Medizinrecht

Übernahme der Kosten einer Mammareduktionsplastik aufgrund Eintritts der Genehmigungsfiktion

Aktenzeichen  S 39 KR 1832/17

Datum:
22.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 5774
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3a

 

Leitsatz

1 Ein Antrag iSv § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V ist hinreichend bestimmt, wenn ein entsprechender förmlicher Verwaltungsakt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X ausreichend bestimmt wäre. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine Rücknahme der fiktiv eingetretenen Genehmigung nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V aus materiell-rechtlichen Gründen nach § 45 SGB X ist nicht möglich; die Genehmigungsfiktion wirkt wie ein positiver Bewilligungsbescheid (ebenso BSG BeckRS 2016, 68293). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28.08.2017 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 02.11.2017 verurteilt, die Kosten einer stationären beidseitigen Mammareduktionsplastik entsprechend des Antrags der Klägerin vom 10.04.2017 zu übernehmen.
II. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.

Gründe

Das Gericht macht von der Möglichkeit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid Gebrauch. Die Beteiligten sind dazu angehört worden, der Sachverhalt ist geklärt und die Sache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf, § 105 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klage ist als Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und wurde auch form- und fristgerecht erhoben.
Die Klage ist auch begründet da die Klägerin auf Grund der Regelung des § 13 Abs. 3a S. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) gegen die Beklagte einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die beantragte beidseitige Mammareduktionsplastik hat. Die Beklagte hat nicht innerhalb der in § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V vorgesehenen Frist entschieden und die Klägerin hierüber auch nicht in der in § 13 Abs. 3a S. 5 SGB V vorgeschriebenen Form informiert.
Gemäß § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachterliche Stellungnahme, insbesondere des MDK, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Kann die Krankenkasse die Fristen nach Satz 1 nicht einhalten, muss sie dies gemäß § 13 Abs. 3a S. 5 SGB V dem Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mitteilen. Die Leistung gilt gemäß § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V nach Ablauf der Frist als genehmigt, wenn keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes erfolgt. Normzweck der genannten Regelungen ist es, den Versicherten Klarheit darüber zu verschaffen, ob die Entscheidung fristgerecht erfolgt oder eine Selbstbeschaffung zulässig sein wird. Die vorgeschriebene Schriftform (vgl. § 126 BGB) trägt der Bedeutung der Mitteilung Rechnung und hat Klarstellungs- und Beweisfunktion.
Die Klägerin hat am 10.04.2017 (Eingang 12.04.2017) einen hinreichend bestimmten Sachleistungsantrag auf Kostenübernahme einer beidseitigen Mammareduktionsplastik gestellt. Anträge sind nicht an eine bestimmte Form gebunden. Sie müssen jedoch hinreichend bestimmt oder durch Auslegung bestimmbar sein. Dies ist der Fall, wenn ein entsprechender förmlicher Verwaltungsakt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ausreichend bestimmt wäre. Aus dem Antrag muss daher – ggf. im Rahmen der Auslegung – erkennbar sein, für wen, welche Leistungen, in welchem Umfang erbracht werden sollen. Auslegungszweifel gehen hierbei zulasten des Antragstellers. Es ist allerdings ausreichend, wenn sich der Versicherte derart an die Krankenkasse wendet, dass diese erkennen kann, dass und welche Leistung er begehrt (vgl. KassKomm/ Schifferdecker SGB V § 13 Rn. 118). Der Antrag der Klägerin genügt diesen Anforderungen. Die Klägerin hat eine beidseitige Mammareduktionsplastik unter Vorlage ärztlicher Atteste beantragt. Dieser Antrag der Klägerin ist als Tenor eines entsprechenden bewilligenden Verwaltungsakts ausreichend bestimmt. Eine weitere Einschränkung des Antrags durch Angabe des Leistungserbringers ist zur Bestimmtheit des Antrags nach Entscheidung des Bundessozialgerichts ausdrücklich nicht erforderlich (vgl BSG Urteil vom 11.7.2017 – B 1 KR 1/17 R, Rn. 20). Es ist auch für das Gericht nicht erkennbar, wie die Frage des Behandlers, bei grundsätzlicher freier Arztwahl, die Prüfung der medizinischen Erforderlichkeit einer beantragten Leistung beeinflussen können soll. Auch die angeforderte Fotodokumentation ist zur Bestimmtheit des Antrags nicht erforderlich. Denn die Beklagte muss nur wissen, was die Klägerin will. Der Antrag ist nicht erst dann bestimmt, wenn alle ggfs. erforderlichen Unterlagen zur medizinischen Prüfung vorliegen. Dies gilt für eine Fotodokumentation umso mehr, da diese auch entbehrlich wäre, wenn der MDK eine persönliche Begutachtung der Klägerin vornehmen würde.
Die Klägerin durfte die beantragte Leistung auch für erforderlich halten. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R, entschieden, dass die Gesetzesregelung diese Einschränkungen für die Genehmigungsfiktion zwar nicht ausdrücklich anordnet, diese sich aber aus dem Regelungszusammenhang und -zweck ergibt. Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Die Ärzte der Klägerin befürworteten die beantragte Mammareduktionsplastik und diese ist auch grundsätzlich eine durch die GKV zu erbringende Leistung. Sie durfte diese daher für erforderlich halten.
Die Beklagte hat zu dem Antrag der Klägerin eine gutachtliche Stellungnahme des MDK eingeholt. Damit ist die Frist des § 13 Abs. 3a S. 1 SGB von fünf Wochen einschlägig. Diese hat die Beklagte nicht eingehalten und der Klägerin die Gründe hierfür auch nicht vor Ablauf der Frist unter Einhaltung der erforderlichen Form und damit rechtzeitig mitgeteilt. Die Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V beginnt nach § 26 Abs. 1 und 3 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch am auf den Antragseingang folgenden Tag und endet mit dem Ablaufe des Tages der letzten Woche, der nach seiner Benennung dem Tag des Antragseingangs entspricht. Der Antrag der Klägerin ist unstreitig am 12.04.2016 bei der Beklagten eingegangen. Die Frist von fünf Wochen lief damit am 17.05.2017 ab. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten über den Antrag der Klägerin erfolgte am 13.06.2017 und damit weit außerhalb der Frist. Eine den Eintritt der Genehmigungsfiktion verhindernde schriftliche Mitteilung nach § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V erfolgte nicht. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R, entschieden: „Will eine Krankenkasse den Eintritt der Genehmigungsfiktion eines Antrags auf Krankenbehandlung hinausschieben, muss sie den Antragsteller von einem hierfür hinreichenden Grund und einer taggenau bestimmten Fristverlängerung jeweils vor Fristablauf in Kenntnis setzen.“ Ein solches Schreiben wurde von der Beklagten nicht versandt.
Die kraft Gesetzes eingetretene Genehmigungsfiktion ist auch nicht wirksam durch den hier streitgegenständlichen Bescheid vom 28.08.2017 wieder beseitigt worden. Eine Rücknahme der fiktiv eingetretenen Genehmigung aus materiell-rechtlichen Gründen nach § 45 SGB X ist nicht möglich. Die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V wirkt wie ein positiver Bewilligungsbescheid (vgl. vgl. BSG, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 25/15 R -, BSGE SozR 4-2500 § 13 Nr. 33). Sie bleibt daher wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. (vgl. BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist, vgl. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 08.03.2016 (a. a. O.) darauf hingewiesen und im Urteil vom 07.11.2017, – B 1 KR 24/17 R, ausdrücklich entschieden, dass sich die Rechtmäßigkeit der Genehmigungsfiktion nach der Erfüllung der Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V beurteilt, „nicht nach den Voraussetzungen des geltend gemachten Naturalleistungsanspruchs“ (vgl. BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R, Rdnr. 32). Da vorliegend die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V erfüllt waren (siehe oben), war eine Rücknahme der fingierten Genehmigung durch die Beklagte nach § 45 SGB X vorliegend nicht möglich, weil kein rechtswidriger Verwaltungsakt im Sinne des § 45 Abs. 1 SGB X vorliegt. Soweit die Beklagte sich darauf beruft, dass der 3. Senat des BSG eine andere Auffassung vertrete, kann das Gericht dieser Auffassung nicht folgen. Der 3. Senat hat sich in der Entscheidung vom 11.05.2017, B 3 KR 30/15 R, Rn. 50,51 juris, nur ähnlich einem obiter dictum geäußert („Allerdings neigt der erkennende 3. Senat – im Unterschied zum Urteil des 1. Senats des BSG vom 08.03.2016 […] – zu der Auffassung, dass […]). Eine Festlegung ist mit der Neigung zu einer Auffassung nicht verbunden. Im vom 3. Senat entschiedenen Fall war die Rücknahme nach § 45 SGB X letztlich nicht entscheidungserheblich. Es liegt daher auch keine entsprechende Entscheidung des 3. Senats vor. Auch in den Entscheidungen vom 15.03.2018 hat der 3. Senat nicht entschieden, dass die materiellen Voraussetzungen des Anspruchs die Rücknahme der Genehmigungsfiktion rechtfertigen, er hat vielmehr wiederum nicht zu dieser Frage entschieden (vgl. Terminbericht Nr. 9/18 vom 16.03.2018). Höchstrichterlich gibt es damit derzeit nur die vom 1. Senat getroffene Entscheidung. Das Gericht folgt dieser. Es ist nicht klar, wie der 3. Senat sich verhalten wird, sollte bei ihm diese Frage auch entscheidungserheblich werden. Er müsste dann den großen Senat anrufen und eine Entscheidung herbeiführen. Bis dahin kann nur auf die Entscheidung des 1. Senats verwiesen werden. Die Kammer hält die vom 1. Senat getroffene Entscheidung auch für richtig. Denn könnte jede eingetretene Genehmigungsfiktion dann wieder aufgehoben werden, wenn der materiell-rechtliche Leistungsanspruch nicht besteht, würde die Reglung des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V ins Leere laufen. Denn jeder Fall der eingetretenen Genehmigungsfiktion, auf dessen Leistung kein materiell-rechtlicher Anspruch besteht, könnte dann über § 45 SGB X wieder in den Zustand vor Eintritt der Genehmigungsfiktion zurückversetzt (und abgelehnt) werden. Die Norm des § 13 Abs. 3a SGB V würde dann von ihrem Schutzzweck her ins Gegenteil verkehrt. Eigentlich soll dem Versicherten durch das enthaltene Beschleunigungsgebot möglichst schnell Klarheit darüber verschafft werden, ob er sich die Leistung beschaffen darf. Bei der Auslegung der Norm durch die Beklagte ist das Gegenteil der Fall. Das Verfahren wird durch Eintritt der Genehmigungsfiktion, Erlass eines Ablehnungsbescheids, Widerspruchsverfahren, Erlass eines Rücknahmebescheids und ggfs. hiergegen Widerspruchsverfahren, sogar noch weiter verzögert. Darüber hinaus setzt sich der Versicherte in diesen Fällen bei selbstständiger Leistungsbeschaffung (was er nach der Regelung des § 13 Abs. 3a SGB V nach Fristablauf ja gerade tun soll) einem unkalkulierbaren Kostenrisiko aus, da er nicht weiß, ob die eingetretene Genehmigungsfiktion aufgehoben wird, weil die Beklagte (lange nach Ende der Fristen des § 13 Abs. 3a SGB V) zu dem Ergebnis kommt, es habe kein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch bestanden. Die Genehmigungsfiktion wird dadurch von einer Patientenschutznorm zu dem größten Kostenrisiko, dem sich der Versicherte im Rahmen des SGB V selbst aussetzen kann, ohne es zu wissen.
Die Klägerin hat daher gegen die Beklagte einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der beantragten Mammareduktionsplastik.
Damit war die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.
Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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