Aktenzeichen S 11 KR 138/13
SGB IX SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1
Leitsatz
Gesetzlich Krankenversicherte müssen anstelle einer Versorgung mit einem CGMs-Gerät sich nicht darauf verweisen lassen, erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf zu nehmen, mit der Konsequenz einer früher einsetzenden Blindheit und weiterer diabetesbedingter Folgeerkrankungen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 04.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2013 verurteilt, den Kläger mit einem kontinuierlichen Glukosemonitoring-System (Dexcom G4 bzw. G5 Starterset) nebst dem hierfür erforderlichen Zubehör sowie dem notwendigen laufenden Verbrauchsmaterial (jeweils als Sachleistung) zu versorgen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Das Gericht durfte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben (Schreiben vom 22.12.2016 und 15.12.2016).
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist auch im Übrigen zulässig (§§ 51, 54, 57, 78, 87, 90 SGG).
Die Klage ist auch begründet.
Die Beklagte ist verpflichtet, den Kläger mit einem kontinuierlichen Glukosemonitoring-System (Dexcom G 4 bzw. G 5 Starterset) nebst dem hierfür erforderlichen Zubehör sowie dem notwendigen laufenden Verbrauchsmaterial im Rahmen der Sachleistung zu versorgen (§§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Das Schreiben der Beklagten vom 01.10.2012 war nicht aufzuheben, weil es weder der äußeren Form nach einen Bescheid darstellt – es wurde nicht als Bescheid bezeichnet und war auch nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung:versehen – noch enthält es einen anfechtbaren Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Denn in diesem Schreiben wurde lediglich der Verfügungssatz des Widerspruchsbescheids vom 04.09.2012, nämlich die Ablehnung der Kostenübernahme für das streitgegenständliche Hilfsmittel wiederholt und die Begründung des Bescheids vom 04.09.2012 ergänzt, ohne dass das Schreiben einen eigenständigen Regelungsgehalt enthält (siehe Engelmann in: von Wulffen/Schütze, SGB X, § 31 Rn. 32 m.w.N.). Es liegen auch nicht die Voraussetzungen für die Annahme vor, dass die Widerspruchsbehörde dem Schreiben der Ausgangsbehörde vom 01.10.2012 die „Gestalt eines Verwaltungsakts“ gegeben hat (siehe hierzu Engelmann in: von Wulffen/Schütze, a.a.O., § 31 Rn. 26 m.w.N.). Denn es existiert im vorliegenden Fall bereits ein Ausgangsbescheid und das Schreiben vom 01.10.2012 enthält keinen darüber hinausgehenden Regelungsgehalt. Eine „Aufhebung“ dieses Schreibens war daher nicht veranlasst und der klägerische Antrag gemäß § 123 SGG ohne Bindung an die Formulierung des Antrags entsprechend auszulegen.
Versicherte haben nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 SGB V Anspruch auf Leistungen zur Verhütung von Krankheiten und deren Verschlimmerung. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben sie Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u. a. die Versorgung mit Hilfsmitteln (Satz 2 Nr. 3).
Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
Diese Voraussetzungen liegen im vorliegenden Fall vor. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass dem Kläger gegen die Beklagte ein Anspruch auf Versorgung mit dem streitgegenständlichen CGMS zusteht. Denn die Versorgung mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel ist nämlich erforderlich, um beim Kläger den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Es ist nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen und auch nicht § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen.
Dabei stützt sich das Gericht auf eine Gesamtwürdigung der in den Akten enthaltenen ärztlichen Unterlagen und Stellungnahmen, insbesondere auf das überzeugende und schlüssige Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. G. vom 21.06.2014 einschließlich ergänzender Stellungnahmen vom 13.01.2015, 27.06.2015, 01.06.2016, 19.09.2016 und 29.11.2016.
Die Klage ist schon deshalb begründet, weil das streitgegenständliche Hilfsmittel medizinisch notwendig ist, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (§ 33 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGB V).
Seit dem 07.09.2016 ist die Versorgung mit der kontinuierlichen interstitiellen Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten (rtCGM) zur Therapiesteuerung bei Patientinnen und Patienten mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus offiziell als Kassenleistung anerkannt. In der Anlage I der Richtlinie des G-BA zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Methoden, die als vertragsärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen) wurde die entsprechende Nr. 20 angefügt. Die Voraussetzungen der Indikation gemäß § 2 der Richtlinien liegen hier vor. Danach darf die kontinuierliche interstitielle Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten (rtCGM) zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden
1.bei Patientinnen und Patienten mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus,
2.die einer intensivierten Insulinbehandlung bedürfen, in dieser geschult sind und diese bereits anwenden,
3.insbesondere dann, wenn die zwischen Ärzten und Arzt und Patientin oder Patient festgelegten individuellen Therapieziele zur Stoffwechseleinstellung auch bei Beachtung der jeweiligen Lebenssituation der Patientin oder des Patienten nicht erreicht werden können
4.und wenn die Voraussetzungen des § 3 vorliegen.
Nach § 3 Abs. 2 sind zur Durchführung der Methode rtCGM im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt
1. Fachärzte für innere Medizin und Endokrinologie und der Diabetologie oder …
Diese Voraussetzungen liegen im vorliegenden Fall vor.
In seiner ärztlichen Stellungnahme vom 21.10.2016 hat der behandelnde Diabetologe Dr. F. schlüssig dargelegt, dass das Therapieziel, die Aufrechterhaltung der bisher erreichten normnahen Diabeteseinstellung bei Vermeidung schwerer Hypoglykämien, unter einer konventionellen Blutzuckerselbstmessung aus der Fingerkuppe mit vier bis sieben Messungen/Tag nicht mehr erreichbar sei. Trotz der Teilnahme an Hypoglykämie-Wahrnehmungsschulungen in den Jahren 2012, 2013 und 2016 sei die Hypoglykämieschwelle beim Kläger deutlich vermindert. Der Kläger sei ohne eine kontinuierliche Glukoseüberwachung mit einem CGMS erheblich durch das Auftreten schwerer Hypoglykämien vital gefährdet. Er entspreche genau dem Personenkreis, der nach der Nutzenbewertung für die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) mit Real-Time-Geräten einen Zusatznutzen vom IQWIG zugesprochen bekommen habe.
Diese Beurteilung steht in Übereinstimmung mit den überzeugenden gutachterlichen Ausführungen des erfahrenen ärztlichen Sachverständigen Dr. G.. Nach ambulanter Untersuchung des Klägers hat er in seinem Gutachten vom 21.06.2014 folgende Gesundheitsstörungen festgestellt:
1. Diabetes mellitus Typ I (Erstdiagnose 1984) mit Hypoglykämiewahrnehmungsstörung, Insulinpumpentherapie.
2. Autonome diabetische Neuropathie.
3. Nicht proliferative diabetische Retinopathie.
4. Mediasklerose beidseits im Sinne einer beginnenden diabetischen Angiopathie.
Beim Kläger liegt ein Diabetes mellitus Typ I seit dem ca. 25. Lebensjahr vor. Im Befundbericht des Diabeteszentrums vom 17.07.2013 wird als Erstdiagnose 1984 genannt. Im Befundbericht des Diabeteszentrums B. M. vom 08.05.2012 wird angegeben, dass bei ihm seit 28 Jahren der Diabetes mellitus Typ I bekannt ist, der durch Polyurie, Polydypsie, Gewichtsverlust mit einem Blutzucker von 500 mg/dl festgestellt wurde. Seit 20 Jahren führt der Kläger eine Insulinpumpentherapie durch. Der Kläger stellte sich dort im April 2012 sowohl zur Pumpenkorrektureinstellung als auch zum Hypoglykämiewahrnehmungstraining bei Hypoglykämiewahrnehmungsstörung vor. Als Diabetes-assoziierte Folgeerkrankung hat sich – was im Übrigen zwischen den Beteiligten unstreitig ist – eine schwere Hypoglykämiewahrnehmungsstörung mit rezidivierenden schweren Hypoglykämien ca. zweimal pro Jahr entwickelt, was auch im Befundbericht der J. vom 28.01.2016 bestätigt wurde. Die auftretenden Hypoglykämien sind zum Teil dokumentiert. Im Entlassungsbericht des Diabeteszentrums vom 17.07.2013 wird eine schwere Hypoglykämie mit Notarzteinsatz im April 2013 dokumentiert sowie zwei Tage später nochmals eine Hypoglykämie. Im Befundbericht von 2012 werden auch drei hilfsbedürftige Hypoglykämien aus 2011 vor der stationären Aufnahme 2012 berichtet. Im Befundbericht der J. vom 18.01.2016 wird eine schwere Hypoglykämiewahrnehmungsstörung mit rezidivierenden schweren Hypoglykämien ca. zweimal pro Jahr beschrieben sowie die nicht proliferative diabetische Retinopathie. Grundlage der Wahrnehmungsstörung ist eine autonome diabetische Neuropathie, wie sie auch im Befundbericht der J. vom 28.01.2016 bestätigt wurde.
Diese rezidivierenden schweren Hypoglykämien sind trotz Teilnahme des Klägers an Hypoglykämiewahrnehmungstrainings aufgetreten. Während des Aufenthalts im Diabeteszentrum B. M. hat der Kläger im April 2012 an einer problemspezifischen Schulungs- und Behandlungsgruppe für Patienten mit Hypoglykämiewahrnehmungsproblemen teilgenommen. Es wurde beschrieben, dass der Kläger Übungen zur systematischen Überprüfung der körperlichen und kognitiven Anzeichen einer Hypoglykämie erlernte, die es erlauben können, den aktuellen Blutzuckerwert schnell abzuschätzen. Abschließend wurde ausgeführt, dass es dem Kläger durch die Verbesserung der Hypoglykämiewahrnehmung möglich war, Unterzuckerungen anhand neuroglykopenischer Symptome wie Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen zunehmend besser wahrzunehmen und adäquat zu behandeln. Bei Fortführung der Hypoglykämiewahrnehmungs- und -vermeidungsstrategien wurde eine weitere Verbesserung der Wahrnehmung erwartet. Dennoch kam es im April 2013 zu einer schweren Hypoglykämie mit Notarzteinsatz, nachdem eine Behandlung durch die Ehefrau des Klägers mit einer Glykagon-Injektion wegen Aggressivität nicht möglich war (Befundbericht des Diabeteszentrums F-Stadt vom 17.07.2013). Des weiteren berichtet der Kläger, dass er auch auf die Hilfe seiner Ehefrau mittels Glykagon-Spritze angewiesen war. Im Entlassungsbericht des Diabeteszentrums vom 17.07.2013 wird eine schwere Hypoglykämie mit Notarzteinsatz im April 2013 dokumentiert sowie zwei Tage später nochmals eine Hypoglykämie.
In Übereinstimmung mit den zutreffenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. G. in seinem Gutachten vom 21.06.2014 einschließlich ergänzender Stellungnahmen vom 13.01.2015, 27.06.2015, 01.06.2016, 19.09.2016 und 29.11.2016 ist das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass beim Kläger aufgrund der autonomen diabetischen Neuropathie eine Hypoglykämiewahrnehmungsstörung vorliegt, der Kläger auch bei sachgerechtem Umgang mit seiner Krankheit dem Risiko der Hypoglykämie weiter ausgesetzt ist und derartige Hypoglykämien aller Voraussicht nach auch in Zukunft erneut auftreten werden. Das Wahrnehmungstraining ist keine geeignete und medizinisch ausreichende Alternative, die Hypoglykämien und hypoglykämiebedingte Folgeschäden zu vermeiden. Dies ist – worauf der gerichtliche Sachverständige Dr. G. zu Recht hinweist – bereits daraus ersichtlich, dass trotz dieser Maßnahme im Jahr 2012 Hypoglykämien wiederum aufgetreten sind, mit der Notwendigkeit von Fremdhilfe durch die Frau und einmal auch von Hilfe durch den Notarzt. Das Hypoglykämiewahrnehmungstraining ist somit nicht ausreichend, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, insbesondere, Hypoglykämien zu vermeiden.
Die Einwendungen der Beklagten hiergegen sind allesamt unbegründet.
Soweit der MDK Bayern in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 03.11.2014 ausführt, „… ob und in welchem Ausmaß die bei der Entlassung empfohlene Fortsetzung des Hypoglykämiewahrnehmungstrainings unter Alltagsbedingungen bei Einhaltung der therapeutischen Vorgaben erfolgt ist, kann aus den Unterlagen nicht abgeleitet werden. Vorrangige Maßnahme wäre somit in jedem Fall eine erneute ggf. intensivierte Schulung zur Hypoglykämiewahrnehmung …“, und damit wohl Zweifel an der Umsetzung der Schulungsmaßnahmen durch den Kläger äußert, weist Dr. G. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13.01.2015 zu Recht darauf hin, dass derartige Zweifel nicht begründet sind. Vielmehr konnte er bei der persönlichen Untersuchung des Klägers weder ein intellektuelles Defizit feststellen, welches die Schulungsmaßnahmen ineffektiv werden ließe, noch konnte er einen Motivationsmangel für die Durchführung der Maßnahmen feststellen. Im Gegenteil, der Kläger wirkte hoch motiviert, mit dem Diabetes mellitus und der Hypoglykämiewahrnehmungsstörung zurechtzukommen.
Nicht nachvollziehbar ist auch der von der Beklagten – gestützt auf den MDK Bayern -, wiederholt vorgetragene Einwand, dass die Blutzucker- und Therapiedokumentation unzureichend sei und eine Beurteilung erst nach Vorlage eines vierteljährlichen Blutzuckertagebuchs erfolgen könne (siehe Schriftsatz der Beklagten vom 14.10.2016 und sozialmedizinisches Gutachten des MDK Bayern vom 07.11.2016). Denn es liegt aufgrund der autonomen diabetischen Neuropathie eine schwere Hypoglykämiewahrnehmungsstörung vor, so dass aus der Vorlage eines weiteren vierteljährlichen Blutzuckertagesprofils keine neuen Erkenntnisse gewonnen werden können, die für die Beantwortung der streitentscheidenden Fragen erheblich wären. Vielmehr ist der medizinische Befund – worauf Dr. G. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29.11.2016 zutreffend hinweist – ausreichend gesichert. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des MDK Bayern ist der Kläger auch bei sachgerechtem Umgang mit seiner Krankheit dem Risiko der Hypoglykämie weiter ausgesetzt und es ist davon auszugehen, dass derartige Hypoglykämien auch in Zukunft mit Wahrscheinlichkeit erneut auftreten.
Dass beim Kläger die Hypoglykämie-Wahrnehmungsschwelle weiterhin deutlich vermindert ist und er ohne eine kontinuierliche Glukose-Überwachung mit einem CGMS erheblich durch das Auftreten schwerer Hypoglykämien vital gefährdet ist, wird auch – wie bereits dargelegt – vom behandelnden Diabetologen Dr. F. in seiner Stellungnahme vom 21.10.2016 bestätigt.
Die Beklagte begnügt sich hingegen mit Schriftsatz vom 05.03.2014 – gestützt auf das sozialmedizinische Gutachten des MDK Bayern vom 05.03.2014 – damit, dass nach ihrer Prognose bei adäquater Dokumentation und bei entsprechend häufigen BZ-Kontrollen mit adäquater Therapieanpassung eine Verbesserung der Stoffwechseleinstellung mit Reduktion der Hypoglykämien erreicht werden könne. Demgegenüber ist das streitgegenständliche CGMS auch nach den zutreffenden Ausführungen des Diabetologen Prof. Dr. H. (AGDT) vom 02.08.2016 aufgrund seiner Alarmierungsfunktion in der Lage, den Patienten – so auch den Kläger – insbesondere im Schlaf vor lebensbedrohlichen Zuständen zu bewahren bzw. in die Lage zu versetzen, die vom Arzt für solche Fälle erhaltenen Therapieanweisungen überhaupt umsetzen zu können. Eine Alternative zu den Funktionen Alarmierung/Früherkennung/Verhinderung von (schweren) Hypoglykämien durch das CGMS ist nicht vorhanden. Vielmehr verkennt die Beklagte und der MDK Bayern mit ihrer – durch konkrete Anhaltspunkte nicht hinreichend gesicherten – Erwartung, dass durch eine Verbesserung des Wahrnehmungstrainings Hypoglykämien reduziert werden könnten, dass im Hinblick auf die in §§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 SGB V normierte Zielsetzung, nämlich Erkennen einer Krankheit und Verhütung einer Krankheit und deren Verschlimmerung, eine bloße Reduktion der Hypoglykämien nicht ausreichend ist, wenn – wie hier das CGMS – ein Hilfsmittel zur Verfügung steht, das die Zielsetzung der genannten Vorschriften weitgehend verwirklicht.
Soweit der MDK Bayern im sozialmedizinischen Gutachten vom 07.11.2016 ausführt, „… eine strikte Vermeidung von Hypoglykämien, u. a. durch eine vorübergehende Erhöhung des Blutzuckerzielwertes, ist die beste Maßnahme zur Behandlung einer gestörten Hypoglykämiegegenregulation und -wahrnehmung. Hierfür müssen vorübergehend erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf genommen werden …“, widerspricht dieser Vorschlag in eklatanter Weise der Verpflichtung der Beklagten gemäß §§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, eine Krankheit bzw. deren Verschlimmerung zu verhüten. Denn beim Kläger liegt bereits eine nicht proliferative diabetische Retinopathie der Augen vor, so dass – worauf der gerichtliche Sachverständige Dr. G. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29.11.2016 zu Recht hinweist – mit diesem Vorschlag eine Verschlechterung der Sehkraft bis hin zur Blindheit in Kauf genommen wird, um Hypoglykämien zu vermeiden. Sowohl aus sozialmedizinischer als auch aus allgemeinärztlicher Sicht ist es nicht nachvollziehbar, erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf zu nehmen mit der Konsequenz der früher einsetzenden Blindheit des Klägers bei jetzt schon diabetisch vorgeschädigten Augen. Hingegen kann durch das beantragte Gerät das Risiko von Hypoglykämien ganz erheblich gesenkt werden, auch wenn eine qualitative Aussage zu einem Prozentsatz nicht möglich ist. Insoweit hat auch der behandelnde Diabetologe Dr. F. am 21.10.2016 bestätigt, dass die Aufrechterhaltung der bisher normnahen Diabeteseinstellung unter einer konventionellen Blutzuckerselbstmessung aus der Fingerkuppe mit vier bis sieben Messungen/Tag nicht mehr erreichbar ist. Aus Sicherheitsgründen müssten die Blutzucker-Ziel-Werte deutlich erhöht werden, so dass der bisher erreichte HbA1c-Bereich von 6 – 7% auf über 7,5% angehoben werden müsste. Dies würde aber das Risiko für ein Fortschreiten der Diabetesfolgeerkrankungen (Niereninsuffizienz, Blindheit und potentiell lebensgefährliche Stoffwechsellagen) erheblich erhöhen.
Schon aus den dargelegten Gründen sind die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGB V („… um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern“) erfüllt und die Beklagte antragsgemäß zu verpflichten.
Darüber hinaus ist die Versorgung mit dem streitgegenständlichen CGMS medizinisch erforderlich, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. SGB V) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Alt.).
Menschen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Solche Behinderungen sind hier die Hypoglykämiewahrnehmungsstörung des Klägers und der Bewusstseinsverlust, zu dem Hypoglykämien führen. Dieser Bewusstseinsverlust ist durchaus vom klinischen Bild her, aber auch aufgrund der sozialmedizinischen Bedeutung mit der Behinderung durch Epilepsie vergleichbar. Auch hier kommt es zu Bewusstseinsverlusten, die zu Hause, am Arbeitsplatz oder auf der Straße auftreten können und entsprechende soziale Folgen nach sich ziehen. Die mit dem CGMS verbundene Alarmfunktion warnt den Kläger akustisch vor bestehenden Unterzuckerungs- und Überzuckerungssituationen und beugt somit einer drohenden Behinderung, nämlich dem durch eine schwere Unterzuckerung eintretenden Bewusstseinsverlust und den damit verbundenen direkten und unmittelbaren Folgen, die für den Kläger lebensbedrohlich sein können, vor. Darüber hinaus gleicht es die Behinderung „Hypoglykämiewahrnehmungsstörung“ aus. Das streitgegenständliche CGMS ist auch insoweit medizinisch erforderlich, weil es im Hinblick auf die in den Alt. 2 und 3 des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB genannten Zielsetzungen keine geeignete und gleichermaßen wirksame Alternative gibt. Zutreffend führt Prof. Dr. H. in seiner Stellungnahme vom 02.08.2016 insbesondere aus, dass es andere Möglichkeiten zur Alarmierung/Früherkennung/Verhinderung von (schweren) Hypoglykämien als das CGM nicht gibt. Selbst durch eine noch so hohe Messfrequenz mit konventioneller Blutzuckermessung kann eine Absicherung während der Nacht nicht erfolgen. Auch beeinträchtigen die genannten Behinderungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.
Der Einwand der Beklagten, dass nach dem jüngsten Beschluss des G-BA die ärztliche Therapieentscheidung bzw. deren Therapieziele und ein diesbezüglicher Nutzen des rtCGM Grundlage für eine Kostenübernahme durch die GKV seien und der alleinige Wunsch nach Befriedigung des Bedürfnisses nach einem Sicherheitsgefühl mittels Alarmfunktion eines Gerätes dagegen nicht ausreichten, verkennt grundlegend die gesundheitliche Situation, in der sich der Kläger befindet, und die Gefahren, die aufgrund eines Bewusstseinsverlustes zu schweren gesundheitlichen Folgeschäden (Niereninsuffizienz, Blindheit und potentiell lebensgefährlichen Stoffwechsellagen) führen können.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Beklagte nach den §§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3, 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V verpflichtet ist, den Kläger mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel im Rahmen der Sachleistung zu versorgen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG. Entsprechend dem Rechtsgedanken des § 93 Zivilprozessordnung (ZPO) ist die Beklagte auch nicht teilweise von den außergerichtlichen Kosten des Klägers freizustellen, weil sie auch nach dem Zeitpunkt (07.09.2016), zu dem die Versorgung mit einem rtCGM durch den Beschluss des G-BA Inhalt des Leistungskatalogs der GKV wurde, an ihrem Klageabweisungsantrag festgehalten hat und für die Beurteilung des vom Kläger geltend gemachten Sachleistungsanspruchs auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen ist.