Miet- und Wohnungseigentumsrecht

Verstoß des Sozialgerichts gegen die Amtsermittlungspflicht

Aktenzeichen  L 11 AS 276/17

Datum:
17.8.2017
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 148195
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 558d
SGB II § 22 Abs. 1
SGG § 159
WoGG § 12

 

Leitsatz

Amtsermittlung bei Prüfung eines schlüssigem Konzeptes
1 Die pauschale Feststellung in einem Urteil, die Kammer habe schon wiederholt festgestellt, dass ein Konzept zur Ermittlung der Angemessenheitsgrenzen nicht schlüssig sei, erfüllt nicht die Anforderungen an die Amtsermittlungspflicht im Einzelfall. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Stehen dem Sozialgericht ausreichend Daten zur Verfügung, um eine Angemessenheitsgrenze zu bestimmen oder bestimmen zu lassen, drängt sich eine weitere Amtsermittlungspflicht auf. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
3 Zu den Ermessenserwägungen bei der Entscheidung über die Zurückverweisung eines Rechtsstreits in die erste Instanz. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 13 AS 361/16 2016-10-19 Endurteil SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 19.10.2016 wird aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Nürnberg zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des Sozialgerichts Nürnberg vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (§ 145, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und im Sinne der Aufhebung des Urteils des SG und einer Zurückverweisung an das SG begründet.
Streitgegenstand ist die Höhe der der Klägerin zu zahlenden Leistungen für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung betreffend den Zeitraum vom 01.05.2015 bis 30.04.2016. Dies war (ua) Gegenstand des angefochtenen Bewilligungsbescheides vom 19.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2016. In zulässiger Weise hat die Klägerin den Streitgegenstand auf Leistungen für Bedarfe der Unterkunft und Heizung beschränkt (vgl BSG, Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 42/13 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 78; Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 55/13 R – BSGE 116, 254; Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 49/14 R – juris).
Das Verfahren des SG leidet an wesentlichen Mängeln (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das SG hat vorliegend gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 Satz 1 SGG) verstoßen. Danach erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es sind alle Tatsachen, abhängig von den maßgeblichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs, zu ermitteln, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich und entscheidungserheblich sind. Eine Tatsache ist dann wesentlich oder entscheidungserheblich, wenn sich aus ihr ein Tatbestandsmerkmal der anzuwendenden Norm ergibt oder mittelbar auf Vorliegen oder Nichtvorliegen einer unmittelbar erheblichen Tatsache geschlossen werden kann (vgl dazu insgesamt: Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 103 Rn 4a mwN). Dabei verletzt ein Gericht die Amtsermittlungspflicht, wenn es sich – ausgehend von seiner materiell-rechtlichen Rechtsauffassung – zu einer weiteren Sachaufklärung hätte gedrängt fühlen müssen (ständige Rspr des BSG, zB Beschluss vom 31.01.2017 – B 3 KR 44/16 B; Leitherer, aaO, Rn 5).
Zutreffend hat das SG darauf abgestellt, dass sich die Höhe des von der Klägerin – die ohne Zweifel und unbestritten, wenn auch nicht vom SG in den Entscheidungsgründen festgestellt, im Zeitraum vom 01.05.2015 bis 30.04.2016 die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 SGB II dem Grunde nach erfüllt hat – zu beanspruchenden Alg II (ua) nach deren (angemessenen) Unterkunftsbedarf richtet. So werden nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Zur Ermittlung der Angemessenheitsgrenze ist in einem gestuften Verfahren zunächst eine abstrakte und dann eine konkret-individuelle Prüfung vorzunehmen. Die Angemessenheit der Unterkunftskosten unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle (vgl BSG, Urteil vom 06.04.2011 – B 4 AS 119/10 R).
Nach der maßgeblichen sog Produkttheorie sind die Unterkunftskosten als Produkt der nach Personenzahl angemessenen Wohnungsgröße und dem durchschnittlichen Quadratmeterpreis zu bilden. Hinsichtlich der Festlegung der angemessenen Wohnfläche ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl nur Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R; Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 18/06 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 3) auf die Wohnraumgrößen für Wohnberechtigte im sozialen Mietwohnungsbau abzustellen, so dass sich diese grundsätzlich nach den Werten, welche die Länder aufgrund des § 10 Wohnraumförderungsgesetz vom 13.09.2001 (BGBl I 2376) festgelegt haben, bestimmt. Dies sind in Bayern für einen Ein-Personen-Haushalt 50 qm (Wohnraumförderungsbestimmungen 2012 – WFB 2012 – Bekanntmachung der Obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern vom 11.01.2012 – AllMBl 2012, 20). Zur Ermittlung eines angemessenen Quadratmeterpreises bedarf es – wie vom SG richtig erkannt – eines schlüssigen Konzeptes. Dieses muss folgende Mindestvoraussetzungen erfüllen (vgl BSG, Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R; Urteil vom 10.09.2013 – B 4 AS 77/12 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 70):
– Die Datenerhebung darf ausschließlich in dem genau eingegrenzten und muss über den gesamten Vergleichsraum erfolgen;
– Es bedarf einer nachvollziehbaren Definition des Gegenstandes der Beobachtung (Art von Wohnungen, Differenzierung nach Standard der Wohnungen, Brutto- und Nettomiete/Vergleichbarkeit, Differenzierung nach Wohnungsgröße);
– Angaben über den Beobachtungszeitraum;
– Festlegung der Art und Weise der Datenerhebung (Erkenntnisquellen, zB Mietspiegel);
– Repräsentativität des Umfangs der einbezogenen Daten;
– Validität der Datenerhebung;
– Einhaltung anerkannter mathematisch-statistischer Grundsätze der Datenauswertung;
– Angaben über die gezogenen Schlüsse (zB Spannoberwert oder Kappungsgrenze).
Das SG ist davon ausgegangen, dass der Richtwert des Beklagten für die Zeit ab 2013 iHv 374 € nicht auf einem schlüssigen Konzept beruht und dieses fehlerhaft sei. Die entsprechenden weitestgehend pauschalen Ausführungen des SG sind schon deshalb nicht nachvollziehbar, da unklar bleibt, auf welches Konzept sich das SG dabei konkret bezieht. Ein solches wurde weder beigezogen noch ist es in den Verwaltungsakten und Akten des SG befindlich. Soweit es im Urteil des SG heißt, das erkennende Gericht habe schon mehrfach festgestellt, die Richtwerte seien nicht schlüssig, bleibt die Angabe offen, in welchen Entscheidungen dies gewesen sein soll.
Selbst wenn man der Auffassung des SG folgen wollte, die Mietobergrenze für die Zeit ab 2013 von 374 €, die sich aus dem vom Senat im Berufungsverfahren angeforderten und beigezogenen Konzept des Beklagten ergibt, nicht schlüssig sein sollte – hierfür würde schon sprechen, dass dieser Wert auf den Daten eines Mietspiegels vom August 2012 (so Seite 7, 2. Absatz des Konzepts) beruht, und daher nicht mehr hinreichende Gewähr bieten dürfte, auch im streitgegenständlichen Zeitraum 2015 bzw 2016 das aktuelle Mietpreisniveau zutreffend abzubilden -, hätte sich das SG nur dann auf die Werte der Wohngeldtabelle stützen können, wenn sich eine Mietobergrenze nicht mehr ohne weiteres anders hätte ermitteln lassen. Ist aber Datenmaterial für den Vergleichsraum – hier offenbar die gesamte Stadt A., was wohl nicht zu beanstanden sein dürfte (zum Vergleichsraum Stadt M.: BSG, Urteil vom 19.02.2009 – B 4 AS 30/08 R; Stadt A.: BSG, Urteil vom 20.08.2009 – B 14 AS 41/08 R; Stadt B.: BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 65/09 R) – vorhanden, etwa noch auswertbare Daten, die die Grundlage für die Erstellung zumindest eines qualifizierten Mietspiegels geboten haben, sind diese im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit zur Überprüfung der von dem Beklagten gewählten Angemessenheitsgrenze heranzuziehen (vgl dazu BSG, Urteil vom 10.09.2013 – B 4 AS 77/12 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 70; Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 65/09 R; Urteil vom 22.03.2012 – B 4 AS 16/11 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 59; BSG Urteil vom 14.2.2013 – B 14 AS 61/12 R). Zwar gilt hier, dass es Sache des Beklagten ist, entsprechende Daten dem Gericht vorzulegen, denn es im Wesentlichen eine Aufgabe des beklagten Grundsicherungsträgers, für seinen Zuständigkeitsbereich ein schlüssiges Konzept zu ermitteln. Das SG muss aber nachvollziehbar darlegen, warum ein schlüssiges Konzept auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisse und Daten für den maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nicht entwickelt werden kann (vgl BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 4 AS 16/11 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 59; Urteil vom 14.02.2013 – B 14 AS 61/12 R).
Hierzu hat das SG keinerlei Feststellungen getroffen. Vielmehr hat es nach Annahme, das Konzept des Beklagten sei nicht schlüssig, auf die Höchstbeträge nach § 12 WoGG abgestellt. Vorliegend erscheint es aber nicht ausgeschlossen, dass aufgrund der erhobenen und offensichtlich noch vorhandenen Daten der Stadt A-Stadt zur Erstellung des Mietenspiegels 2016 bzw der Fortschreibung des Mietenspiegels 2012 im Jahr 2014 ausreichend sind, um ein schlüssiges Konzept – ggf auch nach Einholung eines Sachverständigengutachtens – zu erstellen. Die im Zusammenhang mit einem Mietspiegel erhobenen Daten sind insofern grundsätzlich geeignet, auch die grundsicherungsrechtliche Angemessenheitsgrenze zu bestimmen (BSG, Urteil vom 10.09.2013 – B 4 AS 77/12 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 70; Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 65/09 R). In den Akten des Beklagten befindet sich eine Darstellung „Nachholung des schlüssigen Konzepts ab 01.08.2014 für den Ein-Personen-Haushalt“, das nach dem Vermerk des Beklagten zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 19.10.2016 offenbar Gegenstand der Erörterung war, die Vorsitzende der Kammer aber das „neu vorgelegte“ Konzept für fragwürdig gehalten habe. In der Niederschrift des SG findet sich hierzu nichts. Das SG hätte im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht dem Beklagten aufgeben müssen, die zur Erstellung eines schlüssigen Konzeptes notwendigen Daten vorzulegen, sofern es auch das „neue“ Konzept nicht für schlüssig gehalten hätte. Dies hat das SG unterlassen.
Aufgrund des dargestellten Verfahrensfehlers war das Urteil des SG aufzuheben und der Rechtsstreit an das SG zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen, da wegen des Verfahrensfehlers auch im Hinblick auf obige Ausführungen eine umfangreiche und aufwändige Beweiserhebung notwendig ist (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Im Einzelnen wird das SG jedenfalls zunächst prüfen müssen, ob das neue Konzept schlüssig ist. Dabei sind die zugrunde gelegten Daten zu prüfen und die gezogenen Schlüsse nachzuvollziehen. Problematisch erscheint bei dem neuen Konzept, dass dort lediglich geprüft wird, bis zu welchem Mietpreisniveau Wohnungen von 45 bis 50 qm in den jeweiligen Perzentilen anmietbar sind. Ein angemessener qm-Preis, der im Rahmen der Produkttheorie mit der angemessenen Wohnfläche multipliziert wird, wird dabei aber nicht ermittelt. Auch könnte sich die Frage stellen, ob die Daten der Stichprobe 2014, die im Rahmen der Fortschreibung des Mietenspiegels 2012 erfolgt ist, ausreichend sind. Im Gegensatz zu den Erhebungen 2012 und 2016 sind dabei nur 10.000 statt 20.000 Haushalte befragt worden. Würde man von einem unzureichenden Datenbestand 2014 auszugehen, so wäre zu prüfen, inwieweit aus den Daten 2012 – ggf unter Berücksichtigung einer Fortschreibung – oder ggf auch aus den Daten 2016 Rückschlüsse auf eine angemessene Miete möglich wären. Erst nach Feststellung, dass auch unter Ausschöpfung dieser Möglichkeiten kein schlüssiges Konzept erstellt werden kann, kann auf die Tabellenwerte des WoGG zurückgegriffen werden, wobei die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts regelmäßig von einem Sicherheitszuschlag von 10% ausgeht (vgl nur BSG, Urteil vom BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 87/12 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 73 RdNr. 25 f; BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 4 AS 16/11 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 59; Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 85) und eine Abweichung hiervon eingehend zu begründen wäre.
Bei einer Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG hat der Senat sein Ermessen dahingehend auszuüben, ob er die Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme sein (Keller aaO § 159 Rn 5a). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an der Sachentscheidung sowie den Grundsätzen der Prozessökonomie hält es der Senat vorliegend für angezeigt, den Rechtsstreit insoweit an das SG zurückzuverweisen. Dies hat der Beklagte im Übrigen so beantragt. Im Rahmen der erneuten Entscheidung wird das SG auch den Widerspruch zwischen Tenor und Entscheidungsgründen in Bezug auf den zugesprochenen Betrag ab 01.05.2015 berichtigen können. Im Tenor sind insofern 417,70 € angegeben, in den Entscheidungsgründen 411,70 €.
Somit war das Urteil des SG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.
Das SG wird im Rahmen der erneuten Entscheidung über die Kosten zu befinden haben.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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