Medizinrecht

Vertragszahnärztliche Vergütung: Degressionsberechnung bei Gemeinschaftspraxis

Aktenzeichen  L 12 KA 5055/13

Datum:
12.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 115472
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 85 Abs. 4b, § 73 Abs. 2 S. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

Die Degressionsgrenzwerte bei Berufsausübungsgemeinschaften richten sich nach der Zahl der zahnärztlichen Mitglieder und sind nicht zahnarztbezogen, sondern (grundsätzlich) praxis- sowie jahresbezogen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 38 KA 5002/12 2013-11-25 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufungen der Klägerin werden die Urteile des Sozialgerichts München vom 25.11.2013, S 38 KA 5001/12 und S 38 KA 5002/12, sowie die Bescheide der Beklagten vom 20.05.2011 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 02.12.2011 wegen Degressionskürzung 2010, ABE-Nr.014583 und ABE-Nr. 014673, aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über die Degressionskürzung 2010 erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gericht zu entscheiden.
II. Die Beklagte trägt die Kosten der Verfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaften und gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegten Berufungen sind zulässig und begründet. Denn die Umsetzung der Vorschriften zur nach § 85 Abs. 4b SGB V durch die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden gegenüber der Klägerin ist in nicht zutreffender Weise erfolgt. Dabei ist insbesondere zu beanstanden, dass die Beklagte gegenüber der Klägerin eine Berechnung nicht bezogen auf das gesamte Jahr 2010, sondern bezogen auf die einzelnen ABE-Nummern vorgenommen hat.
Nach § 85 Abs. 4b Satz 1 SGB V (in der hier ab dem 1.1.2007 geltenden Fassung des Vertragsarztrechtsänderungsgesetz vom 22.12.2006 BGBl. I 3439) verringert sich ab einer bestimmten Gesamtpunktmenge je Vertragszahnarzt aus vertragszahnärztlicher Behandlung einschließlich der kieferorthopädischen Behandlung je Kalenderjahr der Vergütungsanspruch für die weiteren vertragszahnärztlichen Behandlungen im Sinne des § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 um 20, 30 bzw. 40 v.H. (sog.). Die Punktmengengrenzen bei Berufsausübungsgemeinschaften richten sich nach der Zahl der zahnärztlichen Mitglieder, § 85 Abs. 4b Satz 3 SGB V. Bei Teilzeit oder nicht ganzjähriger Beschäftigung verringern sich die Punktmengengrenzen nach Satz 1 oder die zusätzlich zu berücksichtigende Punktmenge nach Satz 4 entsprechend der Beschäftigungsdauer, § 85 Abs. 4b Satz 5 SGB V. Die Degressionsregelungen des § 85 Abs. 4b bis 4f SGB V sind, wie das BSG und das BVerfG bereits wiederholt entschieden haben, mit Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG sowie mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar (grundlegend BSGE 80, 223 = SozR 3-2500 § 85 Nr. 22, zuletzt BSG, Urteil vom 05.05.2010, – B 6 KA 21/09 R). In den Entscheidungen wird ausgeführt, dass die mit den Degressionsregelungen verbundene Begrenzung der vertragszahnärztlichen Vergütung rechtmäßig ist, weil sie wichtigen Gemeinwohlbelangen dient. Ihr Ziel ist es vor allem, Einsparungen bei den Krankenkassen zu erreichen und die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung zu sichern. Die Bestimmungen sollen zusätzlich Fehlentwicklungen bei der Qualität der zahnärztlichen Versorgung entgegensteuern, indem Zahnärzten mit umsatzstarken Praxen ein Anreiz gegeben wird, Patienten an andere, die Punktmengengrenzen nicht erreichende Zahnärzte abzugeben und so der Gefahr von Qualitätsdefiziten infolge übermäßiger Leistungserbringung entgegenzuwirken. Große Umsätze haben im Allgemeinen Rationalisierungsmöglichkeiten und Kostenvorteile zur Folge. Die Betriebskosten entwickeln sich bei größeren Leistungsmengen degressiv, da die Mitarbeiter und die Geräte produktiver eingesetzt werden können. Das BVerfG hat ausdrücklich ausgesprochen, dass die eine Punktwertdegression rechtfertigenden Zwecke, die Qualität vertragszahnärztlicher Leistungen zu verbessern und die Beitragssatzstabilität und damit die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung zu erhalten, ausreichend gewichtige Gründe des Gemeinwohls sind.
Allerdings hat die Beklagte die Vorschriften über die Punktwertminderung vorliegend nicht zutreffend umgesetzt. Sie hat zwar die gesetzlichen Vorgaben über die degressionsfreien Beträge und die Degressionsgrenzwerte zutreffend angewandt, sie hat jedoch nicht berücksichtigt, dass die Degressionsberechnung grundsätzlich jahresbezogen zu erfolgen hat und vorliegend ein Abweichen von diesem Grundsatz nicht geboten war. Die Höhe der degressionsbedingten Honorarrückforderung ist anhand der gesetzlichen Vorgaben zu bestimmen. Nach § 85 Abs. 4b Satz 1 SGB V in der hier geltenden Fassung verringert sich ab einer Gesamtpunktmenge je Vertragszahnarzt aus vertragszahnärztlicher Behandlung einschließlich der kieferorthopädischen Behandlung von 262.500 Punkten je Kalenderjahr der Vergütungsanspruch für die weiteren vertragszahnärztlichen Behandlungen im Sinne des § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V um 20 v.H., ab einer Punktmenge von 337.500 je Kalenderjahr um 30 v.H. und ab einer Punktmenge von 412.500 im Kalenderjahr um 40 v.H. (sog.). Die Degressionsgrenzwerte bei Berufsausübungsgemeinschaften richten sich nach der Zahl der zahnärztlichen Mitglieder (§ 85 Abs. 4b Satz 3 SGB V); die Degressionsberechnung ist mithin nicht zahnarztbezogen, sondern (grundsätzlich) praxisbezogen durchzuführen. Die Degressionsberechnung hat grundsätzlich jahresbezogen zu erfolgen; eine zeitanteilige Degressionsberechnung der Art, dass einer in bestimmten Zeitabschnitten erbrachten Leistungsmenge in Punkten die zeitanteiligen Degressionsgrenzwerte gegenüber gestellt werden, ist im Gesetz nicht angelegt (vergleiche BSG, Urteil vom 05.05.2010, B 6 KA 21/09, Rn. 26 zur quartalsbezogenen Degressionsberechnung). Das Gesetz geht vielmehr grundsätzlich von einer jahresbezogen Berechnung aus. Dies bestätigt auch der Umkehrschluss aus § 85 Abs. 4b Satz 5 SGB V, wonach bei nicht ganzjähriger Beschäftigung eine Verringerung der Punktmengengrenzen zu erfolgen hat. Im Übrigen würde eine zeitabschnittsweise bzw. quartalsbezogene Degressionsberechnung Praxen mit stark schwankenden Umsätzen benachteiligen und zudem erheblichen Verwaltungsaufwand bedingen. Das BSG hat jedoch Ausnahmen vom Jahresbezug angenommen, wenn in Ausnahmefällen aus Sachgründen Abweichungen geboten sind, wobei eine bloße Änderung der Abrechnungsnummer keine vom Regelfall abweichende Degressionsberechnung erfordert, weil dieser lediglich eine Ordnungsfunktion zukommt (Urteil vom 05.05.2010, B 6 KA 21/09 R, Juris Rn. 30). Eine jahresbezogene Degressionsberechnung verbietet sich beispielsweise, wenn die Degressionsvorschriften nur für einen Teil des Jahres gelten (BSG SozR 4-2500 § 85 Nr. 15) oder wenn ein Vertragsarzt im Laufe eines Jahres seine Tätigkeit aufnimmt oder vor Ablauf des Kalenderjahres aufgibt (BSG SozR 4-2500 § 85 Nr. 57 Rn. 33). Daraus folgt, dass Zahnärzte, die nur für einen Teil des Kalenderjahres Mitglieder einer Gemeinschaftspraxis sind, bei der Bemessung der Degressionsgrenze nur anteilig in Ansatz zu bringen sind (BSG Urteil vom 03.12.1997 – 6 RKa 79/96 – USK 97155; BSGE 93, 69 = SozR 4-2500 § 85 Nr. 11, Rn. 10; BSG Urteil vom 08.02.2006 – B 6 KA 27/05 R – USK 2006-88 = GesR 2006, 365 = Juris Rn. 12). Auch wenn ein Zahnarzt von einer Gemeinschaftspraxis in eine andere Gemeinschaftspraxis wechselt, bedarf es zwingend einer zeitanteiligen sowie nach Praxen getrennten Degressionsberechnung (BSG SozR 4-2500 § 85 Nr. 57 Rn. 34). Eine Ausnahme vom Grundsatz der Jahresbezogenheit der Degressionsberechnung hat das BSG ferner als zwingend erforderlich angesehen, wenn ein Zahnarzt, der bisher in Einzelpraxis tätig war, während des laufenden Kalenderjahres in eine Gemeinschaftspraxis eintritt. Die Notwendigkeit einer Abweichung vom Grundsatz der jahresbezogenen Degressionsberechnung ergibt sich in diesem Fall daraus, dass eine Honorarrückforderung aus der Zeit der Tätigkeit des Zahnarztes in Einzelpraxis anderenfalls Forderungen beinhalten würde, für die die Gemeinschaftspraxis keine „Haftung“ träfe, weil es sich um Altschulden handelt. Die Belastung einer Gemeinschaftspraxis mit Altschulden eines ihrer Mitglieder widerspräche der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSGE 98, 89 = SozR 4-2500 § 85 Nr. 31), nach der Honoraransprüche einer neu gebildeten Gemeinschaftspraxis nicht mit Forderungen verrechnet werden dürfen, die der K(Z)ÄV gegen einen der Praxispartner aus dessen vorangegangener Tätigkeit in Einzelpraxis zustehen (BSG SozR 4-2500 § 85 Nr. 57; vgl. bereits BSG Urteil vom 21.05.2003 – B 6 KA 33/02 R – MedR 2004, 172, Juris Rn. 24).
Hier liegt aber keine der o.g. Ausnahmen oder eine mit ihnen vergleichbare Ausnahmesituation vor. Vielmehr kann die bloße Änderung der personellen Zusammensetzung einer fortbestehenden Gemeinschaftspraxis eine Abweichung vom Jahresbezug nicht rechtfertigen. Denn die Klägerin bestand als juristische Person unverändert – wenn auch in unterschiedlicher Besetzung – während des gesamten Jahres 2010 fort. Insofern trifft schon die Grundkonstellation der genannten Urteile des Bundessozialgerichts aus den Jahren 2010 und 2013 nicht zu, bei denen jeweils eine jahresbezogene Degressionsberechnung durchgeführt wurde, dabei jedoch die Punktmengen der verschiedenen Rechtssubjekte Einzelpraxis und Gemeinschaftspraxis verrechnet wurden. Soweit sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene zu 1. darauf abstellen, das BSG habe ausgeführt, „wenn ein Zahnarzt von einer Gemeinschaftspraxis in eine andere Gemeinschaftspraxis wechselt, bedarf es zwingend einer zeitanteiligen, sowie nach Praxen getrennten Degressionsberechnung“, ist diese Aussage des BSG (zuletzt Urteil vom 30.10.2013, Rn. 24) im Kontext sehen. Hintergrund der notwendigen getrennten Degressionsberechnung war, dass der Vertragsarzt in den genannten Urteilen sowohl in seiner alten als auch in der neuen Gemeinschaftspraxis mit dem gesamten Jahresgrenzwert angesetzt werden sollte. Dies hatte das BSG zutreffend als rechtswidrig eingestuft. Es hat vielmehr gefordert, dass bei nur zeitanteiliger Mitgliedschaft eines Partners in einer Gemeinschaftspraxis dessen degressionsfreier Betrag dort ebenfalls nur anteilig in Ansatz zu bringen ist (unter Verweis auf BSG, Urteil vom 03.12.1997, 6 RKa 79/96 und Urteil vom 08.02.2006, B 6 Ka 27/05R). Nichts anderes gelte in den Fällen, in denen ein Vertragszahnarzt im Laufe eines Kalenderjahres die Praxis wechsle, etwa von einer Einzelpraxis in eine Gemeinschaftspraxis oder zwischen verschiedenen Gemeinschaftspraxen. In derartigen Fällen bedürfe es zwingend einer zeitanteiligen sowie nach Praxen getrennten Degressionsberechnung. So sei eine „Gesamtdegressionsberechnung“ – d.h. eine jahresbezogene Berechnung unter Einbeziehung sämtlicher Leistungen aller im Laufe des Jahres in der Praxis tätigen Zahnärzte – von vornherein nicht durchführbar, wenn auch nur einer der Zahnärzte innerhalb desselben Jahres verschiedenen Gemeinschaftspraxen angehört habe. Wäre er bei beiden Gemeinschaftspraxen mit seinen Jahreswerten zu berücksichtigen, würde die Degressionsberechnung durch die Mehrfachberücksichtigung insgesamt verfälscht (Urteil vom 05.05.2010, B 6 KA 21/09, Rn. 34). Vorliegend streiten die Beteiligten aber nicht darum, ob die jeweils der Gemeinschaftspraxis angehörenden Vertragszahnärzte nur zeitanteilig entsprechend ihrer jeweiligen Mitgliedschaft in der BAG der Berechnung der Jahresgrenzwerte der Klägerin zu Grunde zulegen sind. Dies ist vielmehr unstreitig. Die Beklagte zieht vielmehr aus der Rechtsprechung des BSG zur zeitanteiligen Berücksichtigung den – unzutreffenden – Schluss, dass bei einer Änderung der Zusammensetzung der Gemeinschaftspraxis bzw. BAG zwangsläufig auch eine zeitanteilige Degressionsberechnung abweichend vom Jahresbezug zwingend erforderlich sei. Hierfür besteht aber kein Anlass. Denn soweit die Klägerin kontinuierlich in Form einer BAG lediglich in wechselnder personeller Zusammensetzung gearbeitet hat und damit keine Statusänderung vorliegt, stellt sich die in der genannten Entscheidung (BSG, Urteil vom 05.05.2010, B 6 KA 21/09 R – SozR 4-2500 § 85 Nr. 57) vom BSG hervorgehobene Gefahr einer Mehrfachberücksichtigung der wechselnden Mitglieder nicht, weil schon § 85 Abs. 4b Satz 5 SGB V bei nicht ganzjähriger Tätigkeit der Zahnärzte in der Gemeinschaftspraxis eine jeweils zeitanteilige Berücksichtigung vorgibt. Auch die jene Entscheidung prägende Problematik, dass eine jahresbezogene Degressionsberechnung zu einer Übertragung der degressionsbedingten „Altverbindlichkeiten“ aus der Einzelpraxis auf die Mitglieder der nachfolgenden Gemeinschaftspraxis geführt hätte – in dem Sinne, dass die Mitglieder der Gemeinschaftspraxis degressionsbedingte Honorarkürzungen zu tragen gehabt hätten, obwohl die Überschreitung der Degressionsgrenzen weitgehend auf den Umfang der noch in Einzelpraxis durchgeführten vertragszahnärztlichen Tätigkeit eines ihrer Mitglieder zurückzuführen war (s. BSG SozR 4-2500 § 85 Nr. 57 Rn. 37 ff) – ist vorliegend nicht gegeben. Denn die Haftungsproblematik des einzelnen Vertrags(zahn) arztes beim Übergang einer Einzelpraxis in eine BAG besteht nicht bei einem Mitgliederwechsel innerhalb einer kontinuierlich in Form der gleichen juristischen Person geführten Gemeinschaftspraxis bzw. BAG. Dies folgt bereits daraus, dass nach der Rechtsprechung des BSG eine fortwährende Haftung der Gemeinschaftspraxis – und damit der aktuellen Mitglieder – für gegen sie gerichtete Forderungen besteht (vgl. BSG SozR 4-2500 § 85 Nr. 57 Rn. 16). Auch ergäbe sich ein Wertungswiderspruch, wenn der Eintritt neuer Gesellschafter in eine Gemeinschaftspraxis bzw. BAG dazu führte, dass sie im Rahmen der Degressionsberechnung nicht als einheitliche Gemeinschaftspraxis angesehen wird, obwohl eine durchgängige Haftung der Gemeinschaftspraxis bzw. ihrer Mitglieder für Verpflichtungen der „Vorgänger-Gemeinschaftspraxis“ besteht (vgl. BSG SozR 4-2500 § 85 Nr. 57 Rn. 16).
Das Urteil des SG war daher aufzuheben und wie beantragt zu entscheiden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG iVm. § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 SGG. Die Rechtsfrage ist insbesondere durch das Urteil des BSG vom 19.10.2011, B 6 KA 22/10 R geklärt.

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