvoll ist und daher durch das begehrte Hilfsmittel Trainingseffekte erzielt werden, die weder mit einem Stehständer noch mit einem M. erreicht werden könnten. Darüber hinaus verfügt das streitgegenständliche Hilfsmittel über eine individuell einstellbare Spasmenkontrolle, so dass eine Verletzungsgefahr bei Abwehrbewegungen und Kontraktion während des Trainings ausgeschlossen werden kann. Diese Aspekte werden auch von dem gerichtlichen Sachverständigen in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21.07.2017 für nachvollziehbar erklärt. Damit steht für das Gericht fest, dass die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel im Vergleich zu der angebotenen Alternativversorgung erhebliche Gebrauchsvorteile bietet, die sich nicht nur auf die Bequemlichkeit und den Komfort beschränken.
5. Der Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel ist schließlich nicht deswegen ausgeschlossen, weil es nicht in dem nach § 128 SGB V von den Spitzenverbänden der Krankenkassen erstellten Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei dem Hilfsmittelverzeichnis nicht um eine Anspruchsvoraussetzung, sondern lediglich um eine Auslegungshilfe, die für die Gerichte nicht verbindlich ist (BSG, Urteil vom 06.06.2002, Az. B 3 KR 68/01 R).
Der Klage war daher stattzugeben.
6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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