Aktenzeichen 1 AR 88/20
GG Art. 101 Abs. 1
Leitsatz
Eine fehlerhafte Auslegung einer Gerichtsstandsvereinbarung, die nicht berücksichtigt, dass Hamburg acht Amtsgerichtsbezirke umfasst, kann nicht schlechterdings als nicht mehr nachvollziehbar und damit willkürlich angesehen werden, wenn dieser Umstand dem verweisenden Gericht nicht bekannt ist und auch von keiner der dazu gehörten Parteien mitgeteilt wurde. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
16 C 151/20 — AGASCHAFFENBURG AG Aschaffenburg
Tenor
Örtlich zuständig ist das Amtsgericht Hamburg.
Gründe
I.
Beide Parteien betreiben Speditionsunternehmen. Der im Bezirk des Amtsgerichts Hamburg-Bergedorf geschäftsansässige Beklagte beauftragte die im Bezirk des Amtsgerichts Aschaffenburg ansässige Klägerin mit einem Transport von einer ersten Ladestelle K.-straße 16 in Hamburg über eine weitere Ladestelle in Neu-Wulmstorf nach Mahlberg. Das Auftragsschreiben enthielt unter anderem folgende Regelung: „Erfüllungsort und Gerichtsstand für beide Teile ist Hamburg“.
Nachdem der Beklagte eine Rechnung der Klägerin wegen dieses Auftrags über 1.142,00 € nicht beglichen hatte, hat die Klägerin einen entsprechenden Mahnbescheid erwirkt, gegen den der Beklagte Widerspruch eingelegt hat. Das Amtsgericht Aschaffenburg, an welches das Verfahren abgegeben worden war, hat mit Verfügung vom 21. Februar 2020 gemäß § 504 ZPO darauf hingewiesen, dass es örtlich unzuständig sei. Daraufhin hat die Klägerin am 3. März 2020 beantragt, den Rechtsstreit an das „örtlich und sachlich zuständige Amtsgericht Hamburg“ zu verweisen. Der Schriftsatz ist dem Beklagten am 6. März 2020 unter Setzung einer Stellungnahmefrist von zwei Wochen zugestellt worden, die er nicht genutzt hat.
Mit – beiden Parteien mitgeteiltem – Beschluss vom 24. März 2020 hat das Amtsgericht Aschaffenburg sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Hamburg verwiesen. Zur Begründung hat es – wie bereits in seiner Verfügung vom 21. Februar 2020 – ausgeführt, dass gemäß den Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Transportauftrag des Beklagten und §§ 17, 19 [sic] ZPO das Amtsgericht Hamburg zuständig sei; auch § 30 ZPO eröffne keinen Gerichtsstand in Aschaffenburg.
Das Amtsgericht Hamburg hat mit – den Parteien nicht mitgeteilter – Verfügung vom 17. April 2020 die Akten zur weiteren Veranlassung an das Amtsgericht Aschaffenburg zurückgeleitet. Es hat die Auffassung vertreten, dass die Gerichtsstandsbestimmung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Beklagten den Anforderungen des § 38 Abs. 1 ZPO nicht genüge. Das als zuständig vereinbarte Gericht müsse hinreichend bestimmt oder zumindest bestimmbar sein; das sei im Hinblick auf die amtsgerichtliche Zuständigkeit in Hamburg nicht der Fall, da es neben dem Amtsgericht Hamburg, vielfach auch als „Amtsgericht Hamburg-Mitte“ bezeichnet, noch sieben weitere, sogenannte Stadtteilgerichte gebe. Andere Bezüge zum Amtsgericht Hamburg seien nicht vorgetragen oder ersichtlich. Insbesondere lägen die Lade- und Entladestellen nicht in seinem Bezirk; die K. straße liege im Bezirk des Amtsgerichts HamburgSt. Georg, die anderen Orte lägen nicht im Bezirk irgendeines Hamburger Amtsgerichts.
Das Amtsgericht Aschaffenburg hat mit – den Parteien mitgeteilter – Verfügung vom 29. April 2020 die Akten an das Amtsgericht Hamburg zurückgeleitet und die Auffassung vertreten, es sei an seinen Verweisungsbeschluss gebunden, selbst wenn die Gerichtsstandsvereinbarung als unwirksam anzusehen wäre. In diesem Fall wäre zwar in der Tat an das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf oder das Amtsgericht HamburgSt. Georg zu verweisen gewesen; die spezielle Hamburger Problematik sei indes nicht bekannt gewesen. Sollte das Amtsgericht Hamburg meinen, der Verweisungsbeschluss entfalte ausnahmsweise wegen Willkür keine Wirkung, möge ein Antrag zur gerichtlichen Bestimmung der Zuständigkeit gestellt werden.
Mit Beschluss vom 11. Juni 2020 hat das Amtsgericht Hamburg ohne Anhörung der Parteien sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit dem Oberlandesgericht Bamberg zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Zur Begründung hat es seine Argumente aus seiner Verfügung vom 17. April 2020 wiederholt. Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Aschaffenburg sei entgegen § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO nicht bindend, weil er als willkürlich betrachtet werden müsse. In Hamburg existierten acht Amtsgerichte; der Einwand des Amtsgerichts Aschaffenburg, die spezielle Hamburger Problematik sei dort nicht bekannt gewesen, deute auf Willkür. Einerseits seien die Regelungen der Hamburger Amtsgerichte zur örtlichen Zuständigkeit Ausfluss des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und andererseits lasse der Einwand des Amtsgerichts Aschaffenburg darauf schließen, dass es die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg nicht (sorgfältig) geprüft habe.
Nach Hinweis des Oberlandesgerichts Bamberg auf die Zuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts für das Bestimmungsverfahren hat sich das Amtsgericht Hamburg mit Beschluss vom 8. Juli 2020 erneut für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt. Seine Beschlüsse vom 11. Juni 2020 und vom 8. Juli 2020 hat das Amtsgericht Hamburg den Parteien mitgeteilt.
Im Bestimmungsverfahren hat die Klägerin von einer Stellungnahme abgesehen. Der Beklagte hat die örtliche Unzuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts gerügt und um Verweisung an das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf gebeten.
II.
Auf die zulässige Vorlage des Amtsgerichts Hamburg ist dessen örtliche Zuständigkeit auszusprechen.
1. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO (vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 36 Rn. 34 ff. m. w. N.) durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor.
a) Das Amtsgericht Aschaffenburg hat sich nach Rechtshängigkeit der Streitsache durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 24. März 2020 für unzuständig erklärt, das Amtsgericht Hamburg durch seinen Beschluss vom 11. Juni 2020. Beide Beschlüsse sind den Parteien bekanntgegeben worden. Die jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12 m. w. N.; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 34 f. m. w. N.). Dass das Amtsgericht Hamburg bei seinem Beschluss vom 11. Juni 2020 den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör verletzt hat, steht dem nicht entgegen, denn es hat seine Entscheidung den Parteien zumindest nachträglich bekannt gemacht (vgl. BayObLG, Beschluss vom 8. April 2020, 1 AR 18/20, juris Rn. 8; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 13. Mai 2013, 2 AR 7/13, juris Rn. 3; KG, Beschluss vom 6. März 2008, 2 AR 12/08, NJW-RR 2008, 1465 [juris Rn. 5]; Toussaint in BeckOK ZPO, 37. Ed. 1. Juli 2020, § 36 Rn. 41 a. E.; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 35; Chasklowicz in Kern/Diehm, ZPO, 2. Aufl. 2020, § 36 Rn. 23 a. E.; Bendtsen in Saenger, Zivilprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 36 Rn. 24; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 36 Rn. 44).
b) Das Bayerische Oberste Landesgericht ist gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen, weil die Bezirke der am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte zum Zuständigkeitsbereich unterschiedlicher Oberlandesgerichte (München und Hamburg) gehören, so dass das gemeinschaftliche im Rechtszug zunächst höhere Gericht der Bundesgerichtshof ist, und das mit der Rechtssache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt.
2. Das Amtsgericht Hamburg ist örtlich zuständig, weil der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Aschaffenburg gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend ist.
a) Der Gesetzgeber hat in § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO die grundsätzliche Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen und deren Bindungswirkung angeordnet. Dies hat der Senat im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung. Die Bindungswirkung entfällt nur dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; vgl. BGH NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16 f.; jeweils m. w. N.).
Willkür liegt nur vor, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9 m. w. N.). Das kann der Fall sein, wenn das verweisende Gericht eine seine Zuständigkeit begründende Norm nicht zur Kenntnis genommen oder sich ohne Weiteres darüber hinweggesetzt hat. Für die Bewertung als willkürlich genügt es aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist; es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11 m. w. N.). Solche sind etwa gegeben, wenn sich eine Befassung mit dem Gerichtsstand nach den Umständen, insbesondere dem Parteivortrag dazu, derart aufdrängt, dass die getroffene Verweisungsentscheidung als nicht auf der Grundlage von § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11 u. 15; Beschluss vom 17. Mai 2011, X ARZ 109/11, NJW-RR 2011, 1364 Rn. 12).
b) Bei Anlegung dieses Maßstabs entfaltet der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Aschaffenburg Bindungswirkung.
Zwar ist ein Verweisungsbeschluss als offensichtlich unhaltbar und damit objektiv willkürlich anzusehen, wenn das verweisende Gericht über die Zuordnung des von ihm für maßgeblich gehaltenen Ortes (Wohnsitz, Sitz, Erfüllungsort, Begehungsort usw.) zu dem Bezirk des Gerichts, an das verwiesen worden ist, offensichtlich geirrt hat (vgl. BAG, Beschluss vom 11. November 1996, 5 AS 12/96, NJW 1997, 1091 [juris Rn. 9]; BayObLG, Beschluss vom 13. September 1999, 4Z AR 27/99, NJW-RR 2000, 1734 [juris Rn. 18]; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 38 a. E.; zweifelnd Bacher in BeckOK ZPO, § 281 Rn. 33 und Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 17 a. E. [die von diesen angesprochene Möglichkeit der Berichtigung ist dem verweisenden Gericht jedoch nur eröffnet, wenn es nicht selbst an seinen Beschluss gebunden ist]; a. A. Roth in Stein/Jonas, ZPO, § 36 Rn. 49), weil diese Entscheidung jeglicher sachlichen Rechtfertigung entbehrt.
So verhält es sich indes vorliegend nicht. Das Amtsgericht Aschaffenburg hat in seinem Verweisungsbeschluss nicht darüber geirrt, welches Gericht nach den von ihm als maßgeblich erachteten Entscheidungskriterien zuständig sei. Vielmehr hat es an eben das Gericht verwiesen, das es aufgrund seiner Auslegung der Gerichtsstandsvereinbarung als zuständig angesehen hat. Ob diese Auslegung fehlerhaft ist, weil sie den dem Amtsgericht Aschaffenburg nicht bekannten – und auch von keiner der dazu gehörten Parteien mitgeteilten – Umstand nicht berücksichtigt, dass Hamburg acht Amtsgerichtsbezirke umfasst, kann dahinstehen, denn jedenfalls machte ein solcher Auslegungsfehler – der sich auch nach Auffassung des Amtsgerichts Hamburg in einem Sorgfaltsverstoß erschöpft – die Verweisung nicht schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und damit willkürlich.