Medizinrecht

Unterkunft und Heizung – verfassungskonforme Auslegung

Aktenzeichen  S 17 AS 7/19

Datum:
19.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 24183
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 22 Abs. 3
SGB X § 24 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 1

 

Leitsatz

§ 22 Abs. 3 SGB II i.d.F. vom 26.06.2016 ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch solche Rückzahlungen und Guthaben nicht als Einkommen angerechnet werden dürfen, die auf Vorauszahlungen des nunmehr Leistungsberechtigten zurückgehen, die er in Zeiten getätigt hat, in denen er nicht im Leistungsbezug stand. (Rn. 31 – 32)

Tenor

I. Der Änderungsbescheid vom 14.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2018 wird hinsichtlich der Änderungen für November 2018 aufgehoben. Hinsichtlich der Änderungen für Oktober 2018 wird er dahingehend abgeändert, dass nur ein Heizkostenguthaben in Höhe von 22,25 € die Bedarfe für Unterkunft und Heizung mindernd angerechnet wird.
II. Der Änderungsbescheid vom 15.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2018 wird dahingehend abgeändert, dass im Dezember 2018 nur ein Betriebskostenguthaben in Höhe von 1,18 € die Bedarfe für Unterkunft und Heizung mindernd angerechnet wird.
III. Der Beklagte trägt von den notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers 19/20.
IV. Die Berufung wird zugelassen.
V. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und weitgehend – im tenorierten Umfang – begründet.
1. Streitgegenstand sind die Änderungsbescheide vom 14.09.2018 und 15.11.2018 in der Gestalt, die sie durch den Widerspruchsbescheid vom 19.12.2018 gefunden haben und mit denen der Beklagte abweichend von der ursprünglichen Bewilligung das Heizkostenguthaben in Höhe von 482,66 € sowie das Betriebskostenguthaben in Höhe von 25,56 € bedarfsmindernd auf die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung im Oktober und November einerseits sowie im Dezember 2018 andererseits angerechnet hat.
Hierbei kann dahinstehen, ob der Änderungsbescheid vom 15.11.2018 gemäß § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen den Änderungsbescheid vom 14.09.2018 geworden ist. Für die direkte Anwendung des § 86 SGG spricht, dass der Änderungsbescheid vom 14.09.2018 in seinem Verfügungssatz anordnet, dass die Bewilligung ab 01.10.2018 bis 31.07.2019 geändert wird, dagegen, dass inhaltlich nur eine Änderung der für Oktober und November 2018 getroffen wurde, während der Bescheid vom 15.11.2018 den Kalendermonat Dezember 2018 betrifft und damit streng genommen nicht die Änderung vom 14.09.2018 abändert im Sinne des § 86 SGG. In Betracht kommt jedenfalls entweder eine analoge Anwendung des § 86 SGG aus prozessökonomischen Gründen (so für ausdrückliche oder konkludente Bewilligungsbescheide Folgezeiträume betreffend etwa BSG, Urt. vom 17.06.2008, B 8 AY 11/07 R, juris, Rdnr. 10) oder die Auslegung bzw. Umdeutung des Schreibens der Prozessbevollmächtigten vom 20.11.2018 in einen Widerspruch gegen den neuen Änderungsbescheid. Jedenfalls hat der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 19.12.2018 über Widersprüche gegen beide Änderungsbescheide entschieden, so dass auch beide Gegenstand des vorliegenden Klageverfahrens geworden sind.
2. Statthaft ist die zutreffend erhobene isolierte Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG gegen beide Bescheide, da der Kläger die Beseitigung der Anrechnung des Guthabens und das Aufleben der ungekürzten Leistungsbewilligung vom 26.07.2018 begehrt. Die Klage wurde form- und fristgerecht gem. §§ 87, 90 SGG erhoben, wobei der Kläger hinsichtlich der Beauftragung seiner Prozessbevollmächtigten noch von seiner gerichtlich bestellten Betreuerin vertreten wurde.
3. Der Änderungsbescheid vom 14.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2018 stellt sich zur Auffassung der Kammer insoweit als rechtswidrig dar und verletzt den Kläger in seinen Rechten, als ein Heizkostenguthaben berücksichtigt wurde, welches der Kläger in Zeiten selbst „erwirtschaftet“ hat, in denen er nicht im Leistungsbezug stand.
a. Der Änderungsbescheid ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Eine Anhörung gem. § 24 Abs. 1 SGB X war aufgrund von § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X nicht erforderlich, weil eine einkommensabhängige Leistung den geänderten Verhältnissen, nämlich der Erzielung von Einkommen durch die Heizkostenerstattung, angepasst wurde (vgl. BSG, Urt. vom 16.10.2012, B 14 AS 188/11 R, juris, Rdnr. 8).
b. Die materiellen Voraussetzungen für den Änderungsbescheid nach § 40 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 SGB II, § 48 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 SGB X und § 330 Abs. 3 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (Arbeitsförderung – SGB III) sind nur zu einem geringen Teil erfüllt.
Der teilweise aufgehobene Bewilligungsbescheid vom 26.05.2018 war ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. In den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, ist auch eine wesentliche Änderung eingetreten, weil der Kläger durch die Heizkostenerstattung am 12.09.2018 Einkommen erzielt hat; dies jedoch nicht in dem vom Beklagten angenommenen Umfang (dazu unten c.). Diese Einkommenserzielung ist nach dem Erlass des Bewilligungsbescheides erfolgt und führte zu einer Minderung des Anspruchs des Klägers auf laufende Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Mit dem beklagten Jobcenter hat die zuständige Behörde gehandelt (vgl. § 48 Abs. 4, § 44 Abs. 3 SGB X) und auch die Fristerfordernisse wurden eingehalten (§ 48 Abs. 4, § 44 Abs. 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5, Abs. 4 Satz 2 SGB X). Ermessen war seitens des Beklagten nicht auszuüben, sondern der Bewilligungsbescheid war zwingend mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben (§ 40 Abs. 2 Nr. 3, § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III).
c. Ob und Umfang des anzurechnenden Einkommens aufgrund der Heizkostenerstattung folgt aus § 22 Abs. 3 SGB II i.d.F. des Art. 1 Nr. 20 lit. b des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26.06.2016. Danach mindern Rückzahlungen und Guthaben, die dem Bedarf für Unterkunft und Heizung zuzuordnen sind, die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Monat der Rückzahlung oder der Gutschrift; Rückzahlungen die sich auf die Kosten für Haushaltsenergie oder nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beziehen, bleiben außer Betracht.
Die Voraussetzungen des § 22 Abs. 3 Hs. 1 SGB II sind aufgrund der Heizkostenabrechnung des ehemaligen Vermieters und der Zahlung des Erstattungsbetrages auf das Konto des Klägers am 12.09.2018 erfüllt. Jedoch beziehen sich die Rückzahlungen zur Überzeugung der erkennenden Kammer zum größten Teil auf „nicht anerkannte Aufwendungen“ für Heizung im Sinne des Hs. 2 der Vorschrift und haben daher außer Betracht zu bleiben.
Im Gegensatz zur Rechtslage nach § 22 Abs. 3 SGB II a.F. und der Vorgängervorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II a.F., auf deren Grundlage die bisherigen Entscheidungen des Bundessozialgerichts ergangen sind (vgl. nur Urteile vom 22.03.2013, B 4 AS 139/11 R, juris, Rdnr. 19 f. und vom 12.12.2013, B 14 AS 83/12 R, juris, Rdnr. 15), sieht § 22 Abs. 3 nach der Neuregelung vor, dass zumindest teilweise berücksichtigt werden soll, wie das Einkommen erwirtschaftet wurde. Entgegen der Auffassung des Beklagten sind daher die früheren Entscheidungen der BSG nicht mehr unmittelbar auf die Neufassung der Norm zu übertragen.
Die Auslegung, dass unter nicht anerkannte Aufwendungen auch solche Aufwendungen fallen, die ein später Leistungsberechtigter außerhalb des Leistungsbezuges getätigt hat, folgt für die Kammer aus einer verfassungskonformen Auslegung der neu gefassten Vorschrift.
Nach dem Willen des Gesetzgebers, sichtbar aus der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 18/8041, S. 40), wird nach der Wiedergabe des Wortlauts der Vorschrift als Regelbeispiel auf die Situation abgestellt, dass Leistungsberechtigte den nicht anerkannten Teil der Aufwendungen eigenverantwortlich aus dem Regelbedarf oder aus vorhandenem Einkommen oder Vermögen erbringen. Es sei unbillig, wenn ein Teil der Rückzahlung oder des Guthabens auch den anerkannten Teil der Bedarfe mindere, soweit der rückgezahlte Betrag der Höhe nach zuvor erbrachten Eigenmitteln entspreche. Damit klingt an, dass die Herkunft der Guthaben nur dann zu berücksichtigen sei, wenn diese während laufenden Leistungsbezuges und nach Vollzug einer Kostensenkungsaufforderung seitens des kommunalen Trägers aus Mitteln des Leistungsberechtigten, sei es aus dem Regelbedarf oder anderen Eigenmitteln, erwirtschaftet worden sind (so auch die Kommentarliteratur, vgl. etwa Luik in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, Rdnr. 171 zu § 22 einerseits und Rdnr. 175 zu § 22 andererseits; Gagel, SGB II / SGB III, Werkstand: 74. EL Juni 2019, Rdnr. 96 zu § 22 SGB II einerseits und Rdnr. 97 zu § 22 SGB II andererseits). In diesem Sinne wäre die Lesart des § 22 Abs. 3 Hs. 2 Fall 2 SGB II diejenige, dass nur Rückzahlungen, die sich auf beantragte, jedoch nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beziehen, außer Betracht zu bleiben hätten.
Diese Auslegung würde zur Auffassung der Kammer jedoch eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Leistungsberechtigten einerseits darstellen, die ein Guthaben durch „Eigenmittel“ aus der Regelleistung und solchen, die ein Guthaben durch außerhalb des Leistungsbezuges eingenommene Mittel erwirtschaftet haben. Sie vermag im Lichte des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht zu überzeugen.
Der allgemeine Gleichheitssatz fordert für eine gesetzliche Unterscheidung den „sachlich oder sonstwie einleuchtenden, den rechtfertigenden Grund für die jeweilige Rechtsfolge“ (vgl. P. Kirchhof in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 87. EL März 2019, Rdnr. 75 zu Art. 3 m.w.N.). Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn der Gesetzgeber eine Gruppe anders behandelt als eine andere, obwohl zwischen den Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht vorliegen, dass diese eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 100, 195, 205; st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts).
Nach diesen Grundsätzen würde eine Auslegung im oben genannten Sinne zu einer Verletzung des Gleichheitssatzes führen. Wenn der Gesetzgeber postuliert, dass es eine Unbilligkeit darstellt, Rückzahlungen (und Guthaben) als Einkommen anzurechnen, die sich auf während Leistungsbezuges vom Leistungsträger nicht anerkannte Aufwendungen beziehen, weil die kommunalen Träger damit Rückgriff auf Eigenmittel der Leistungsberechtigten nehmen, ist nicht einzusehen, warum Rückzahlungen (und Guthaben) ohne weiteres als Einkommen angerechnet werden können, wenn sie auf außerhalb des Leistungsbezuges getätigte Vorauszahlungen zurückgehen. Für diese gilt umso mehr, dass sie auf erbrachten Eigenmitteln der Leistungsberechtigten beruhen, nämlich auf Mitteln, die in der Regel durch ihre eigene Erwerbsarbeit erwirtschaftet worden sind.
Eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift muss daher alle Fälle erfassen, in denen Rückzahlungen und Guthaben sich auf nicht vom kommunalen Träger finanzierte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beziehen. Die Rückausnahme von der grundsätzlichen Anrechnung erstreckt sich nach der hier für richtig gehaltenen Auslegung somit auf Rückzahlungen und Guthaben, die vom Leistungsträger nicht berücksichtigt oder für die keine Leistungen erbracht worden waren.
Diese Auslegung überspannt auch nicht den Rahmen des Wortlauts der Vorschrift. Unter „nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung“ lassen sich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ohne weiteres auch solche Aufwendungen fassen, die nicht zuvor bei einem Leistungsträger beantragt worden waren.
Nicht anerkannt in diesem Sinne war im vorliegenden Fall der Anteil der Rückzahlung von Heizkosten an den Kläger, der auf Zeiträume zurückgeht, in denen er nicht im Leistungsbezug gestanden hat, vorliegend betreffend den Abrechnungszeitraum 2017 also die Kalendermonate Januar bis November 2017 und ein Anteil im Kalendermonat Dezember 2017. Dieser Anteil ist, da im Falle des Klägers die Unterkunftskosten vollumfänglich berücksichtigt, aber aufgrund Einkommens des Klägers nur teilweise Leistungen für sie erbracht worden sind, nach dem Bruchteil der Leistungserbringung zu errechnen. Dies ergibt sich daraus, dass die Bedarfe für Unterkunft und Heizung als einheitliche Leistung erbracht werden und bei der Einkommensanrechnung nicht nach Nettokaltmiete, Betriebs- und Heizkosten unterschieden wird. Der Beklagte hat für Dezember 2017 nach Einkommensanrechnung einen Teilbetrag an Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 213,47 € von einer vom Kläger zu bezahlenden Gesamtmiete in Höhe von 392,90 € erstattet. Dies entspricht einem prozentualen Anteil von (gerundet) 54%. Damit sind für einen Anteil von 46% der Heiz- und Betriebskosten im Dezember 2017 keine Leistungen erbracht worden und ist zu diesem Anteil die Rückzahlung anrechnungsfrei.
Insgesamt beziehen sich von der Heizkostenrückzahlung 11/12, also 91,6% zuzüglich 46% von 1/12, also 3,8% des Jahresbetrages für Dezember 2017, auf nicht vom Beklagten anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung. Anrechenbar sind folglich lediglich 4,6% der Heizkostenrückzahlung, mithin 22,25 €. Zu diesem Anteil waren die Anrechnung und folglich auch der angegriffene Änderungsbescheid, rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten.
4. Die identischen Überlegungen führen auch zu einer teilweisen Rechtswidrigkeit des Änderungsbescheides vom 15.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2018. Auch hier ist lediglich ein Anteil in Höhe von 4,6% der Erstattung anrechenbar. Das macht gerundet einen Betrag in Höhe von 1,18 € aus.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht im Ergebnis dem Ausgang des Rechtsstreits.
6. Die Berufung und Revision waren zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat im Sinne der §§ 144 Abs. 2 Nr. 1 und § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu der streitentscheidenden Frage, ob bzw. in welchem Umfang für die Anrechnung einer Rückzahlung oder eines Guthabens nach § 22 Abs. 3 SGB II auf die Herkunft der Mittel abgestellt werden muss, aus denen die Vorauszahlungen erbracht worden sind, ist zur Rechtslage vor dem Neunten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – ergangen. Zur neuen Rechtslage existiert, soweit ersichtlich, noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung.

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