Medizinrecht

Voraussetzung einer Befreiung vom vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst

Aktenzeichen  S 38 KA 1170/15

Datum:
20.9.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2016, 73363
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BDO-KVB BDO-KVB § 14 Abs. 1, Abs. 2 S. 1
SGB V SGB V § 75 Abs. 1 S. 1, § 76 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

1 Die Befreiungstatbestände aus der Bereitschaftsdienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (BDO-KVB) sind restriktiv auszulegen (Weiterentwicklung von BSG BeckRS 2006, 44956). Nur bei durch den Arzt nachgewiesenen, schwerwiegenden Gründen ist eine Befreiung unter den Voraussetzungen des § 14 BDO-KVB möglich. Neben den darin ausdrücklich genannten Gründen kommen auch andere, ähnlich schwerwiegende Gründe in Betracht. (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine persönliche Erklärung des die Befreiung beantragenden Arztes zum Gesundheitszustand eines Familienangehörigen genügt in der Regel nicht. Das gilt insbesondere, wenn der Angehörige in fremder ärztlicher Behandlung ist und so eine objektive Befundung durch einen neutralen Arzt möglich wäre. (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein Tätigwerden im Rahmen eines Kooperationsvertrages für ein Krankenhaus stellt keine Erfüllung eines besonderen Versorgungsauftrags im Rahmen der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung dar. Denn die Kooperation dient primär dem stationären Versorgungsauftrag. Zudem ist der ärztliche Bereitschaftsdienst vorrangig vor einer Nebentätigkeit (Bestätigung von BSG BeckRS 1977, 30420358). (redaktioneller Leitsatz)
4 Selbst wenn ein Befreiungsgrund vorliegt, erwächst daraus kein Anspruch auf Befreiung, da es sich um eine Ermessensentscheidung handelt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird sowohl im Hauptantrag, als auch im Hilfsantrag abgewiesen, soweit sie sich nicht auf Ziffer II des Bescheides vom 30.09.2015 bezieht.
II.
Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
III.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingereichte Klage ist zulässig, jedoch im Wesentlichen unbegründet. Es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs-und Verpflichtungsklage nach § 54 SGG. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Klage als unbedingt anzusehen und deshalb als zulässig zu erachten. Die Formulierung im Schriftsatz vom 06.11.2015 mag zwar zunächst auf eine Bedingung hindeuten, jedoch spricht nach Auslegung mehr dafür, sie als Ankündigung zu verstehen, wonach die Klage dann zurückgenommen wird, wenn der Widerspruchsbescheid vom 30.09.2015 Gegenstand des Verfahrens unter dem Aktenzeichen S 38 KA 201/15 nach § 96 SGG würde.
Die angefochtenen Bescheide sind bis auf Ziff. II. des Bescheidtenors (Widerspruchsbescheid) rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Befreiung vom Bereitschaftsdienst.
Wie das Bundessozialgericht unter Hinweis auf § 75 Abs. 1 SGB V (BSG, Urteil vom 06.09.2006, Az. B 6 KA 43/05 R) ausführte, ist die „Sicherstellung von Not-bzw. Bereitschaftsdienst eine gemeinsame Aufgabe aller Ärzte, die nur erfüllt werden kann, wenn grundsätzlich alle zugelassenen Ärzte“ daran teilnehmen. Vor diesem Hintergrund sind die in der BDO-KVB vorgesehenen Befreiungstatbestände restriktiv auszulegen. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BDO-KVB kann ein Vertragsarzt oder ein angestellter Arzt aus schwerwiegenden Gründen ganz, teilweise (z. B. nur vom Fahrdienst) oder vorübergehend vom ärztlichen Bereitschaftsdienst befreit werden. In § 14 Absatz 1 Satz 2 BDO-KVB werden beispielhaft schwerwiegende Gründe aufgezählt. Es handelt sich bei der Entscheidung über die Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst um eine Ermessensentscheidung. Die unter § 14 Abs. 1 lit.a bis e BDO-KVB möglichen Befreiungstatbestände sind nicht abschließend, wie sich aus der Formulierung „insbesondere“ ergibt. Lediglich bei einer Ermessensreduzierung auf Null besteht ein Anspruch auf Befreiung.
Die Klägerin beruft sich auf § 14 Abs. 1 Satz 2 b) BDO-KVB. Danach wird als Befreiungsgrund angesehen, wenn die Teilnahme am Ärztlichen Bereitschaftsdienst aufgrund nachgewiesener besonderer belastender familiärer Pflichten dem Arzt nicht zuzumuten ist. Nach dem Vortrag der Klägerin hat sie zum Teil die Pflege Ihres Vaters übernommen. Dieser leide an einer 100%igen Schluckstörung und sei als Risikopatient anzusehen. In dem Zusammenhang wies die Klägerseite auf das Pflegegutachten von M-Firma, sowie auf die „persönliche Erklärung“ zur Pflege ihres Vaters vom 28.04.2015 hin. Die Klägerin ist als Antragstellerin nachweispflichtig für das Vorliegen eines schwerwiegenden Grundes im Sinne von § 14 Absatz 1 Satz 2 BDO-KVB, wie sich aus § 14 Abs. 2 BDO-KVB ergibt. Zwar ist der Klägerin in ihrer Eigenschaft als Ärztin nicht abzusprechen, dass sie eine eigene Befundung durchführen und diese vorlegen kann. Nach Auffassung der mit zwei Ärzten fachkundig besetzten Kammer genügt die „persönliche Erklärung“ der Klägerin inhaltlich nicht den Anforderungen an die Nachweispflicht des § 14 Abs. 2 BDO-KVB. Denn es finden sich auch zum Großteil Ausführungen zum Krankheitsverlauf des Vaters der Klägerin, was für die Beurteilung der Frage, ob ein Befreiungsgrund vorliegt, unwesentlich ist. Hinzu kommt, dass, was bei einer Beurteilung durch einen Familienangehörigen auf der Hand liegt, eine solche Beurteilung nie frei von subjektiven Elementen sein kann. Auch das vorgelegte Pflegegutachten von M-Firma ist wenig erhellend. Es enthält lediglich Angaben zum Pflegeaufwand und zur Pflegestufe (eins). Der der Klägerin zugeordnete Pflegeaufwand von 34 Minuten täglich lässt sich mit den sonstigen Angaben der Klägerin nur teilweise in Übereinstimmung bringen. Insofern bestehen Zweifel an der Aussagekraft dieser Nachweise. Andere Nachweise wurden nicht vorgelegt. Für das Gericht ist dies nicht nachvollziehbar, zumal sich der Vater der Klägerin auch in Behandlung durch seinen Hausarzt, einem Internisten befindet. Es hätte sicherlich keinen allzu großen Aufwand dargestellt, den Nachweis mittels einer aussagekräftigen, objektiven Befundung durch den Hausarzt zu führen. Zusammenfassend ist das Gericht daher der Auffassung, dass möglicherweise der Befreiungstatbestand erfüllt ist, jedoch der Nachweis nach § 14 Abs. 2 BDO-KVB nicht geführt wurde.
Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe d BDO-KVB ist auch eine Befreiung möglich, wenn der Arzt einen besonderen Versorgungsauftrag im Rahmen der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung erfüllt. Ausgehend davon, dass auch die Klägerin vertraglich in die Kooperation mit dem Krankenhaus A-Stadt eingebunden ist – dies ist zwar nicht unmittelbar dem Kooperationsvertrag aus dem Jahr 1998 zu entnehmen, kann aber aufgrund der Erklärung des Gemeinschaftspraxispartners und des Krankenhausträgers angenommen werden, spricht allein gegen das Tätigwerden der Klägerin im Rahmen der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung der Umstand, dass diese für den Krankenhausträger tätig ist und von diesem auch die erbrachten Leistungen honoriert erhält. Selbst wenn von der Klägerin behandelte Notfallpatienten in der Notfallambulanz des Krankenhauses A-Stadt, soweit sie nicht stationär aufgenommen werden, als ambulant anzusehen wären und das Tätigwerden der Klägerin im Rahmen der Kooperation auch die vertragsärztliche Versorgung sicherstellt, darf nicht übersehen werden, dass die Kooperation schwerpunktmäßig dem stationären Versorgungsauftrag zu dienen bestimmt ist. Für eine faktische generelle Verlagerung des Bereitschaftsdienstes zur Versorgung von Patienten in einer Notfallambulanz eines Krankenhauses gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Deshalb gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Befreiungstatbestand von § 14 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe d BDO-KVB nicht erfüllt ist.
Wie bereits ausgeführt, sind die in § 14 genannten Befreiungstatbestände nicht abschließend. Bei einem weiteren Befreiungstatbestand muss es sich jedoch um einen solchen handeln, der von der Bedeutung und Tragweite den in § 14 BDO-KVB beispielhaft aufgeführten Befreiungstatbeständen entspricht. Gewiss dürfte die Kooperation mit dem Krankenhaus A-Stadt nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen sinnvoll sein und dient auch der besseren Verzahnung der stationären Versorgung mit der ambulanten Versorgung, was aber nicht dazu führt, das Tätigwerden der Klägerin beispielsweise einer belegärztlichen Tätigkeit gleichzustellen. Von der Möglichkeit einer Befreiung vom vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst ist nur ausnahmsweise und restriktiv Gebrauch zu machen.
Nicht unproblematisch erscheint auch, dass die Klägerin auf der einen Seite ihre Tätigkeit im Rahmen der Kooperation mit der Pflege des Vaters offensichtlich vereinbaren kann, auf der anderen Seite eine Teilnahme am vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst für inkompatibel hält. Denn nach § 76 Absatz 1 Satz 2 SGB V ist die ambulante Versorgung von Notfällen in Krankenhäusern subsidiär. Außerdem genießt der vertragsärztliche Bereitschaftsdienst Vorrang vor Nebentätigkeiten, auch solchen im Rahmen einer Kooperation mit einem Krankenhaus (vgl. BSG, Urteil vom 15.09.1977, Az. 6 Rka 12/77). Hinzu kommt, dass zwar die radiologische Befunde und Ansicht im Rahmen der Kooperation größtenteils über Computer erfolgt und deshalb eine Anwesenheit vor Ort (Krankenhaus) nicht erforderlich ist, während der Bereitschaftsdienst auch Besuche beim Patienten mit einschließt. Dies wird aber kompensiert durch den im Rahmen der Kooperation ungleich höheren Tätigkeitsumfang (Rund-um-die-Uhr- Bereitschaftsdienste für das Krankenhaus die Hälfte des Monats, 24 Stunden täglich).
Im Ergebnis stellt daher nach Auffassung des Gerichts auch die Kooperation mit dem Krankenhausträger keinen Befreiungsgrund im Sinne von § 14 BDO-KVB dar.
Selbst wenn man bei dem vorliegenden Sachverhalt von einem oder sogar mehreren ausreichenden Befreiungsgründen ausgehen würde, erwächst daraus nicht automatisch ein Anspruch auf Befreiung vom vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst. Denn bei der Regelung des § 14 BDO- KVB handelt es sich um eine Ermessensvorschrift. In dem Zusammenhang wäre zu prüfen, ob der Klägerin Teilnahme am vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst zumutbar ist. Angesichts der Dienstfrequenz – die Klägerin ist bis zum Jahresende lediglich dreimal zum vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst eingeteilt – nach der Neustrukturierung der Bereitschaftsdienstbereiche verbunden mit der Teilnahme einer wesentlich größeren Anzahl von Ärzten (Pilotregion A-Stadt: Teilnahme von 200 Ärzten) und des Umstandes, dass die Dienstpläne für den Bereitschaftsdienst ein halbes Jahr im Voraus bekannt sind, stellt die Teilnahme der Klägerin nach Auffassung des Gerichts selbst unter Berücksichtigung der im Rahmen der Kooperation zu erbringenden Leistungen und Würdigung des Umstandes, dass die Klägerin in die Pflege Ihres Vaters im dargestellten Umfang eingebunden ist, keine solche erhebliche Erschwernis und Belastung dar, dass von einer Unzumutbarkeit gesprochen werden könnte. Durch frühzeitig eingeleitete organisatorische Maßnahmen dürften die in Folge der Teilnahme am Bereitschaftsdienst entstehenden Vakanzen keine erheblichen Auswirkungen auf die Tätigkeit der Klägerin im Rahmen der Kooperation und auf die Pflege ihres Vaters haben.
Aus diesen Gründen war die Klage in der Hauptsache abzuweisen.
Dagegen konnte sich die Kammer nicht der Auffassung der Beklagten anschließen, wonach die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren nicht notwendig sei. Auch aus der ex-ante-Sicht (BSG, Urteil vom 09.05.2012 – B 6 KA 19/11 R) reichten rein medizinische Erläuterungen bzw. Hinweise auf die Kooperation mit dem Krankenhausträger durch die Klägerin nicht aus. Vielmehr war eine Kenntnis der einschlägigen Regelungen vorauszusetzen. Somit liegen die Voraussetzungen des § 63 Abs. 2 SGB X vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 VwGO.

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