Aktenzeichen 34 AR 99/16
Leitsatz
1. Zur – im Einzelfall bestehender – Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses, der die fortdauernde Zuständigkeit des Prozessgerichts infolge Rechtshängigkeit nicht beachtet. (amtlicher Leitsatz)
2 Der maßgebliche Zeitpunkt für die Prüfung der (sachlichen) Zuständigkeit ist der Akteneingang beim Prozessgericht. Bei einer Wertsenkung nach Erlass eines Mahnbescheids hat die Klägerpartei – sollte eine Verweisung an das Amtsgericht in Frage kommen – noch vor Abgabe an das bezeichnete Landgericht die zuständigkeitsverändernden Umstände dem Mahngericht mitzuteilen und eine Antragsreduzierung für das Streitverfahren anzukündigen. Erst diese prozessuale Erklärung der Klägerpartei bewirkt die Streitwertreduzierung. (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt nur, wenn der Beschluss jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt, wenn er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht oder wenn er sonst bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich oder sonst offensichtlich unhaltbar erscheint und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss. Hierfür genügt nicht schon, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist (ebenso BGH BeckRS 2011, 19094 Rn. 9). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
222 C 15295/16 2016-07-27 Bes AGMUENCHEN AG München
Tenor
Sachlich zuständig ist das Amtsgericht (München).
Gründe
I. Das Amtsgericht Hünfeld erließ am 20.1.2015 auf Antrag der in Wiesbaden ansässigen Klägerin Mahnbescheid gegen den in München wohnhaften Beklagten über eine Hauptforderung aus Bürgschaftsrückgriff oder Garantie über 10.000 € Hauptsache nebst Zinsen und Kosten. Gegen den am 22.1.2015 zugestellten Mahnbescheid richtete sich ein am 3.2.2015 eingegangener Widerspruch in Höhe eines Teilbetrags der Hauptforderung von 7.000 € nebst anteiligen Zinsen und Kosten mit der Begründung, dass 3.000 € am 2.2.(2015) bezahlt worden seien. Hinsichtlich des nicht widersprochenen Teils des Anspruchs erging auf der Grundlage des Mahnbescheids am 23.3.3015 Vollstreckungsbescheid. Im Übrigen gab das Mahngericht die Akten an das bezeichnete Landgericht München I ab (Az. 20 O 9682/16). Die Akten gingen dort am 9.6.2016 ein, die erste Verfügung stammt vom 13.6.2016.
Mit der Anspruchsbegründung vom 22.6.2016 begehrte die Klägerin vom Beklagten noch die Verurteilung zu einem Hauptsachebetrag von 4.424,88 € nebst Zinsen und Nebenforderungen aus Bürgenregress, trug dazu vor, der Beklagte haben nach einer Ratenvereinbarung aus 2014 mit Eingängen am 4.2.2015 und 1.4.2016 zweimal 3.000 € auf die Schuld geleistet, und beantragte zugleich die Verweisung der Sache an das Amtsgericht München. Nach Anhörung der Gegenseite mit dem Hinweis vom 28.6.2016, dem Antrag sei nach derzeitiger Aktenlage stattzugeben, der Streitwert liege bei Eingang der Akten (Anhängigkeit) unter 5.000 €, entsprach das Landgericht dem Antrag mit einem auf § 281 Abs. 1 ZPO gestützten Beschluss vom 21.7.2016.
Das Amtsgericht hat seinerseits mit bekannt gegebener Entscheidung vom 27.7.2016 die Übernahme des Verfahrens abgelehnt. Das Landgericht habe § 261 Abs. 3 Satz 2 ZPO missachtet. Die Sache sei mit Eingang der Akten – spätestens am 13.6.2016 – beim Landgericht anhängig und rechtshängig gewesen. Der Streitwert habe zu diesem Zeitpunkt mangels Abgabe einer entsprechenden prozessualen Erklärung noch über 7.000 € gelegen. Dass tatsächlich in der Zwischenzeit eine (Teil-)Zahlung stattgefunden habe, sei irrelevant. Die spätere Erklärung der Klägerseite habe auf die sachliche Zuständigkeit keinen Einfluss mehr. Außerdem sei nicht klar, ob nun insoweit für erledigt erklärt oder zurückgenommen werden solle.
Das Landgericht hat daraufhin die Akten zur Zuständigkeitsbestimmung dem Oberlandesgericht vorgelegt.
II. Auf die Vorlage des Landgerichts München I nach § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 37 ZPO ist die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts auszusprechen. Das Amtsgericht ist an den Beschluss vom 21.7.2016 gebunden. Dieser ist nicht willkürlich. Das Amtsgericht darf deshalb nicht die Übernahme des Verfahrens verweigern.
1. Mit den jeweils formlos mitgeteilten (§ 329 Abs. 2 ZPO) Beschlüssen vom 21.7.2016 und vom 27.7.2016 liegt eine tatsächliche – verbindliche – Kompetenzleugnung zweier als (sachlich) zuständig in Betracht kommender Gerichte vor. Dies eröffnet den Anwendungsbereich des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (z. B. BGH NJW 2013, 764 Rn. 2 und 5; Zöller/Vollkommer ZPO 31. Aufl. § 36 Rn. 24/25 m. w. N.).
2. Gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO sind Verweisungsbeschlüsse im Interesse der Prozessökonomie und zur Vermeidung von verfahrensverzögernden Zuständigkeitsstreitigkeiten unanfechtbar. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung (st. Rspr.; BGHZ 102, 338/340; BGH NJW 2002, 3634/3635; Zöller/Greger § 281 Rn. 16).
Die Bindungswirkung entfällt indessen, wenn der Beschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (BGH NJW 2002, 3634/3635; Zöller/Greger § 281 Rn. 17 m. w. N.). Dies ist der Fall, wenn er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt, wenn er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht oder wenn er sonst bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich oder sonst offensichtlich unhaltbar erscheint und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (etwa BGH NJW-RR 2011, 1364 Rn. 9; NJW-RR 2013, 764 Rn. 7). Hierfür genügt nicht schon, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist (BGH NJW-RR 2011, 1364 Rn. 9). Die Nichtbeachtung der Rechtshängigkeit (perpetuatio fori; § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO) kann bewirken, das die Bindung entfällt (OLG Frankfurt NJW-RR 1996, 1403; Zöller/Vollkommer § 281 Rn. 17; Fischer MDR 2000, 301/302).
3. Nach diesen Maßstäben ist das Amtsgericht in sachlicher Hinsicht (§ 23 Nr. 1 GVG) an die landgerichtliche Entscheidung gebunden (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO).
a) Das Landgericht ist gemäß seinem rechtlichen Hinweis vom 28.6.2016 davon ausgegangen, dass bereits bei Akteneingang dort (am 9.6.2016) der Streitwert „unter 5.000 €“ gelegen hätte. Darauf beruhen die Festsetzung des Zuständigkeitsstreitwerts mit 4.424,88 €, die Unzuständigerklärung und die Verweisungsentscheidung nach § 281 Abs. 1 ZPO.
b) Was den maßgeblichen Zeitpunkt für die (sachliche) Zuständigkeit angeht, befindet sich das Landgericht im Einklang mit der herrschenden Meinung, nach der für die Rechtshängigkeitswirkung (§ 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO) auf den Akteneingang beim Prozessgericht abzustellen ist (§ 696 Abs. 1 Satz 4 ZPO; BGH NJW 2009, 1213; Hüßtege in Thomas/Putzo ZPO 37. Aufl. § 696 Rn. 25; Zöller/Vollkommer § 696 Rn. Rn. 7; Hk-ZPO/Gierl § 696 Rn. 11 und 40). Auch der für Zuständigkeitsbestimmungen zuständige 34. Zivilsenat folgt dieser Ansicht (vgl. Beschluss vom 7.8.2013, 34 AR 218/13 unveröffentlicht; vom 6.8.2014, 34 AR 97/14 juris). In der Entscheidung vom 6.8.2014 hat er einen nach § 281 ZPO ergangenen Beschluss als nicht bindend angesehen, weil sich das Landgericht darin nicht mit dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Prüfung der sachlichen Zuständigkeit auseinandergesetzt hatte.
c) Das Landgericht hat indes nicht berücksichtigt, dass der Kläger, sollte eine Verweisung an das Amtsgericht in Frage kommen, bei einer Wertsenkung nach Erlass des Mahnbescheids noch vor Abgabe an das bezeichnete Landgericht die zuständigkeitsverändernden Umstände dem Mahngericht mitteilen und eine Antragsreduzierung für das Streitverfahren ankündigen muss (OLG Frankfurt NJW-RR 1996, 1403; vgl. Müther MDR 1998, 619/620 zu KG MDR 1998, 618; auch Senat vom 6.8.2014 juris Rn. 8 a. E.). Das Amtsgericht weist insofern zutreffend darauf hin, dass erst die prozessuale Erklärung der Klägerpartei die Streitwertreduzierung bewirkt.
d) Auch wenn das Landgericht im gegebenen Fall bei an sich zutreffender Bestimmung des Rechtshängigkeitszeitpunkts diesen Umstand nicht beachtet hat, so erachtet der Senat darin nur einen (einfachen) Rechtsfehler, der die Bindungswirkung des Beschlusses nicht aufhebt. Sowohl Rechtsprechung (vgl. OLG München – 31. Zivilsenat – vom 23.11.2006, 31 AR 138/06 juris Rn. 9; OLG Frankfurt NJW-RR 1995, 831) als auch Literatur (vgl. Musielak/Voit ZPO 13. Aufl. § 696 Rn. 6; MüKo/Schüler ZPO 4. Aufl. § 696 Rn. 37/38; unklar auch Zöller/Vollkommer § 696 Rn. 7 und 9a mit Verweis auf KG MDR 2002, 1147) stellen in diesem Zusammenhang oftmals nicht die Notwendigkeit der Prozesshandlung heraus (deutlich hingegen Hk-ZPO/Gierl § 696 Rn. 11), die als solche erst dazu führt, dass der Rechtsstreit ganz oder zum Teil ohne Entscheidung über den Streitgegenstand beendet wird (Hüßtege in Thomas/Putzo § 91a Rn. 6). Dies hat neben der Klägerin offensichtlich auch das Landgericht übersehen, wie die Begründung des Vorlagebeschlusses erneut belegt. Soweit das Oberlandesgericht Frankfurt in einer vergleichbaren Konstellation von fehlender Bindungswirkung ausgegangen ist (NJW-RR 1996, 1403; zustimmend Fischer MDR 2000, 301/302), kann es dahin stehen, ob sich im dortigen Bezirk eine gefestigte Rechtsprechung entwickelt hatte (wogegen die Entscheidung desselben Gerichts vom 16.9.1994, NJW-RR 1995, 831, unter Berücksichtigung der mitgeteilten Daten sprechen dürfte). Jedenfalls geben die vorliegenden Akten keinen Anhaltspunkt, die Reduzierung des Klageantrags mit einem offensichtlichen Zweck in Zusammenhang zu setzen, nachträglich die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts herbeizuführen.
e) Auf die Frage, ob sich das Landgericht willkürfrei auch auf die Zustellung der Anspruchsbegründung als maßgeblichen Zeitpunkt für die Rechtshängigkeit stützen könnte (vgl. Senat vom 6.8.2014 juris Rn. 9, in diesem Sinne ausdrücklich LG Halle vom 18.11.2008, 5 O 1564/08 juris), kommt es schon deshalb nicht an, weil das Landgericht München I die Verweisungsentscheidung vom 21.7.2016 darauf nicht gestützt hat.