Aktenzeichen S 28 KA 367/17
BMV-Ä § 15 Abs. 2, § 48 Abs. 1
SGB V § 106 Abs. 2, § 295 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
BOÄ § 7 Abs. 4
Leitsatz
Im Fall des Vorwurfs einer unzulässigen Fernbehandlung ist der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 BMV-Ä (Feststellung sonstigen Schadens) und nicht der des § 106 Abs. 2 SGB V (Wirtschaftlichkeitsprüfung) eröffnet. (Rn. 22 – 27)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2.
Gründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 3.7.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage sind erfüllt.
Die Klage ist jedoch unbegründet.
Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit des Bescheids des Beklagten vom 3.7.2017 bestehen nicht. Insbesondere ist der Bescheid gem. § 35 SGB X ausreichend begründet. Der Kläger hat grundsätzlich keinen Anspruch auf eine „richtige Begründung“ (Mutschler in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand Dezember 2017, § 35 SGB X Rn. 10), so dass es in formeller Hinsicht nicht darauf ankommt, dass vorliegend der Anwendungsbereich des § 48 BMV-Ä und nicht der des § 106 SGB V eröffnet war.
Der Bescheid ist im Ergebnis auch in materiellrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden, wenngleich der Beklagte richtigerweise statt der Durchführung einer Wirtschaftlichkeitsprüfung gem. § 106 SGB V einen sonstigen Schaden gem. § 48 Abs. 1 BMV-Ä hätte feststellen müssen.
Gem. § 48 Abs. 1 BMV-Ä wird der sonstige durch einen Vertragsarzt verursachte Schaden, der einer Krankenkasse aus der unzulässigen Verordnung von Leistungen, die aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sind, oder aus der fehlerhaften Ausstellung von Bescheinigungen entsteht, durch die Prüfungseinrichtungen nach § 106 SGB V festgestellt.
Das BSG grenzt die für Verordnungsfehler in Betracht kommenden Prüfungen gemäß § 106 SGB V einerseits und § 48 BMV-Ä andererseits – in beiden Konstellationen sind die Prüfgremien zuständig – danach voneinander ab, „ob geltend gemacht wird, die Verordnung selbst sei in ihrer inhaltlichen Ausrichtung fehlerhaft gewesen – z.B. fragwürdiger Off-Label-Use -; dann ist der Anwendungsbereich des § 106 SGB V eröffnet. Wird hingegen geltend gemacht, (nur) die Art und Weise der Ausstellung der Verordnung sei fehlerhaft gewesen, so steht ein „sonstiger Schaden“ in Frage, der im Verfahren gemäß § 48 BMV-Ä geltend zu machen ist“ (BSG, Urteil vom 20.3.2013, Az. B 6 KA 17/12 R, Rn. 19 m.w.N.).
Vorliegend macht der Beklagte geltend, dass den streitgegenständlichen Verordnungen des Klägers unzulässige Fernbehandlungen zugrunde liegen. In zwei Fällen lägen keine Abrechnungsscheine vor. Bedenken hinsichtlich des Inhalts der Verordnungen werden hingegen nicht geäußert.
Aus Sicht der Kammer betrifft der Vorwurf der unzulässigen Fernbehandlung nur die Art und Weise der Ausstellung der Verordnungen, so dass der Anwendungsbereich des § 48 BMV-Ä eröffnet ist. Auch der Vorwurf der fehlenden Abrechnungsscheine mit der Angabe einer der Verordnung zugrunde liegenden ärztlichen Behandlung betrifft die Verfahrensmodalitäten bei der Ausstellung der Verordnung bzw. die Art und Weise des Vorgehens bei deren Ausstellung (BSG, ebenda, Rn. 21).
Die Schadensfeststellung nach § 48 Abs. 1 BMV-Ä setzt anders als die Prüfung nach § 106 Abs. 2 SGB V einen Antrag der Krankenkasse, eine Verletzung vertragsärztlicher Pflichten, einen hieraus resultierenden Schaden sowie ein schuldhaftes – also zumindest fahrlässiges – Verhalten des Arztes voraus. Zudem darf die Bagatellgrenze i.H.v. 25,60 € (§ 51 Satz 1 BMV-Ä a.F.) nicht unterschritten werden. Die Schadensfeststellung unterliegt einer vierjährigen Verjährungsfrist (BSG, ebenda, Rn. 20; Engelhard in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand 11/2017, § 106 Rn. 116 ff.).
Vorliegend bestehen von Seiten der Kammer keine Zweifel, dass die Voraussetzungen der Schadensfeststellung i.H.v. 850,89 € erfüllt sind.
Ein Prüfantrag u.a. wegen unzulässiger Fernbehandlung wurde von Seiten der Beigeladenen zu 2. gestellt; dieser ist im Wege der Auslegung auch als Antrag auf Feststellung eines sonstigen Schadens zu deuten.
Der Kläger hat nach Überzeugung der Kammer gegen seine vertragsärztlichen Pflichten verstoßen, indem er die streitgegenständlichen Verordnungen von Strodival und Strodival mr ausgestellt hat, ohne sich zuvor persönlich von dem Krankheitszustand der Patienten zu überzeugen.
Es handelt sich bei allen Patienten um solche, deren Wohnorte sich weit entfernt vom Vertragsarztsitz des Klägers befinden. Lt. den Behandlungsausweisen hat der Kläger an den Tagen der Rezeptausstellungen jeweils die 01430 oder die 01435 EBM abgerechnet, die jeweils keinen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt voraussetzen. Aus den Behandlungsscheinen ergeben sich auch keine früheren persönlichen Untersuchungen der Patienten durch den Kläger, so dass kein Hinweis für (ggf. zulässige) Ausstellungen von Wiederholungsrezepten besteht. Derartige persönliche Kontakte hat der Kläger auch nicht behauptet. Die Kammer hat keine Zweifel, dass es sich jeweils um Patienten handelt, die vom Kläger über seine Homepage, andere Informationen im Internet oder durch sonstige Empfehlungen erfahren haben, diesen – wie in den zahlreichen vorgelegten Briefen – schriftlich und/oder telefonisch wegen der Verordnung von Strodival/Strodival mr kontaktiert haben und von diesem die gewünschten Verordnungen erhalten haben, ohne zuvor von ihm (jemals) persönlich untersucht worden zu sein.
Hierin ist sowohl ein Verstoß gegen § 15 Abs. 2 BMV-Ä als auch gegen § 7 Abs. 4 BOÄ Bayern zu sehen.
§ 15 Abs. 2 BMV-Ä lautet:
„Verordnungen dürfen vom Vertragsarzt nur ausgestellt werden, wenn er sich persönlich von dem Krankheitszustand des Patienten überzeugt hat oder wenn ihm der Zustand aus der laufenden Behandlung bekannt ist. Hiervon darf nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden.“
§ 7 Abs. 4 BOÄ Bayern lautet:
„Der Arzt darf individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen. Auch bei telemedizinischen Verfahren ist zu gewährleisten, dass ein Arzt den Patienten unmittelbar behandelt.“
Eine persönliche ärztliche Behandlung/Untersuchung der Patienten im Zusammenhang mit der Verordnung von Strodival/Strodival mr ist in den streitgegenständlichen Fällen weder durch den Kläger noch durch einen anderen Arzt erfolgt. Telefonate mit Patienten und die Kenntnis von Arztbriefen allein genügen nicht, um sich ein umfassendes Bild vom Krankheitszustand der Patienten zu machen.
Daneben stellt in zwei Fällen das Fehlen der Abrechnungsscheine – und somit das Fehlen der Angabe einer der Verordnung zugrunde liegenden ärztlichen Behandlung – einen Verstoß gegen die vertragsärztlichen Aufzeichnungs- und Übermittlungspflichten dar.
§ 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V normiert, dass die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen verpflichtet sind, in den Abrechnungsunterlagen für die vertragsärztlichen Leistungen die von ihnen erbrachten Leistungen einschließlich des Tages der Behandlung, bei ärztlicher Behandlung mit Diagnosen, bei zahnärztlicher Behandlung mit Zahnbezug und Befunden aufzuzeichnen und zu übermitteln. Die Diagnosen nach Satz 1 Nr. 1 und 2 sind nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der jeweiligen vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen deutschen Fassung zu verschlüsseln (§ 295 Abs. 1 Satz 2 SGB V).
Ein Verstoß gegen § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V ist gegeben (vgl. auch BSG, Urteil vom 4.5.1994, Az. 6 RKa 37/92, Rn. 22 f.).
Der Kläger handelte mindestens fahrlässig und somit schuldhaft. Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Vertragsarzt musste er so essentielle Pflichten wie die persönliche Untersuchung des Patienten vor Verordnung eines Arzneimittels und die Dokumentations- und Übermittlungspflicht kennen.
Die Verletzungshandlungen waren auch kausal für den der Beigeladenen zu 2. entstandenen Schaden. Etwaige hypothetische alternative Geschehensabläufe waren nicht zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 20.3.2013, Az. B 6 KA 17/12 R, Rn. 36 f. m.w.N.).
Die Bagatellgrenze des § 51 BMV-Ä a. F. spielt vorliegend keine Rolle.
Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit der Berechnung des Schadens bestehen nicht.
Es war somit ein sonstiger, der Beigeladenen zu 2. entstandener Schaden i.H.v. 850,89 € festzustellen.
Vorliegend hat der Beklagte, ohne die Voraussetzungen des sonstigen Schadens gem. § 48 Abs. 1 BMV-Ä näher zu prüfen, einen Regress in selber Höhe festgesetzt. Diese Regressfestsetzung basiert im Ergebnis jedoch auf denselben Pflichtverstößen wie der festgestellte sonstige Schaden – Verstöße gegen § 15 Abs. 2 BMV-Ä bzw. § 7 Abs. 4 BOÄ Bayern sowie gegen § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V. Da dieselben Verstöße inmitten stehen, liegt in der Feststellung eines sonstigen Schadens statt der Festsetzung eines Regresses keine Wesensänderung des Bescheids (vgl. Littmann in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand 4/2013, § 35 Rn. 5).
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2. sind unter Billigkeitserwägungen erstattungsfähig, weil sie einen Antrag gestellt und das Verfahren wesentlich gefördert hat (§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO).