Aktenzeichen L 10 AL 47/16 NZB
SGG § 144
SGB VIII § 27, § 34
Leitsatz
1. Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X erfordert eine rechtzeitige Antragstellung des Leistungsempfängers nur, wenn dessen Dispositionsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht durch das Antragserfordernis geschützt wird. (amtlicher Leitsatz)
2 Da die Rechtsprechung des BVerwG (BeckRS 2014, 49108) und des BSG (BeckRS 1999, 30057210) insoweit übereinstimmen, besteht kein weiterer Klärungsbedarf dieser Rechtsfrage. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 1 AL 412/15 2016-01-14 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
I.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.01.2016 – S 1 AL 412/15 – wird zurückgewiesen.
II.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 8.233,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Streitig ist der Anspruch auf Erstattung der von nachrangig verpflichteten Klägerin an die Leistungsempfängerin (A.) erbrachten Leistungen durch die Beklagte.
Die Klägerin hat an A. Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung (u. a. Unterkunft und Betreuung) gemäß §§ 27, 34 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) für die Zeit ab 27.10.2011 erbracht. Für die am 08.12.2014 beginnende Maßnahme „BvB Pro“ bewilligte die Beklagte an A. aufgrund eines rechtzeitigen Antrages der A. Berufsausbildungsbeihilfe in Höhe von zunächst 879,00 € monatlich.
Am 04.02.2015 beantragte die Klägerin die Erstattung der während der Ausbildung der A. zur Fachlageristin Kfz-Teile-Großhandel (Ausbildungsdauer: 01.09.2013 bis zum Abbruch am 07.12.2014) von ihr an die A. erbrachten Leistungen bei der Beklagten. Die Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 10.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.11.2015 mit, dass eine Förderung für die Zeit bis 07.12.2014 mangels rechtzeitigen Antrages nicht möglich sei.
Mit der zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhobenen allgemeinen Leistungsklage hat die Klägerin die Erstattung erbrachter Leistungen für die Zeit vom 04.02.2014 bis 07.12.2014 in Höhe von 8233,30 € begehrt. Unter Beachtung der Ausschlussfrist des § 111 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23.01.2014 – 5 C 8/13 – hänge der Erstattungsanspruch nicht von einer – rechtzeitigen – Antragstellung der A. gegenüber der Beklagten ab. Das SG hat mit Urteil vom 14.01.2016 die Beklagte verpflichtet, die von der Klägerin an A. geleistete Berufsausbildungsbeihilfe in der gesetzlichen Höhe unter Beachtung der Jahresfrist des § 111 SGB X für die Zeit vom 04.02.2014 bis 07.12.2014 zu erstatten. Darauf, ob A. einen Antrag an die Beklagte auf diese Leistungen – rechtzeitig – gestellt habe, komme es nach der Rechtsprechung des BVerwG nicht an. Die Berufung hat das SG nicht zugelassen.
Dagegen hat die Beklagte zunächst Berufung und nach Hinweis des Senats Nichtzulassungsbeschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben. Die Berufung hat die Beklagte zurückgenommen. Die Berufung sei jedoch wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Die Rechtsfrage, ob für einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X auch ein rechtzeitig gestellter Leistungsantrag erforderlich sei, sei zwar vom BVerwG entschieden worden. Diese Entscheidung werde aber vom LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 11.12.2015 – L 4 P 1171/15 – und von Kater (Kasseler Kommentar, SGB X, § 104 Stand 12/2015 Rn. 9 b) für nicht überzeugend gehalten. Die Rechtsfrage sei daher wegen ihrer Breitenwirkung klärungsbedürftig und auch klärungsfähig.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Der Wert des Beschwerdegegenstandes bei der vorliegenden Erstattungsstreitigkeit übersteigt nicht 10.000,00 € (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist jedoch nicht begründet. Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr. 3).
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist gegeben, wenn die Streitsache eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage abstrakter Art aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern, wobei ein Individualinteresse nicht genügt (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11.Aufl, § 144 Rn. 28). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, die sich nach der Gesetzeslage und dem Stand der Rechtsprechung und Literatur nicht ohne weiteres beantworten lässt. Nicht klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn die Antwort auf sie so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr. 17) oder praktisch von vornherein außer Zweifel steht (BSG SozR 1500 § 160a Nr. 4).
Die vorliegend von der Beklagten aufgeworfene Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, denn sie ist nach dem Stand der Rechtsprechung geklärt. Nach der Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 23.01.2014 – 5 C 8/13 – veröffentlicht in Juris) hängt das Bestehen eines Erstattungsanspruchs nicht davon ab, dass der Leistungsempfänger rechtzeitig einen Antrag an den Erstattungsverpflichteten gestellt hat, zumindest wenn – wie vorliegend (vgl. §§ 95, 97 SGB VIII) – die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Leistungsempfängers nicht durch das Antragserfordernis geschützt werden soll (vgl. hierzu die Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 22.04.1998 – B 9 VG 6/96 R – und diese Rechtsprechung weiterentwickelnd im Urteil vom 28.04.1999 – B 9 V 8/98 R – beide veröffentlicht in Juris). Ein Klärungsbedarf besteht daher im streitgegenständlichen Verfahren nicht, denn die Rechtsprechung des BVerwG – „auch die Rechtsprechung eines anderen obersten Bundesgerichts kann Klärungsbedarf ausschließen“ (vgl. Leitherer a. a. O. § 160 Rn. 8) – und des BSG stimmen insoweit überein.
Die Ausführungen des LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 11.12.2015 – L 4 P 1171/15 – veröffentlicht in Juris) macht hingegen diese Rechtslage nicht erneut klärungsbedürftig (vgl. dazu Leitherer a. a. O. § 160 Rn. 8 b), denn diese Entscheidung stützt sich zum einen auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 03.09.2012 – 12 A 1082/12 – veröffentlicht in Juris), die aber durch BVerwG mit der Entscheidung vom 23.01.2014 – 5 C 8/13 – gerade aufgehoben worden ist. Zudem ist die Rechtsfrage zumindest durch das Urteil des BSG vom 28.04.1999 (a. a. O.). geklärt, denn auch wenn dieses Urteil nicht zu § 104 SGB X ergangen ist (so LSG Baden-Württemberg a. a. O.), so ist es zur Auslegung vergleichbarer Regelungen heranzuziehen und gibt ausreichend Anhaltspunkte dafür, wie die konkret aufgeworfene Rechtsfrage zu beantworten ist (vgl. dazu Leitherer a. a. O. § 160 Rn. 8). In der Literatur selbst wird die Auffassung des LSG Baden-Württemberg nur vereinzelt (Kater a. a. O.) gestützt.
Nachdem das SG auch nicht von der obergerichtlichen Rechtsprechung abweicht und Verfahrensfehler weder erkennbar noch geltend gemacht worden sind, war die Beschwerde mit der Folge zurückzuweisen, das das Urteil des SG rechtskräftig ist (§ 145 Abs. 4 Satz 4 SGG).
Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Kostenentscheidung des SG (gestützt auf § 193 SGG) kann nach Zurückweisung der Beschwerde vom Senat nicht geändert werden (vgl. Leitherer a. a. O. § 193 Rn. 2a).
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197 a Abs. 1 Halbs. 1 SGG i. V. m. §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 3 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).