Medizinrecht

Zurückgewiesene Berufung

Aktenzeichen  L 15 VG 20/11

Datum:
5.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
OEG OEG §§ 1 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 2, 6 Abs. 3
StGB StGB § 240

 

Leitsatz

1. Fehlt einer Handlung die erforderliche unmittelbare feindliche Ausrichtung auf andere Menschen, so kann sie nicht als tätlicher Angriff gegen eine Person im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG angesehen werden. Allein das Schaffen einer Gefahrenlage genügt nicht. (amtlicher Leitsatz)
Ein tätlicher Angriff iSd § 1 Abs. 1 S. 1 OEG setzt abweichend vom strafrechtlichen Gewaltbegriff iSd § 240 StGB eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person voraus, also ein  körperliches Einwirken auf einen anderen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 2. September 2011 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat hat in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden können, da diese über den Termin zur mündlichen Verhandlung informiert und dabei auch auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Mit Beschluss gemäß § 153 Abs. 5 SGG vom 03.05.2016 ist die Berufung dem Berichterstatter übertragen worden, so dass dieser zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern zu entscheiden hat.
Die zulässige Berufung ist in der Sache nicht begründet.
Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist zutreffend. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 1 OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), weil sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf sie im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht hat feststellen lassen.
Ein solcher Angriff des Zeugen T. auf die Klägerin ist ebenso wenig nachgewiesen wie ein Angriff (durch Manipulation der Türe im Kellergeschoß) durch andere Personen.
Wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wobei die Anwendung dieser Vorschrift gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat.
Bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geht der Senat von folgenden Erwägungen aus (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, z. B. Urteile vom 26.01.2016 – L 15 VG 30/09, 20.10.2015 – L 15 VG 23/11 – und 05.02.2013 – L 15 VG 22/09 -, m. w. N.; siehe auch: BSG, Urteile vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R – und 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R sowie B 9 V 3/12 R):
Nach dem Willen des Gesetzgebers ist die Verletzungshandlung im OEG eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt, obwohl sich die Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 Strafgesetzbuch (StGB) gewonnenen Bedeutung orientiert (vgl. BSG, Urteile vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R – und 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R -, m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB wird der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person geprägt und wirkt damit körperlich auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R -, m. w. N.). Dieses Verständnis der Norm entspricht am ehesten dem strafrechtlichen Begriff der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, also einem tätigen Einsatz materieller Zwangsmittel wie körperlicher Kraft (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.). Trotz seiner inhaltlichen Nähe zur Gewalttätigkeit nach § 125 StGB setzt der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus, so dass auch ein nicht zum körperlichen Widerstand fähiges Opfer von Straftaten unter dem Schutz des OEG steht (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.).
Danach ist unter einem tätlichen Angriff im Sinne des OEG grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung zu verstehen, wobei ein tätlicher Angriff jedenfalls dann nicht vorliegt, wenn es an einer unmittelbaren Gewaltanwendung fehlt (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.). Fehlt es an einem tätlichen – körperlichen – Angriff, ergeben sich für die Opfer allein psychischer Gewalt aus § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG keine Entschädigungsansprüche (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.). Auch eine (bloß) objektive Gefährdung reicht ohne physische Einwirkung, z. B. Schläge, Schüsse, Stiche, Berührung etc., für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht aus (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.).
Von der Rechtswidrigkeit eines strafbaren tätlichen Angriffs ist auszugehen, soweit nicht ein Rechtfertigungsgrund gegeben ist. Ein Angriff, der den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt, ist grundsätzlich rechtwidrig. Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom 17.08.2011 – L 15 VG 21/10 – und 18.05.2015 – L 15 VG 17/09 ZVW, m. w. N.).
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe: Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette, nämlich schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen, des Vollbeweises; für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen mit der Folge, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R -, m. w. N.). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugungsbildung zu begründen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R -, m. w. N.).
Auch das Fehlen rechtfertigender Gründe muss im Vollbeweis erwiesen sein (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom 17.08.2011 – L 15 VG 21/10 – und 18.05.2015 – L 15 VG 17/09 ZVW -, m. w. N.), wobei der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) greift.
1. Unter Beachtung dieser Maßgaben geht der Senat davon aus, dass die betreffende Kellertüre vor dem Mittag des 01.12.2010 von einer anderen Person als der Klägerin aus den Angeln gehoben worden ist.
2. Unter Beachtung der Maßgaben vermag sich das Gericht aber nicht im Sinne des Vollbeweises davon zu überzeugen, dass der Zeuge T. oder eine andere Person (z. B. ein weiterer Bewohner des Hauses) einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auf die Klägerin unternommen haben.
Es kann offen bleiben, ob vorliegend die Beweiserleichterung des § 15 zur Anwendung gelangt (vgl. die Bedenken des Senats im Urteil vom 21.04.2015 – L 15 VG 24/09). Denn selbst wenn man den o.g. Maßstab der Glaubhaftigkeit genügen lassen wollte, würde das der Berufung der Klägerin nicht zum Erfolg verhelfen. Im Hinblick auf die nachstehenden Darlegungen kann ein von der Klägerin geschilderter Angriff nach Auffassung des Senats auch nicht als glaubhaft angesehen werden.
Das somit bestehende non liquet wirkt sich nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Ungunsten der Klägerin aus.
Der Senat sieht es nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens weder für nachgewiesen noch als glaubhaft an, dass das Aushängen der Türe im Kellergeschoß des Wohnhauses der Klägerin, das wohl erfolgt sein dürfte (s.o.), unmittelbar darauf gerichtet gewesen ist, die Klägerin zu verletzten.
Vorliegend braucht nicht entschieden zu werden, ob das Aushängen der Tür überhaupt als tätlicher Angriff gewertet werden könnte, wenn es unmittelbar darauf gerichtet gewesen wäre, einen herannahenden Menschen zum Sturz zu bringen (vgl. Urteil des BSG vom 10.12.2003 – B 9 VG 3/03 R). Eine derartige Zielrichtung kann der Senat nämlich nicht feststellen. Fehlt aber einer Handlung die erforderliche unmittelbare feindliche Ausrichtung auf andere Menschen, so kann sie nicht als tätlicher Angriff gegen eine Person im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG angesehen werden (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N. Allein das Schaffen einer Gefahrenlage durch das Aushängen der Tür genügt nicht (BSG, a. a. O.), wobei es nach Auffassung des Senats insoweit nicht an der Tätlichkeit des Angriffs fehlen würde (ein solcher Angriff würde aufgrund des Einsatzes körperlicher Mittel erfolgen).
Ein Nachweis oder eine Glaubhaftmachung des Angriffs ist der Klägerin vorliegend nicht gelungen. Im Einzelnen würdigt der Senat die vorliegenden Beweismittel wie folgt:
Niemand hat das Aushängen der Tür beobachtet. Der von der Klägerin Beschuldigte hat die Tat bestritten; der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, an der Aussage bzw. der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu zweifeln. Insbesondere erscheint dem Senat der Hinweis des Zeugen nachvollziehbar, er werde sich hüten, die Kellertüre zu manipulieren und damit eigene Familienangehörige zu gefährden. Auch die von der Polizei einvernommenen Zeugen – Hausmeister, Hausreiniger, Mitarbeiter der Hausverwalter sowie zahlreiche Mitbewohner – haben zu der Tat keine Angaben machen können. Auch die Klägerin selbst hat angegeben, das Aushängen der Tür nicht beobachtet zu haben. Somit stützt sich das Vorbringen der Klägerin letztlich nur auf eine Vermutung.
Dabei bleiben die Umstände der Handlung im Dunkeln. Weder lässt sich irgendeine Aussage über die Identität der Person treffen, die die Tür aus den Angeln gehoben hat, noch lässt sich auch nur annähernd eine sichere Aussage über den Grund hierfür treffen.
Der Senat verkennt nicht, dass das Aushängen der Tür grundsätzlich auch im Zusammenhang mit dem sehr schwierigen Verhältnis zwischen der Klägerin und ihren Mitbewohnern stehen könnte. Für diese – grundsätzlich nicht unplausible – Annahme gibt es jedoch nicht den geringsten objektiven Hinweis. Insbesondere besteht auch kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass in Fällen wie dem vorliegenden – in einem Mehrfamilienhaus wird eine für die Bewohner allgemein zugängliche Tür im Kellergeschoß aus den Angeln gehoben und angelehnt stehen gelassen – die Handlung nur in Verletzungsabsicht begangen worden sein könnte. Denkbar sind durchaus weitere Gründe wie z. B. Reparaturmaßnahmen o.ä.
Im Übrigen sind die Voraussetzungen von § 1 Abs. 2 Ziff. 2 OEG vorliegend nicht gegeben.
Weitere Ermittlungen des Gerichts sind nicht veranlasst. Es ist nicht ansatzweise ersichtlich, wohin weitere sinnvolle Anfragen gerichtet werden könnten oder auf welche Weise objektive Hinweise zu erhalten wären. Dementsprechend hat die Klägerin mit Schreiben vom 05.04.2012 zwar „Beweisantrag auch für den oben genannten Fall ausgebaute und angelehnte Kellertüre“ gestellt, jedoch keine zielführenden Ermittlungsansätze aufgezeigt. Die von der Klägerin verlangte Suche nach Fingerabdrücken auf der Tür so lange Zeit nach dem Geschehen erscheint bereits offensichtlich untunlich.
Die Berufung kann somit keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

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