Medizinrecht

Stattgebender Kammerbeschluss: Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren bzgl versammlungsrechtlicher Auflagen – bereits im Eilverfahren intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung geboten – hier: Inanspruchnahme der Veranstalter einer Versammlung als Nichtstörer ohne hinreichende gerichtliche Rechtmäßigkeitsprüfung – Unzureichende Offenlegung der Folgenabwägung

Aktenzeichen  1 BvR 2794/10

Datum:
20.12.2012
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2012:rk20121220.1bvr279410
Normen:
Art 8 Abs 1 GG
Art 8 Abs 2 GG
Art 19 Abs 4 S 1 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 15 Abs 1 VersammlG
§ 80 Abs 5 S 1 VwGO
§ 123 Abs 1 VwGO
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend Sächsisches Oberverwaltungsgericht, 15. Oktober 2010, Az: 43 B 307/10, Beschlussvorgehend VG Leipzig, 15. Oktober 2010, Az: 3 L 1556/10, Beschlussvorgehend BVerfG, 16. Oktober 2010, Az: 1 BvQ 39/10, Einstweilige Anordnung

Tenor

1. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 15. Oktober 2010 – 3 L 1556/10 – und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2010 – 3 B 307/10 – verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.
2. Die Kostenentscheidungen der Beschlüsse werden aufgehoben. Das Verfahren wird insoweit an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung über die Kosten des Verfahrens zurückverwiesen.
3. …
4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verwaltungsgerichtliche Versagung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine versammlungsrechtliche
Auflage.

I.
2
1. Die Beschwerdeführer meldeten Anfang September 2010 bei der Stadt L. ihr Vorhaben an, am 16. Oktober 2010 (von 12.00 Uhr
bis 20.00 Uhr) in L. eine Versammlung unter freiem Himmel durchzuführen. Die geplante Versammlung sollte aus drei Aufzügen
und einer Abschlusskundgebung in der Innenstadt von L. bestehen. Die Teilnehmerzahl wurde von den Beschwerdeführern bei der
Anmeldung auf 600 Personen geschätzt. Das Motto der geplanten Versammlung lautete “Recht auf Zukunft”. Es bezog sich auf eine
am 17. Oktober 2009 in L. von der Beschwerdeführerin zu 4), einer Unterorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands
(NPD), veranstaltete Versammlung, bei der es im Zusammenhang mit einer Versammlungsblockade durch Gegendemonstranten zu gewalttätigen
Auseinandersetzungen und letztlich zu einer polizeilichen Auflösung der Versammlung kam.

3
Angesichts dieser Vorgeschichte und der Anmeldung von zahlreichen Gegendemonstrationen kam es zwischen der Anmeldung und der
Durchführung der geplanten Versammlung zu umfangreichen Verhandlungen zwischen den Beschwerdeführern und der Stadt L., die
unter anderem in Kooperationsgesprächen am 4., am 6. und am 13. Oktober 2010 eingehend die polizeilich sicherbare Anzahl der
geplanten Aufzüge und die konkrete Streckenführung erörterten. In einer Gefährdungsanalyse am 4. Oktober 2010 bekundete die
Polizeidirektion L. dabei laut den tatsächlichen Feststellungen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, dass der Schutz von
zwei der angemeldeten Aufzüge mit den zur Verfügung stehenden Einsatzkräften gewährleistet werden könne. Am 11. Oktober 2010
teilte der Beschwerdeführer zu 1) der Stadt schließlich mit, dass am 16. Oktober 2010 nunmehr lediglich ein einziger Aufzug
stattfinden solle. Am 12. Oktober 2010 ergänzte die Polizeidirektion L. ihre Gefahrprognose insofern, dass nunmehr nur eine
maximal vierstündige stationäre Kundgebung durchführbar sei, weil nach den Erfahrungen des Versammlungsgeschehens vom 17.
Oktober 2009 mit einer höheren als der angemeldeten Teilnehmerzahl zu rechnen sei und jeweils ca. 10 bis 20 % der Teilnehmer
der angemeldeten Demonstration und der Gegendemonstrationen als gewaltbereit einzustufen seien.

4
2. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2010 untersagte die Stadt L. die Durchführung der Versammlung als Aufzug, verfügte die Durchführung
als stationäre Kundgebung in der Zeit von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr in einem Bereich am L. Hauptbahnhof und ordnete die sofortige
Vollziehung dieser Auflage an. Die Polizeidirektion L. habe in ihrer Gefahrprognose vom 12. Oktober 2010 dargelegt, dass im
Zeitraum vom 15. bis zum 17. Oktober 2010 aufgrund von zahlreichen Versammlungsanmeldungen widerstreitender politischer Lager
eine latente Gefährdungssituation vorhanden sei, die einen außerordentlich hohen Kräfteeinsatz der Polizei erfordere. Es sei
davon auszugehen, dass sich die Teilnehmer der Aufzüge bei Angriffen durch Personen der linksextremistischen Klientel provozieren
ließen und darauf entsprechend reagierten. Die Polizei habe glaubhaft dargelegt, dass sie kräftetechnisch außerstande sei,
einen Aufzug zu begleiten, da trotz bundesweiter Anfragen nur 29 der für erforderlich gehaltenen 44 Polizeihundertschaften,
also nur 66 % der geplanten Polizeikräfte, zur Verfügung stünden. Die Ausübung der Versammlungsfreiheit werde trotz der Beschränkungen
nicht vereitelt, da der zugewiesene Ort eine hinreichende Öffentlichkeitswirksamkeit und eine räumliche Trennung der gegensätzlichen
politischen Lager gewährleiste.

5
3. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer noch am gleichen Tag Widerspruch und stellten beim Verwaltungsgericht Leipzig die
Anträge, die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche gegen die Auflage, nur eine stationäre Kundgebung durchzuführen, wiederherzustellen
sowie im Wege einer einstweiligen Anordnung ein Verbot sämtlicher Versammlungen in einem Umkreis von 300 m um die angemeldeten
Aufzugstrecken anzuordnen. Das Verwaltungsgericht Leipzig lehnte die Eilanträge mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 ab und
begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Bescheid vom 13. Oktober 2010 rechtmäßig sei und somit das öffentliche Interesse
am Sofortvollzug des Bescheids die Interessen der Beschwerdeführer überwiege. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens,
die Stadt L., sei auf der Grundlage der Einschätzung der Polizeidirektion L. nachvollziehbar davon ausgegangen, dass infolge
zahlreicher Gegenaktionen und -demonstrationen bei Durchführung des im Zuge der Kooperation der Beschwerdeführer zuletzt noch
geplanten einzigen Aufzuges eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bestehe. Bei der Vielzahl
der angemeldeten und geplanten Veranstaltungen am 16.10.2010, unter anderem ein Fußballspiel, und in Anbetracht der beschriebenen
begrenzten Kräftelage der Polizei sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einhergehenden Personen- und Sachschäden
zu rechnen, denen nur mit der Beschränkung auf eine stationäre Kundgebung begegnet werden könne. Dieser Gefahr könne in Anbetracht
der besonderen Veranstaltungssituation am 16. Oktober 2010 auch nicht durch Maßnahmen gegen potentielle Störer begegnet werden.

6
4. Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht
wies die Beschwerde mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 zurück. Ob ein polizeilicher Notstand vorliege, sei im Rahmen der summarischen
Prüfung nicht abschließend zu beurteilen. Der Einschätzung der Polizeidirektion lasse sich entnehmen, dass aufgrund des Versammlungsgeschehens
im Vorjahr mit gewalttätigen Auseinandersetzungen einer Anzahl von 10 bis 20 % der Teilnehmer sowohl auf Seiten der Beschwerdeführer
wie auf Seiten linker Demonstranten gerechnet werde. Zwar erschließe sich dem Gericht nicht, wodurch sich das Gefährdungspotential
innerhalb kurzer Zeit so erhöht haben solle, dass statt der zwei Aufzüge, die die Polizeidirektion ursprünglich noch mit den
zur Verfügung stehenden Einsatzkräften für sicherbar gehalten habe, nunmehr nur noch eine stationäre Kundgebung möglich sein
solle. Wegen der fehlenden Überprüfungsmöglichkeit sei aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Danach sei die Beschwerde
zurückzuweisen, weil für den Antragsteller die mit der Durchführung einer nur stationären Kundgebung verbundenen Beeinträchtigungen
hinnehmbar seien.

7
5. Die Beschwerdeführer beantragten sodann beim Bundesverfassungsgericht zunächst den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Diesen Antrag hat die Kammer aufgrund der besonderen Voraussetzungen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch das
Bundesverfassungsgericht abgelehnt, dabei jedoch zugleich auf die Möglichkeit der Klärung der aufgeworfenen Fragen in einem
verfassungsgerichtlichen Hauptsachverfahren hingewiesen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Oktober
2010 – 1 BvQ 39/10 -, juris).

8
6. Hieraufhin erhoben die Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts
fristgemäß Verfassungsbeschwerde mit der Rüge, durch die angegriffenen Entscheidungen in ihren Rechten aus Art. 8 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzt zu sein.

9
7. Das Bundesverfassungsgericht hat der Stadt L. als Gegnerin des Ausgangsverfahrens, dem Sächsischen Staatsministerium der
Justiz und für Europa sowie der Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

10
Nach Auffassung des Rechtsamtes der Stadt L. liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht vor.
Das Sächsische Staatsministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts hat
eine Stellungnahme des unter anderem für das Versammlungsrecht zuständigen 6. Revisionssenats übersandt, in der dieser Zweifel
an der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen äußert.

II.
11
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Art. 8 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung
liegen vor (§ 93c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen
Fragen bereits entschieden (vgl. insbesondere BVerfGE 69, 315 ; 110, 77 ). Nach diesen Maßstäben ist die
Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts zulässig
und begründet.

12
1. Der Zulässigkeit der Rüge der Verletzung des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG steht weder der Grundsatz
der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde noch das Erfordernis eines Rechtsschutzinteresses entgegen.

13
a) Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache nur,
soweit die geltend gemachte Verletzung von Freiheitsrechten oder von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Entscheidung der Gerichte
in der Hauptsache noch ausgeräumt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 –
1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 ). Hier rügen die Beschwerdeführer allerdings gerade die Missachtung der Anforderungen
des Art. 8 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG bei der Zurückweisung ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz,
die im Hauptsacheverfahren nicht mehr behandelt werden würde.

14
b) Auch ein Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführer besteht, obwohl der Demonstrationstermin verstrichen und damit der
Sofortvollzug der strittigen Auflagen gegenstandslos geworden ist. Sind verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung
nicht (mehr) zu klären, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis auch nach Erledigung des ursprünglichen Begehrens im Falle einer
Wiederholungsgefahr, also wenn ein Gericht die bereits herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht beachtet hat
und bei hinreichend bestimmter Gefahr einer gleichartigen Entscheidung bei gleichartiger Sach- und Rechtslage zu befürchten
ist, dass es diese auch in Zukunft verkennt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 1998 – 1
BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 ). Hier führten die Beschwerdeführer bereits konflikthafte Versammlungen in L. durch
und planen auch in Zukunft die Durchführung von Versammlungen in L., bei denen sie mit ähnlichen Konfliktsituationen rechnen
und gegebenenfalls gleichartige Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts befürchten müssten.

15
2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht
aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG.

16
a) Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der
öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen (vgl. BVerfGE 104, 92 ;
128, 226 ). Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe, die auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt,
ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend (vgl. BVerfGE 69, 315 ;
128, 226 ) und wird im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung grundsätzlich auch den Gegnern
der Freiheit gewährt (vgl. BVerfGE 124, 300 ). Damit die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen
Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können, gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit,
an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht
über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung
(vgl. BVerfGE 69, 315 oder ; 128, 226 ).

17
Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage
(vgl. BVerfGE 69, 315 ; BVerfGK 17, 303 ). Nach § 15 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz)
vom 24. Juli 1953 in der Fassung vom 8. Dezember 2008 (BGBl I S. 2366; im Folgenden: VersG) kann die zuständige Behörde die
Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen
die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Danach kann im Einzelfall
auch die Festlegung geboten sein, dass eine ursprünglich als Aufzug angemeldete Versammlung nur als ortsfeste Versammlung
durchgeführt werden darf (vgl. BVerfGK 2, 1 ). Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde
allerdings auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage
der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder
Vermutungen reichen hierzu nicht aus (BVerfGE 69, 315 ; BVerfGK 17, 303 ). Ferner gilt, dass, soweit sich der
Veranstalter und die Versammlungsteilnehmer grundsätzlich friedlich verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit vorwiegend
aufgrund des Verhaltens Dritter – insbesondere von Gegendemonstrationen – zu befürchten sind, die Durchführung der Versammlung
zu schützen ist und behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer zu richten sind (vgl. BVerfGE 69, 315 ; BVerfGK
8, 79 ; BVerfG , Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 – 1 BvQ 24/00, NVwZ 2000, S. 1406 ).
Gegen die friedliche Versammlung selbst kann dann nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten
werden (vgl. BVerfGE 69, 315 ; BVerfGK 17, 303 ). Dies setzt voraus, dass die Versammlungsbehörde mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit anderenfalls wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, gegebenenfalls
externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum Schutz der von dem Antragsteller angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre;
eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht allerdings nicht (vgl. BVerfGK 8, 79 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer
des Ersten Senats vom 24. März 2001 – 1 BvQ 13/01 -, NJW 2001, S. 2069 ). Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen
von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt grundsätzlich bei der Behörde (vgl. BVerfGK 17, 303 ; BVerfG, Beschluss
der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2009 – 1 BvR 2147/09 -, NJW 2010, S. 141 ).

18
b) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen
Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 ; 96, 27 ). Im Verfahren auf Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung
eines Widerspruchs, das für den Regelfall sicherstellt, dass die Verwaltungsbehörden keine irreparablen Maßnahmen durchführen,
bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben, ist der Rechtsschutzanspruch des Bürgers umso stärker, je schwerwiegender
die ihm auferlegte Belastung wiegt und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfGE 35, 382
; 69, 315 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 – 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998,
S. 834 ). Insbesondere im Bereich des Versammlungsrechts muss das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren angesichts der
Zeitgebundenheit von Versammlungen zum Teil Schutzfunktionen übernehmen, die sonst das Hauptsacheverfahren erfüllt (vgl. BVerfGE
69, 315 ; 110, 77 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 23. März 2004 – 1 BvR 745/01 -, juris,
Rn. 13). Die einstweilige Anordnung im verfassungsgerichtlichen Verfahren als außerhalb der Rechtsschutzgarantie des Art.
19 Abs. 4 GG liegender Rechtsbehelf kann die primäre Rechtsschutzfunktion der Fachgerichte ebenfalls nicht übernehmen. Angesichts
der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und im Hinblick auf die weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung
auslösen kann, ist hierbei zudem ein strenger, von den verwaltungsgerichtlichen Kriterien grundsätzlich unterschiedener Maßstab
anzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 16. Oktober 2010 – 1 BvQ 39/10 -, juris, Rn. 4). Daher
müssen die Verwaltungsgerichte zum Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, schon im Eilverfahren
durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel
zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich, ist als Grundlage der gebotenen
Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch zu prüfen
(vgl. BVerfGE 69, 315 ; 110, 77 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 21. April 1998 – 1 BvR
2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834 ). Sofern dies nicht möglich ist, haben die Fachgerichte jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung
vorzunehmen und diese hinreichend substantiiert zu begründen, da ansonsten eine Umgehung der beschriebenen strengen Voraussetzungen
für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit möglich erschiene.

19
3. Diese Maßstäbe haben das Verwaltungsgericht Leipzig und das Sächsische Oberverwaltungsgericht bei den ihnen obliegenden
Entscheidungen über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend berücksichtigt. Beide Entscheidungen werden
den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG im Hinblick auf die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes gegen versammlungsbeschränkende behördliche Maßnahmen nicht gerecht.

20
a) Die vom Verwaltungsgericht Leipzig herangezogenen Umstände sind nicht geeignet, die Annahme einer von der Versammlung selbst
ausgehenden unmittelbaren Gefährdung für die öffentliche Sicherheit zu tragen, die die Verhinderung der Versammlung in Form
eines Aufzugs hätte rechtfertigen können. Das Verwaltungsgericht legt insofern bereits nicht hinreichend deutlich dar, ob
seiner Auffassung nach auch von der Versammlung selbst eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht oder diese Gefahr
ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegendemonstrationen und den hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung besteht.
Dass das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung zur Begründung seines Standpunktes im Wesentlichen lediglich auf die Einschätzung
der Polizeidirektion L., die ohne nähere Erläuterung 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten Demonstration dem gewaltbereiten
Klientel zurechnete, verweist, genügt den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG insofern jedenfalls
nicht.

21
Auch im Hinblick auf eine Inanspruchnahme der Veranstalter als Nichtstörer im Wege des polizeilichen Notstandes genügen die
tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4
GG nicht. Das Verwaltungsgericht weist insofern zur Begründung des Vorliegens einer nicht durch Maßnahmen gegen potentielle
Störer abwendbaren Gefahr, insbesondere auf die besondere Veranstaltungssituation am 16. Oktober 2010 und die deswegen nur
begrenzt zur Verfügung stehenden Polizeikräfte, hin und beruft sich dabei pauschal auf die Einschätzung der Polizeidirektion
L. vom 13. Oktober 2010. Berücksichtigt man aber den Umstand, dass die Polizeidirektion in ihrer Gefährdungsanalyse vom 4.
Oktober 2010 offenbar noch zwei der angemeldeten Aufzüge mit den ihr voraussichtlich zur Verfügung stehenden Kräften für sicherbar
hielt, erfüllt diese pauschale Bezugnahme auf die Einschätzung der Polizeidirektion vom 13. Oktober 2010 nicht die den Anforderungen
an die entsprechend obigen Maßstäben bereits im Eilverfahren gebotene intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung. Vielmehr hätte die
kurzfristige Änderung der polizeilichen Einschätzung, die sich nicht ohne weiteres erschließt, das Verwaltungsgericht zu einer
substantiierteren Prüfung der veränderten polizeilichen Einschätzung und zur Nachfrage einer genaueren Begründung ihrer Entscheidung
veranlassen müssen. Dass dies vorliegend aus zeitlichen Gründen nicht möglich gewesen wäre, ist nicht erkennbar. Auch im Übrigen
hätte es dezidierterer Feststellungen bedurft, aufgrund welcher konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und aufgrund
welcher konkreter, vorrangig zu schützender sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte mehr zum Schutz der
angemeldeten Versammlung und der Rechtsgüter Dritter zur Verfügung gestanden hätten. Die behauptete Bindung von Polizeikräften
durch die zeitgleich stattfindenden Gegendemonstrationen kann nach obigen Maßstäben jedenfalls nicht ohne weiteres als hinreichendes
Argument dafür herangezogen werden. Auch die Bindung von Polizeikräften aufgrund eines parallel stattfindenden Fußballspiels
und sonstiger Veranstaltungen, deren vorrangige Schutzwürdigkeit sich nicht ohne weiteres erschließt, reicht hierfür nicht
aus.

22
b) Die angegriffene Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts hält den verfassungsrechtlichen Anforderungen des
Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG ebenfalls nicht stand. Zwar hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht deutliche
Bedenken am Vorliegen der Voraussetzungen eines für die Rechtfertigung der versammlungsrechtlichen Auflage erforderlichen
polizeilichen Notstandes geäußert und nachvollziehbar dargelegt, dass sich ihm nicht erschließe, wodurch sich das Gefährdungspotential
innerhalb des kurzen Zeitraumes zwischen der Gefährdungsanalyse der Polizeidirektion L. vom 4. Oktober 2010 und dem Erlass
der Auflage am 13. Oktober 2010 so erhöht haben soll, dass statt der zwei Aufzüge, die ursprünglich noch mit den zur Verfügung
stehenden Einsatzkräften für sicherbar gehalten wurden, nunmehr nur noch eine stationäre Kundgebung möglich sein solle. Auch
erscheint es nachvollziehbar, dass dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht in der Kürze der ihm zur Verfügung stehenden Zeit
die Vornahme der hier grundsätzlich gebotenen und soweit als möglich nicht lediglich summarischen Rechtmäßigkeitskontrolle
der behördlichen Auflage nicht mehr möglich war. Allerdings hätte es dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht in dieser Konstellation,
um der Freiheitsvermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit zumindest in der Sache Rechnung zu tragen, oblegen, eine besonders
sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese in der Begründung seiner Entscheidung hinreichend offenzulegen. Vorliegend
hat sich das Sächsische Oberverwaltungsgericht in der Begründung seiner Entscheidung jedoch im Wesentlichen darauf beschränkt,
auf die vermeintlich geringe Beeinträchtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit hinzuweisen, ohne auch nur ansatzweise
ausreichend auf das Bestehen einer die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit überwiegenden potentiellen Beeinträchtigung
anderer Rechtsgüter einzugehen.

23
4. Demgemäß ist festzustellen, dass sowohl der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig als auch der angegriffene
Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzen. Einer Aufhebung der Entscheidungen und Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung bedarf
es darüberhinausgehend nur bezüglich der Kostenentscheidungen, da in der Sache selbst Erledigung eingetreten ist (vgl. Schemmer,
in: Umbach/Clemens/Dollinger, 2. Aufl. 2005, BVerfGG, § 93c Rn. 33).

24
5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht
auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ).

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