Aktenzeichen 6 Ni 9/19 (EP)
Tenor
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das europäische Patent 2 365 794
(DE 50 2010 002 626.6)
hat der 6. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts am 12. August 2020 durch die Vorsitzende Richterin Friehe, den Richter Dipl.-Ing. Veit, die Richterinnen Werner und Dipl.-Phys. Univ. Zimmerer sowie den Richter Dr.-Ing. Flaschke
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent 2 365 794 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Patentansprüche 1, 2, 3, 7, 9, 10 und 11 für nichtig erklärt.
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Beklagte ist Inhaberin des auch mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 2 365 794 (Streitpatent), das auf die internationale Anmeldung PCT/AT2010/000027 vom 26. Januar 2010 zurückgeht. Das Streitpatent nimmt die Priorität aus der Anmeldung AT 1452009 vom 28. Januar 2009 in Anspruch. Die Anmeldung wurde als WO 2010/085831 veröffentlicht. Das Streitpatent durchlief ein Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt, das mit der Aufrechterhaltung des Streitpatents in eingeschränktem Umfang endete.
2
Das Streitpatent ist in Kraft. Es wird beim Deutschen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen 50 2010 002 626 geführt und trägt die Bezeichnung
3
„WUNDREINIGUNGSEINRICHTUNG“.
4
Es betrifft eine Wundreinigungseinrichtung (Anspruch 1), die Verwendung von synthetischen Fasern zur Herstellung einer Wundreinigungseinrichtung oder eines Wundreinigungstuchs (Anspruch 11) und ein Verfahren zur Herstellung einer Wundreinigungseinrichtung (Anspruch 12).
5
Es umfasst in der nach Einspruch aufrecht erhaltenen Fassung (EP 2 365 794 B2) dreizehn Patentansprüche, die mit der am 14. September 2018 eingereichten Nichtigkeitsklage im Umfang der Patentansprüche 1, 2, 3, 7, 9, 10 (Wundreinigungseinrichtung nach Anspruch 1 und untergeordnete Ansprüche) und Patentanspruch 11 (Verwendung) angegriffen werden. Die angegriffenen erteilten nebengeordneten Patentansprüche 1 und 11 lauten wie folgt:
6
Die ebenfalls angegriffenen Patentansprüche 2, 3, 7, 9 und 10 sind auf Patentanspruch 1 unmittelbar oder mittelbar rückbezogen. Wegen des Wortlauts dieser und der weiteren in Bezug genommenen Ansprüche wird auf die Streitpatentschrift Bezug genommen.
7
Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Streitpatent wegen des Nichtigkeitsgrunds der mangelnden Patentfähigkeit, nämlich mangelnder Neuheit (Anspruch 2) und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Ansprüche 1, 3, 7, 9, 10 und 11), für nichtig zu erklären sei. Dies stützt sie u.a. auf die Druckschriften (Nummerierung und Kurzzeichen nach Klageschriftsatz):
8
NK5 JP 20001 175 958
9
NK5a Maschinenübersetzung der NK5
10
NK6 US 2004/0265534 A1
11
NK8 Fachbuch „Pflegepraxis; Wundtherapie“, Georg Thieme Verlag, 2004, Seiten 1, 2, 3, 52, 61, 80 und 85
12
NK10 DE 10 2010 023 402 A1
13
Die Klägerin beantragt,
14
das europäische Patent 2 365 794 mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Patentansprüche 1, 2, 3, 7, 9, 10 und 11 für nichtig zu erklären.
15
Die Beklagte beantragt,
16
die Klage abzuweisen,
17
hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit sie sich auch gegen eine der Fassungen des Streitpatents nach den Hilfsanträgen 1 bis 4 aus dem Schriftsatz vom 30. April 2020, den Hilfsanträgen 5 und 6 aus dem Schriftsatz vom 19. Juni 2020 und den Hilfsanträgen 7 bis 9 aus dem Schriftsatz vom 30. April 2020 richtet.
18
Die Ansprüche nach den eingereichten Hilfsanträgen, die auch in der genannten Reihenfolge gestellt sein sollen, lauten (Änderungen gegenüber der B2-Fassung sind jeweils gekennzeichnet) wie folgt:
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19
Die Beklagte tritt der Argumentation der Klägerin entgegen und hält den Gegenstand des Streitpatents in der erteilten, wenigstens in den verteidigten Fassungen nach den Hilfsanträgen, für schutzfähig. Sie verweist in Bezug auf das Fachwissen u. a. auf die Druckschriften
20
B1 Fachbuch „Textile Terms and Definitions“, The Textile Institute, 8th Edition, 1986, S.180-182 und
21
B2 DIN ISO 2424, Januar 1999
22
Die Klägerin hält die Gegenstände nach dem jeweiligen Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 bis 9 für unzulässig und nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend. Die Hilfsanträge 4 bis 7 seien darüber hinaus unklar.
23
Der Senat hat den Parteien einen qualifizierten Hinweis vom 19. Mai 2020 (versandt am 20. Mai 2020) zugeleitet und hierin Fristen zur Stellungnahme auf den Hinweis und auf etwaiges Vorbringen der jeweiligen Gegenpartei gesetzt.
24
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe
A.
25
Die Klage ist zulässig und begründet. Sowohl die erteilte Fassung des Streitpatents als auch die Fassungen nach den Hilfsanträgen erweisen sich als nicht patentfähig, so dass das Streitpatent insgesamt für nichtig zu erklären ist. Der Fassung nach Hauptantrag (B2-Fassung) steht der Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit jedenfalls wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit gemäß Artikel II § 6 Absatz 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. a) EPÜ i. V. m. Art. 54, 56 EPÜ entgegen, die Fassungen nach den Hilfsanträgen beinhalten therapeutische Verfahren und sind daher vom Patentschutz gemäß Artikel II § 6 Absatz 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. a) EPÜ i. V. m. Art. 53 Buchst. c) EPÜ ausgeschlossen.
26
I. Zum Gegenstand des Streitpatents
1.
27
Der Gegenstand des Streitpatents betrifft eine Wundreinigungseinrichtung nach dem Oberbegriff des Patentanspruchs 1. Die Erfindung betrifft die Verwendung zur Reinigung von Wunden, eine Anordnung aus einer Wundreinigungseinrichtung und einer Verpackung sowie Verfahren zur Herstellung von solchen Wundreinigungseinrichtungen (Streitpatent Abs. [0001]).
28
In der Beschreibungseinleitung wird ausgeführt, dass bei der Behandlung von akuten Wunden und insbesondere von chronischen Wunden das Débridement, ein Vorgang der Wundbettpräparation, bei dem vom Körper selbst gebildete Substanzen oder mit anderen Worten Humanmaterial wie z.B. überschießende Flüssigkeiten, Vibrinbeläge, abgestorbenes Gewebe der Oberhaut wie z. B. überschießendes Hornmaterial oder tote Hornzellen und/oder Beläge aus abgestorbenem Gewebe (Nekrosen) entfernt werden, von besonderer Wichtigkeit sei. Zum jetzigen Zeitpunkt sei ein solches Débridement praktisch nur mit medizinisch-technischen Mitteln wie der Hydrochirurgie, Stoßwellenbehandlung oder auf chirurgischem Wege zu erreichen. Im Stand der Technik gebe es die längerfristige Anwendung speziell angefeuchteter Wundverbände, welche nach längerer Zeit des Tragens einen solchen Débridementeffekt erzielen sollen (Streitpatent Abs. [0003]).
29
Die beim Stand der Technik bekannten Methoden seien aufwendig und schmerzhaft, sowie zum Teil aggressiv; und mit ihnen werde das Ziel der Wundreinigung, die jungen sprießenden neuen Hautinseln bis zur frühen Epithelialisierung möglichst unbeeinträchtigt zu bewahren und nur die störenden Substanzen zu entfernen, nicht im gewünschten Maße erreicht (Streitpatent Abs. [0004]).
30
Zum Stand der Technik wird in der Beschreibungseinleitung auf die EP 0552 933 A1, die US 2004/0265534 A1, die US 2008/0177253 A1, die US 3732135 B1, die US 3 561 441 und die US 5 989 677 hingewiesen. Beispielhaft zeige die US 2004/0265534 A1 (= NK6) ein laminiertes Tuch, welches Merkmale des Oberbegriffs des Patentanspruchs 1 aufweise. In dieser US Schrift seien verschiedenste Verwendungsmöglichkeiten, unter anderem die Verwendung im medizinischen bzw. sanitären Bereich genannt (Streitpatent Abs. [0005]).
2.
31
Vor diesem Hintergrund stellt sich in der Streitpatentschrift die Aufgabe, eine Möglichkeit zur Wundreinigung und insbesondere zum Débridement zu schaffen, bei der eine schonende aber auch einfach durchführbare Vorgangsweise zur Wundreinigung, insbesondere zum Débridement, möglich wird, welche die Verschmutzungen zufriedenstellend beseitigt, aber den bereits eingetretenen Heilungsprozess nicht stört oder wieder rückgängig macht (siehe Streitpatent Abs. [0006]).
3.
32
Das im Patent angegebene Problem soll durch die Vorrichtunggemäß Patentanspruch 1 des Streitpatents (B2-Fassung) gelöst werden (Merkmalsgliederung entsprechend den Angaben der Klägerin):
33
Wundreinigungseinrichtung, welche
34
1. ein Wundreinigungstuch (1) aufweist oder ist,welches zumindest
35
1.1 eine Trägerschicht (2) und
36
1.2 an der Trägerschicht (2) angeordnete und von der Trägerschicht (2) abstehende Fäden (3)
37
1.2.1 aus synthetischen Fasern aufweist,
38
1.2.2 wobei zumindest einige der Fäden (3) auf ihrer von der Trägerschicht (2) abgewandten Seite frei auskragende, vorzugsweise abgeschnittene, Enden (4) aufweisen,
39
1.2.3 wobei die Fäden (3) schräg zu ihrer Längserstreckung (5) verlaufende, vorzugsweise abgeschnittene, Enden (4) bzw. Endflächen aufweisen und
40
1.2.4 die von der Trägerschicht abstehenden Fäden einen an der Trägerschicht angeordneten und von dieser abstehenden Flor bilden,
41
und
42
2. das Wundreinigungstuch steril in einer vorzugsweise luftdicht verschlossenen Verpackung (7) verpackt ist,
43
dadurch gekennzeichnet, dass
44
1.2.4.1 die Florhöhe zwischen 3 und 30 mm beträgt und
45
1.2.4.2 die von der Trägerschicht abstehenden Fäden zwischen 0,5 und 20 dtex aufweisen.
4.
46
Da der maßgebliche Fachmann derjenige ist, dem üblicherweise die Lösung der sich objektiv stellenden Aufgabe übertragen wird (so schon BGH, Urteil vom 15. September 1977 – X ZR 60/75, GRUR 1978, 37 – Börsenbügel), ist hier der Fachmann zur Lösung dieser Aufgabe ein Diplom-Ingenieur der Medizintechnik mit Hochschulausbildung, der mit der Entwicklung von Wundauflagen zur Behandlung von Wunden, insbesondere zur Reinigung von Wunden, vertraut ist und für die medizinischen Aspekte der Wundheilung einen entsprechend kundigen Arzt konsultiert (s. a. BGH, Urteil vom 17. Februar 2015 – X ZR 161/12 – Wundbehandlungsvorrichtung, BPatG, Urteile vom 3. Juli 2012 und 28. Dezember 2015 – 4 Ni 15/10 – Unterdruckwundverband I und II; sowie Urteil vom 7. März 2017 – 4 Ni 12/15 (EP)).
47
Dieser Fachmann wird hinsichtlich der Materialeigenschaften und Herstellung des Wundreinigungstuchs in einem Team mit einem Ingenieur der Textiltechnik zusammenarbeiten, der fundierte Kenntnisse auf den Gebieten der Chemie und Textiltechnik besitzt.
5.
48
Der Patentanspruch 1 ist zunächst unter Heranziehung der Beschreibung und der Figuren auszulegen. Als Grundlage der objektiven Patentauslegung ist dabei maßgebend, wie die Angaben hinsichtlich der Funktionalität aus fachlicher Sicht zu verstehen sind und welche Schlussfolgerungen der angesprochene Fachmann hieraus für die erfindungsgemäße Beschaffenheit der Vorrichtung zieht (siehe BGH X ZR 71/08).
49
Nach dem Titel des Anspruchs 1 betrifft der Gegenstand des Anspruchs 1 eine Wundreinigungseinrichtung, also eine Einrichtung zum Reinigen von Wunden. Die Funktionsangabe stellt lediglich ein Geeignetheitskriterium dar, das erfüllt ist, wenn die Einrichtung bzw. das Tuch für diesen Zweck, also der Reinigung von Wunden geeignet ist.
50
Unter Wundbettreinigung versteht der Fachmann die Versorgung und Reinigung einer Wunde. Das Débridement ist eine spezielle Reinigung der Wunde, bei dem avitales und geschädigtes Gewebe von der Haut bzw. aus der Wunde entfernt werden (vgl. NK8 S.85 Kap. 7.6.1, Streitpatent Abs [0010]: „Der Begriff der Wundreinigung umfasst dabei sowohl das Entfernen von Fremdkörpern bzw. Fremdpartikeln, also nicht körpereigenen Stoffen, als auch das Débridement, also den Vorgang der Wundbettpräparation, bei dem vom Körper selbst gebildete Substanzen bzw. Humanmaterial wie überschießende Flüssigkeiten, Fibrinbeläge, abgestorbenes Gewebe der Oberhaut wie z.B. überschießendes Hornmaterial oder tote Hornzellen und/oder Beläge aus abgestorbenem Gewebe (Nekrosen) von der Haut bzw. aus der Wunde entfernt werden.“).
51
Der Fachmann kennt als mechanisches Débridement in seiner einfachsten Form die Verwendung trockener Verbände, wobei beim Verbandswechsel nekrotisches und gesundes Gewebe, welches am Verband haftet, entfernt wird (vgl. NK8 S.85), jedoch sind ihm auch andere Formen wie beispielsweise enzymatisches oder autolytisches Débridement geläufig (vgl. NK8 S.85).
52
Die Wundreinigung nach Anspruch 1 ist nicht auf das in der Beschreibungseinleitung angesprochene Débridement eingeschränkt, sondern umfasst jede Art von Wundreinigung mit einem (Wundreinigungs-)Tuch [Merkmal 1]. Dieses flexible Flächengebilde (siehe Streitpatent Abs. [0001]) wird ggfls. nach Anfeuchten (z.B. mit einer Wundspüllösung) zum mechanischen Reinigen einer Wunde verwendet. Ein Wundreinigungstuch muss aufgrund der medizinischen Anwendung sterilisierbar sein und/oder als Medizinprodukt die Vorgaben der einschlägigen Normen und Gesetze für Medizinprodukte erfüllen (vgl. Streitpatent Abs. [0010]: „Bei dem Wundreinigungstuch handelt es sich um ein sterilisiertes Produkt und/oder Medizinprodukt, welches die Vorgaben der einschlägigen Normen und Gesetze für Medizinprodukte erfüllt.“). Als Reinigungstuch kennt der Fachmann aus seinem Fachwissen auch medizinische Kompressen. Insoweit sind dem Fachmann Wundbehandlungstücher bekannt, die sowohl zur Wundreinigung als auch zur Wundauflage dienen können. Das Reinigungstuch kann beispielsweise als Waschlappen oder Waschhandschuh ausgebildet sein (vgl. Streitpatent Fig. 4). Es kann sich auch um ein Behältnis handeln, das ein solches Tuch beinhaltet, oder um eine Vorrichtung (bspw. Handstück) an der so ein Tuch angebracht ist, oder eben um ein solches Tuch selbst.
53
Das Wundreinigungstuch besteht zumindest aus zwei Schichten, einer Trägerschicht und einer Schicht mit von der Trägerschicht abstehenden Fäden [Merkmale 1.1 und 1.2], die damit einen an der Trägerschicht angeordneten und von der Trägerschicht abstehenden Flor bilden [Merkmale 1.2.4].
54
Nach Ansicht der Beklagten wird durch Merkmal 1.2.4 zum Ausdruck gebracht, dass die gemäß Merkmal 1.2 an der Trägerschicht angeordneten Fäden nicht nur vereinzelt vorliegen, sondern so dicht angeordnet sind, dass über die gesamte Fläche der Trägerschicht ein Wundreinigungseffekt erzielt werden kann. Der Fachmann entnehme dem Merkmal 1.2.4 daher unter Berücksichtigung des Gesamtinhalts der Patentschrift den Sinngehalt, dass durch die Bildung eines Flors aus den Fäden einerseits eine Wirksamkeit des Wundreinigungstuchs über dessen gesamte Fläche erreicht werde und andererseits eine solche Dichte der einzelnen Fäden bereitgestellt werde, die es ermögliche, die Verunreinigungen auch in dem Wundreinigungstuch festzuhalten, so dass sie nicht wieder in die Wunde zurückkehren könnten, was durch das Zusammenspiel der Merkmale 1.2.1 und 1.2.4 begünstigt werde (siehe Widerspruchsbegründung S.5).
55
Dieser eingeschränkten Auslegung stimmt der Senat nicht zu, da eine Auslegung unterhalb des Sinngehalts zumindest dann nicht zulässig ist, wenn der Fachmann aus der Anspruchsfassung bereits einen klar und eindeutig definierten Gegenstand entnehmen kann (BPatGE 42, 204, GRUR 2000, 794 – veränderbare Daten; BGHZ 160, 204, 209; GRUR 2004, 1023 – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung); BGH GRUR 2007, 309, 311 – Schussfädentransport). Dies ist vorliegend der Fall. Eine Aussage über die Dichte oder Wirksamkeit des Flors ist der Anspruchsfassung nicht zu entnehmen. Dies ergibt sich u. a. auch daraus, dass im Streitpatent ein großer Bereich der Florhöhe angegeben ist und dem damit kein spezieller technischer Effekt zugeordnet werden kann.
56
Die Florhöhe beträgt nach Merkmal 1.2.4.1 zwischen 3 und 30 mm. Unter Florhöhe versteht der Fachmann die Höhe der aus den Fäden gebildeten Struktur. Die in Abs. [0023] des Streitpatents gemeinsame Angabe von Florhöhe und der Länge der Fäden (siehe Streitpatent Abs. [0023]: „Die Florhöhe 13 bzw. Länge der Fäden 3 beträgt zwischen 3 mm und 30 mm, vorzugsweise zwischen 3 und 12 mm, besonders bevorzugt ist eine Florhöhe 13 von 8 mm.“) betrifft die Ausgestaltung mit senkrecht nach oben stehenden Fäden gemäß Fig. 1.
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57
Das Streitpatent setzt jedoch nicht voraus, dass die Fäden von der Trägerschicht im Wesentlichen senkrecht/borstenartig abstehen, wie dies in Fig.1 des Streitpatents gezeigt ist (vgl. Streitpatent Abs. [0023]: „Auch wenn die Fäden in der gezeigten schematischen Darstellung linear verlaufend dargestellt sind, so ist es letztendlich eine Frage ihrer Steifigkeit bzw. Biegbarkeit, inwiefern die Fäden 3 tatsächlich, wie hier dargestellt, borstenartig von der Trägerschicht 2 abstehen. Selbst im unbelasteten, hier dargestellten Zustand muss nicht zwingend vorgesehen sein, dass alle Fasern 3 linear längserstreckt von der Trägerschicht 2 abstehen.“).
58
Nur in diesem Fall mit senkrecht abstehenden Fäden gilt die von der Beklagten angeführte Übereinstimmung von „Länge der Fäden“ und „Florhöhe“. Auch die von der Beklagten genannten Druckschriften B1, B2 und die NK10 definieren den Begriff Florhöhe nicht eindeutig. Die B1 verweist zum Begriff „effektive Florhöhe“ (pile height, effective), auf die effektive Florlänge (pile length, effective) als die Länge der Fasern (siehe B1 S. 182 oben). Nach der B2 wird die Polschenkellänge manchmal als Polhöhe bezeichnet („5.18 … Manchmal auch als Polhöhe bezeichnet.“), auch unterscheidet die Norm B2 zwischen Polschichtdicke (siehe 5.7: „…Teppichdicke … unter Normbelastung“) und der Polschenkellänge (siehe 5.18: „Faserlänge ….“). In der NK10 wird in Abs. [0005] lediglich ein Zusammenhang zwischen Florhöhe und Fadenlänge hergestellt (vgl. NK10 Abs. [0005]: „Die Schlingen stehen also gewissermaßen senkrecht von dem Grund- bzw. Trägermaterial nach oben ab. Die somit entstehende Pol- bzw. Florhöhe hängt von der Länge der Polfäden bzw. – schlingen an. Je länger der Flor ist, desto weicher wird der textile Bodenbelag. Gleichzeitig droht aber der Flor vor allem bei längerer und starker Beanspruchung dauerhaft abzuknicken, was auch unter optischen bzw. ästhetischen Gesichtspunkten nachteilig ist.”). Für eine Abweichung vom Wortlaut, d. h. Höhe des Flors sei nicht die Florhöhe, sondern die Länge der Fasern, ergibt sich daher kein eindeutiger Beleg. Daher wird auch der Fachmann von einer breiten Auslegung gemäß dem Wortlaut ausgehen.
59
Die Fäden bestehen aus synthetischen Fasern (vgl. Streitpatent Abs. [0006]) [Merkmal 1.2.1], darunter fallen nach dem Streitpatent alle nicht natürlichen Fasern, insbesondere Kunststofffasern, nach Unteranspruch 6 auch reine Silberfäden und/oder reine Kupferfäden. Mit Merkmal 1.2.1 ist umfasst, dass jeder Faden nur eine synthetische Faser aufweisen kann. Dies ergibt sich für den Fachmann bereits daraus, dass die Ausdrücke „Fasern” und „Fäden” bei Erläuterung des Flors in der Beschreibung des Streitpatents (vgl. Streitpatent Abs. [0023] und [0026]) stellenweise synonym benutzt werden (beispielsweise Abs. [0023]: „Bei diesem halten die Fasern bzw. die Fäden 3 besonders gut an der Trägerschicht 2, …“). Der Wortlaut schränkt den Gegenstand jedoch nicht derart ein, dass die Fäden genau aus einer Einzelfaser bestehen müssen.
60
Exemplarisch werden für synthetische Fasern Kunststofffasern genannt (vgl. Streitpatent Abs. [0017], [0018]). Genannt wird auch, die Fäden aus Gemischen von synthetischen Fasern aus Polyester und/oder Polyamid und/oder Polyacryl herzustellen (vgl. Streitpatent Abs. [0013]: „Es ist aber auch möglich, die Fäden und/oder die Trägerschicht und/oder das gesamte Wundreinigungstuch aus Gemischen von synthetischen Fasern aus Polyester und/oder Polyamid und/oder Polyacryl herzustellen. Z. B. ist es möglich, für die Fäden synthetische Fasern zu 80% aus Polyacryl und zu 20% aus Polyester zu verwenden. … Bevorzugte Ausgestaltungsformen sehen aber auch vor, die Fäden aus 100% Polyester herzustellen.“).
61
Gemäß den Merkmalen 1.2.2 und 1.2.3 weisen zumindest einige der Fäden auf ihrer von der Trägerschicht abgewandten Seite frei auskragende Enden auf, die schräg zu ihrer Längserstreckung verlaufen. Unter “schräg” werden dabei alle Winkel verstanden, die weder orthogonal bzw. normal noch parallel zur Längserstreckung der Fäden verlaufen. Als Längserstreckung der Fäden wird deren Erstreckung im gestreckten Zustand verstanden (siehe Streitpatent Abs. [0009]).
62
Frei auskragend bedeutet dabei, dass die Enden frei hinausstehen, ein Ende der Faser muss entgegen der der Trägerschicht abgewandten Seite ausgerichtet sein. Nach dem Wortlaut des Anspruchs 1 muss dies zumindest für einige der Fäden erfüllt sein, lt. Streitpatent günstiger Weise zwischen 80% und 90% (siehe Streitpatent Abs. [0009]). Der Anspruch schreibt jedoch keine Mehrheit (> 50%) vor, es genügen auch einige [wenige] Fasern.
63
Nach der Beschreibung soll durch diese frei auskragenden Enden eine Art Rasierklingeneffekt erreicht werden, der die Entfernung von Schmutzpartikeln und/oder störendem biologischen, insbesondere vom Körper selbst produzierten Material aus der Wunde besonders effektiv machen soll, wobei diese beabsichtigte Wirkung verstärkt werden würde, wenn die Enden bzw. die Endflächen schräg zur Längserstreckung der Fäden verlaufen (vgl. Streitpatent Abs. [0009]).
64
Die Feinheit der Fasern soll nach Merkmal 1.2.4.2 zwischen 0,5 und 20 dtex liegen.
65
Die Wundreinigungseinrichtung zeichnet sich weiter dadurch aus, dass das Wundreinigungstuch steril verpackt ist [Merkmal 2]. Diese Verpackung soll vorzugsweise luftdicht verschlossen sein. Es ist daher auch möglich, dass mit der Zeit Luft in die Verpackung gelangt und daher ein (dauerhaft) steriles Verpacken der Wundreinigungseinrichtung nicht gegeben ist.
66
Durch die Verpackung eines Medizinproduktes soll eine Kontamination durch Mikroorganismen vor der Anwendung verhindert werden. Die Verpackung kann nach der Beschreibung z. B. als Kunststoffverpackung bzw. Folienverpackung ausgeführt sein, es kann sich z. B. um einen zweischichtigen Aufbau handeln (vgl. Fig.6). Es ist auch die Verwendung von anderen, beim Stand der Technik an sich bekannten, sterilisierten Verpackungen möglich (vgl. Streitpatent Abs. [0031]).
67
II. Zum Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit
68
Die Klage ist zulässig und auch begründet, da der Gegenstand des Streitpatents im Umfang der angegriffenen Ansprüche (Hauptantrag) gemäß Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a) EPÜ nicht patentfähig ist.
69
Soweit das Streitpatent gemäß Hilfsanträgen 1 bis 6 beschränkt verteidigt wird, erweist sich die danach jeweils verteidigte Fassung von Patentanspruch 1 als ein therapeutisches Verfahren und kann schon deshalb nicht zur (teilweisen) Klageabweisung führen.
1.
70
Die Vorrichtung nach dem erteilen Anspruch 1 ergibt sich in naheliegender Weise aus der Kombination der Druckschriften NK5/NK5a und NK6.
71
Die NK5/NK5a betrifft ein dreischichtiges Tuch zur Wundauflage („wound dressing“) mit der Eigenschaft zum Absorbieren von Wundexsudaten (vgl. NK5a Abs. [0001]: „The present invention relates to a wound dressing having excellent ability to absorb exudates from wounds and prevent bandage leakage and wound maceration.“). Dieses Tuch ist aufgrund dieser Fähigkeit zur Reinigung von Wunden geeignet und kann – analog zu Kompressen – als Wundreinigungseinrichtung verwendet werden (vgl. NK5a Abs. [0041]: „When fibrin-like substances were removed, very good granulation tissue was observed, and the formation of the epidermis due to proliferation of epidermal cells from the periphery of the wound was also good.“) [= Merkmal 1]. Mehrfache Verwendungsalternativen sind darüber hinaus dem Fachmann aufgrund seines Fachwissens geläufig (vgl. exemplarisch auch NK6 Abs. [0093]: „Web 1 may be used for a wide variety of applications, including … various wiper sheets such as wipers for homes, services and medical treatment, …. , base cloth for adhesive plaster, …. . Other uses include utilizing web 1 as a wipe for personal cleansing or hygiene, …“). Da in Wundexsudaten avitales Gewebe enthalten ist, kann mit dem Tuch auch ein Débridement durchgeführt werden.
72
Das Tuch der NK5/NK5a besteht aus einer Polyurethan-Schicht (polyurethane layer 11) an der wundabgewandten Seite, einer Vliesstoff-Schicht (nonwoven fabric layer 12) aus hydrophoben und superabsorbierenden Fasern und einer wundzugewandten Vliesstoff-Schicht (nonwoven fabric layer 13) aus hydrophoben Fasern (vgl. NK5a Abs. [0009]: „That is, the nonwoven fabric layer 12 made of hydrophobic fiber and superabsorbent fiber …“, [0020]: „In the wound dressing of the present invention, a polyurethane layer 11 having excellent moisture permeability is laminated as a surface material on the opposite side (outside) contacting the wound surface of the nonwoven fabric layer 12 composed of hydrophobic fibers and superabsorbent fibers.“, [0019]: „The purpose of the nonwoven fabric layer 13 is to improve releasability from the wound surface, …“). Die Kernschicht (nonwoven fabric layer 12) entspricht der Trägerschicht gemäß Merkmal 1.1.
73
Die wundzugewandte Vliesschicht bildet einen an der Trägerschicht angeordneten und von dieser abstehenden Flor [= Merkmal 1.2.4] aus hydrophoben Fasern (vgl. NK5a Abs. [0015]: „Since the nonwoven fabric layer 13 is composed of hydrophobic fibers, when the nonwoven fabric layer 13 made of hydrophobic fibers is affixed to the exudate from the wound when the nonwoven fabric layer 13 is attached so as to be in contact with the wound surface.“]. Beispiele für das hydrophobe Fasermaterial, sind Polyester, Polypropylen, Polyäthylen, Nylon, thermoplastisches Elastomer und ähnliches, also synthetische Fasern (vgl. ŃK5a Abs. [0016]) [= Merkmale 1.2 und 1.2.1].
74
In der NK5a ist weiter angegeben, dass eine Vliesschicht mit unterschiedlichen Verfahren hergestellt werden kann, beispielsweise mittels „needle punching“ (vgl. NK5a Abs. [0011]: „As a method for producing the nonwoven fabric, it can be produced by a known method, for example, the following method. … A needle punching method which pierces a web of the same type as dry type with a stabbed needle and mechanically entangles fibers.“). Der Fachmann weiß aufgrund seines Fachwissens, dass dabei Fasern mit frei auskragenden Enden entstehen [= Merkmal 1.2.2].
75
Im Übrigen kann für den Nachweis der frei auskragenden Enden auch die NK6 herangezogen werden, die ein gattungsgemäßes Wundreinigungstuch aus synthetischen Fasern mit vereinzelten losen Fäden mit spitz zulaufende Enden aufweist (vgl. NK6 Fig.12), wobei die Schicht analog zum „Needle-punching“ nach der NK5a durch Herausziehen von einzelnen Fäden/Fasern entsteht (vgl. NK6 Abs. [0039]: „Tufts are formed by urging fibers out-of-plane in the z-direction at discrete, localized, portions of first precursor web 20. The urging out-of-plane can be due to fiber displacement, i. e., the fiber is able to move relative to other fibers and be “pulled,” so to speak, out-of-plane.“).
76
Auch bei den herkömmlichen Schneidtechniken entstehen automatisch frei auskragende Fasern mit schrägen Enden. Bei Verwendung dieser Technik gelangt der Fachmann ebenfalls zum Merkmal 1.2.3., ohne erfinderisch tätig zu werden.
77
Die Fäden der Vliesschicht (13) nach der NK5a weisen eine Feinheit zwischen 3,3 und 5,56 dtex auf. Dies ergibt sich aus den Angaben in Abs. [0016]: „The thickness of the fibers constituting the nonwoven fabric layer 13 is preferably about 0.3 to 5 d, more preferably about 0.5 to 3 d.“) und der Umrechnung: 1tex = 9 den und 1dtex = 0,1tex. Dieser Bereich liegt zwischen 0,5 und 20 dtex, das Merkmal 1.2.4.2 ist damit in der NK5a offenbart.
78
Entgegen der Ansicht der Beklagten folgt bei der Annahme einer Kernschicht zwischen 1 und 20 mm (vgl. NK5a Abs. [0013]) nicht, dass dadurch ersichtlich eine Schichtdicke von deutlich weniger als 1 mm angesprochen werde.
79
Bezüglich der Dicke der wundzugewandten Vliesschicht (13) gibt die NK5a lediglich an, dass die Schicht so dünn wie möglich sein soll (vgl. NK5a Abs. [0019]: „… and it is preferable that the nonwoven fabric layer 13 be as thin as possible in order to promptly pass the exudate from the wound surface.“).
80
Die Schichtdicke wird der Fachmann derart wählen, dass möglichst viel Wundexsudat bei möglichst geringer Dicke absorbiert werden kann, insbesondere da in der NK5a auf die Notwendigkeit einer hohen Absorption von Exsudat und die Rückhaltefähigkeit hingewiesen wird (vgl. NK5a Abs. [0005]: „For example, the wound dressing must be highly absorbent to remove exudates from the wound surface and have a high liquid uptake rate. And, it is necessary to prevent the absorbed liquid from leaking out of the bandage or contaminating the bedding.“).
81
Zwar soll das Wundexsudat im Wesentlichen in der Kernschicht (12) absorbiert werden, jedoch stellt sich selbstverständlich auch für die direkt an der Wunde anliegende Schicht (13) die Aufgabe, möglichst viel Wundexsudat bei möglichst geringer Dicke zu absorbieren und dieses an die Schicht (12) weiterzuleiten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die wundzugewandte Schicht (13) ein leichtes Lösen des Verbands erreichen soll. Als Ersatz für eine Polyurethan-Folie soll die Faserschicht (13) ebenfalls eine große Menge an Wundexsudat absorbieren können (vgl. B4 Abs. [0015]: „Moreover, since the denseness of the nonwoven fabric layer 13 can be easily be adjusted when forming the nonwoven fabric layer, the nonwoven fabric layer 13 is characterized in that it saves the trouble of providing a slit or forming an opening to absorb a large amount of exudate from the wound surface as in the case of attaching a polyurethane film.“).
82
Als Ausgangspunkt für die Schichtdicke wird der Fachmann einen Größenbereich wie für die Trägerschicht wählen (1 bis 20 mm) oder sich nach weiterem Stand der Technik umsehen. In der ersten Variante, die sich aufdrängt, da beide Schichten mit demselben Verfahren hergestellt sind, gelangt der Fachmann bereits zu einer Florhöhe in der Größenordnung von Merkmal 1.2.4.1. Er könnte auch die NK6 heranziehen. Das gattungsgemäße Tuch nach der NK6 besitzt beispielsweise eine Faserlänge von ungefähr 2 bis 8 cm für die langen Fasern und ca. 1 cm für die kürzeren Fasern (vgl. NK6 Abs. [0040]: „An exemplary mixture of fiber lengths can include fibers of approximately 2 to 8 centimeters for the longer fibers and less than about 1 centimeter for the shorter fibers.“). Für die in Fig.3 dargestellten Büschel ergibt sich damit ebenfalls eine Florhöhe im einstelligen cm-Bereich, also im Bereich von Merkmal 1.2.4.1. Darüber hinaus gibt die NK6 an, dass die Florhöhe beliebig variiert werden kann (vgl. NK6 Abs. [0092]: „In general, depending on the elongation properties of the first precursor web 20, the dimensions of apparatus 100 can be varied to produce a web 1 having a wide range of dimensions associated with tufts 6, including the height h (as shown in FIG. 3), …“).
83
Die sterile Verpackung wird der Fachmann – wenn es nicht bereits als Standardrepertoire angesehen wird – aufgrund der Anforderung einer keimfreien und schnell handhabbaren Behandlung von Wunden selbstverständlich vorsehen, ohne dabei erfinderisch tätig zu werden [= Merkmal 2].
84
Insgesamt ergibt sich somit der Gegenstand nach Anspruch 1 in naheliegender Weise ausgehend von der NK5/NK5a zusammen mit dem Fachwissen bzw. der NK6.
2.
85
Die Ausführungen zu Anspruch 1 treffen entsprechend auch auf den Verwendungsanspruch nach Patentanspruch 11 zu.
86
Die Verwendung von synthetischen Fasern zur Herstellung einer Wundreinigungseinrichtung oder eines Wundreinigungstuches ist ebenfalls in den Druckschriften NK5a/NK5a und NK6 offenbart. Die wundzugewandte Vliesstoff-Schicht (nonwoven fabric layer 13) besteht aus einem hydrophoben Fasermaterial aus Polyester, Polypropylen, Polyäthylen, Nylon, thermoplastisches Elastomer und ähnliches, also synthetischen Fasern (vgl. ŃK5a Abs. [0016]). Auch die Fäden des Tuchs der NK6 bestehen aus synthetischen Kunststofffasern (vgl. NK6 Abs. [0029]: „The constituent fibers of nonwoven precursor web 20 or 21 can be comprised of polymers such as polyethylene, polypropylene, polyester, and blends thereof.“).
3.
87
Die angegriffenen abhängigen Unteransprüche teilen ohne weitere Sachprüfung das Schicksal des Hauptanspruchs.
88
Da die Beklagte ihre Rechtsverteidigung nicht auf die angegriffenen abhängigen Unteransprüche in einer Weise gerichtet hat, dass erkennbar ist, dass sie diese isoliert verteidigten will, besteht keine Veranlassung zur sachlichen Überprüfung (st. Rspr. BGH, Beschluss vom 23. August 2016 – X ZR 81/14, GRUR 2016, 1143 – Photokatalytische Titandioxidschicht, Urteil vom 15. Dezember 2015 – X ZR 111/13, GRUR 2016, 365 –Telekommunikationsverbindung; Urteil vom 13. September 2016 – X ZR 64/14 GRUR 2017, 57 – Datengenerator).
89
Die Beklagte hat vielmehr nichts dazu vorgetragen, dass sie in den angegriffenen abhängigen Unteransprüchen einen eigenen erfinderischen Gehalt sieht und auch nicht dargelegt, dass diese – im Unterschied zu nebengeordneten Ansprüchen mit eigenständigem Erfindungsgegenstand – erfinderischen Gehalt besitzen.
90
III. Zum Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit der Hilfsanträge
91
Die Gegenstände der Ansprüche gemäß den Hilfsanträgen stellen entgegen der Annahme der Beklagten therapeutische Verfahren dar und sind damit vom Patentschutz ausgeschlossen, Artikel II § 6 Absatz 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. a) EPÜ i. V. m. Art. 53 Buchst. c) EPÜ.
1.
92
Jede hilfsweise verteidigte Anspruchsfassung enthält nur einen einzigen Patentanspruch.
93
Mit dem jeweiligen Patentanspruch gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 3 wird im Hinblick auf die Beschreibung in Abschnitt [0011] die Verwendung einer Wundreinigungseinrichtung bzw. eines Wundreinigungstuchs mit den Merkmalen des unabhängigen Patentanspruchs 1 in der vom Europäischen Patentamt aufrechterhaltenen Fassung zum Débridement beansprucht.
94
Mit Hilfsantrag 4 wird unter Bezugnahme auf die Beschreibung in Abschnitt [0011] ergänzend angegeben, dass das Wundreinigungstuch in der beanspruchten Verwendung die Eigenschaft hat, dass das beim Débridement zu entfernende Material aktiv in den Bereich zwischen die von der Trägerschicht abstehenden Fäden aufgenommen und dort dann auch festgehalten wird, so dass bereits entferntes Biomaterial nicht versehentlich wieder in die Wunde zurückgelangt.
95
In den nachträglich neu gefassten Patentansprüchen gemäß den Hilfsanträgen 5 und 6 ist angegeben, dass es sich bei den in der beanspruchten Verwendung der Entfernung vom Körper selbst gebildeten Substanzen um Fibrinbeläge, abgestorbenes Gewebe der Oberhaut und/oder Beläge aus abgestorbenem Gewebe, also nicht nur um Flüssigkeiten handelt. Ferner wird angegeben, dass diese Substanzen zwischen den Fäden des Wundreinigungstuchs gehalten und nicht mehr in die Wunde abgegeben werden.
96
Mit dem Hilfsantrag 7 wird unter Bezugnahme auf die Beschreibung in Abschnitt [0010] angegeben, dass das Wundreinigungstuch in der beanspruchten Verwendung die Eigenschaft hat, dass störendes Biomaterial bzw. Humanmaterial aus der Wunde effektiv entfernt und anschließend zwischen den Fäden des Wundreinigungstuchs gehalten und nicht mehr in die Wunde zurück auf die Haut abgegeben wird.
97
Mit den Hilfsanträgen 8 und 9 wird im Hinblick auf die Erläuterungen in Abschnitt [0011] der Beschreibung die Verwendung einer Wundreinigungseinrichtung bzw. Wundreinigungstuchs mit den Merkmalen des unabhängigen Patentanspruchs 1 in der vom Europäischen Patentamt aufrechterhaltenen Fassung zur Behandlung gegen eine aktuelle Besiedlung der Wunde mit Bakterien in Form eines flüssigen Biofilms, welcher zur Kolonisation oder lokalen Infektion der Wunde führt, beansprucht.
2.
98
Die Verwendung einer Wundreinigungseinrichtung bzw. eines Wundreinigungstuchs gemäß jeweiligem Anspruch in der Fassung der Hilfsanträge ist therapeutischer Natur.
2.1
99
Bei der beanspruchten Verwendung der Wundreinigungseinrichtung bzw. des Wundreinigungstuchs zum Débridement (Hilfsanträge 1 bis 4), zur Wundbettpräparation (Hilfsanträge 5 und 6), zur Beseitigung von störendem Biomaterial (Hilfsantrag 7) oder zur Behandlung gegen eine aktuelle Besiedelung der Wunde mit Bakterien (Hilfsanträge 8 und 9) handelt es sich um ein therapeutisches Verfahren zur Behandlung des menschlichen Körpers, das der Verbesserung des menschlichen Lebens dient. Es hat die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit bzw. die Beeinflussung von Funktionsstörungen oder Funktionsschwächen zum Ziel. So sollen nach der Beschreibung bei der Entfernung von störendem Biomaterial die jungen sprießenden neuen Hautinseln, also das Granulationsgewebe, bis zur frühen Epithelialisierung möglichst unbeeinträchtigt bewahrt werden und nur die störenden Substanzen entfernt werden (vgl. Streitpatent Abs. [0003]). Weiter wird im Streitpatent darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Wundreinigungstuch um ein sterilisiertes Produkt und/oder Medizinprodukt handelt, welches die Vorgaben der einschlägigen Normen und Gesetze für Medizinprodukte erfüllt.
100
Die Wundreinigung ist als therapeutische Behandlung anzusehen.
101
Demzufolge sind die geltenden Ansprüche gemäß den Hilfsanträgen auf eine therapeutische Behandlung des menschlichen Körpers gerichtet, die am menschlichen Körper vorgenommen wird (Art. 53 Buchst. c) EPÜ).
102
Dies ist auch dem Streitpatent zu entnehmen (vgl. Streitpatent Abs. [0019]: „Bei den genannten Verwendungen bzw. spezifischen Anwendungen steht die medizinische Anwendung durch den Arzt, also insbesondere die chirurgische oder therapeutische Behandlung, von, insbesondere akuten oder chronischen, Wunden im Vordergrund.“).
103
Der jeweilige Patentanspruch nach den Hilfsanträgen 1 bis 9 ist daher aufgrund des Patentausschlusses nicht zulässig.
2.2.
104
Wie dargelegt ist im vorliegenden Fall der Gegenstand des jeweiligen Anspruchs in der Fassung aller Hilfsanträge als ein Verfahrensanspruch anzusehen, der nach Art. 53 Buchst. c) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Gegenstand des Anspruchs in der Fassung der Hilfsanträge nicht als Stoffanspruch anzusehen, für den nach Art. 54 Abs. 5 EPÜ ein Patentschutz in Betracht kommen kann, denn Schwerpunkt der in Anspruch 1 beanspruchten Erfindung ist das therapeutische Verfahren mit Hilfe eines Medizinprodukts und nicht die Verwendung eines chemischen Stoffes (chemisches Element oder chemische Verbindung) für den therapeutischen Zweck.
2.2.1
105
Ein Patentanspruch, der eine neue Verwendung eines Stoffes betrifft, hat die Eignung eines bekannten Stoffs für einen bestimmten medizinischen Einsatzzweck und damit letztlich eine dem Stoff innewohnende Eigenschaft zum Gegenstand (BGH X ZB 7/03 – Arzneimittelgebrauchsmuster). Dies entspricht in der Sache einem zweckgebundenen Stoffschutz, wie ihn Art. 54 Abs. 5 EPÜ auch für weitere Indikationen ausdrücklich vorsehen, und zwar unabhängig davon, ob der Patentanspruch seinem Wortlaut nach auf die Verwendung des Medikaments, auf dessen Herrichtung zu einem bestimmten Verwendungszweck oder ausdrücklich auf zweckgebundenen Stoffschutz gerichtet ist (BGH – X ZB 5/13 – Kollagenase I).
106
Patentschutz kommt für jede spezifische Anwendung eines Stoffs in einem Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers in Betracht, sofern diese neu und erfinderisch ist. Jedenfalls dann, wenn eine im Stand der Technik nicht bekannte und dem Fachmann auch nicht nahegelegte Art der Anwendung die Aussicht eröffnet, die Wirkungen des Stoffs zu verbessern oder unter zuvor nicht für möglich gehaltenen Einsatzbedingungen herbeizuführen, entspricht es der Zielsetzung des Gesetzes, Patentschutz zu gewähren, sofern auch die sonstigen Patentierungs-voraussetzungen vorliegen (BGH, Beschluss vom 25. Februar 2014 – X ZB 5/13 –, BGHZ 200, 229 – 242 – Kollagenase I).
2.2.2
107
Eine Übertragung der für Stoffe oder Stoffgemische verbundenen Ausnahmeregelung auf die Verwendung eines Gerätes für die Nutzung einer für medizinische Zwecke einsetzbaren Vorrichtung ist durch die BGH-Entscheidung Arzneimittelgebrauchsmuster nicht gedeckt (siehe auch T 1314/05).
108
Vielmehr steht einer Ausdehnung der genannten Ausnahmeregelung für die „zweite medizinische Indikation“ auf die Verwendung medizinisch genutzter Vorrichtungen das allgemeine Rechtsprinzip entgegen, dass gesetzliche Ausnahmetatbestände eng auszulegen sind. Der Gesetzgeber hat den Ausnahmetatbestand der medizinischen Indikation nach Art. 53 Buchst. c) EPÜ ausdrücklich auf Stoffe oder Stoffgemische beschränkt.
109
Die Rechtsprechung des BGH zu „Arzneimittelgebrauchsmuster“ und „Kollagenase I“ ist vorliegend schon deshalb nicht anwendbar, da es sich bei Art. 53 Buchst. c) EPÜ um eine Sonderform zum Erlangen der Neuheit oder erfinderischen Tätigkeit im Wege des Stoffschutzes für Arzneimittel handelt. Erst durch die mittels Art. 53 Buchst. c) EPÜ eröffnete Möglichkeit wird ein bereits bekannter Stoff – bei seiner neuen Verwendung als Arzneimittel – als Stoff an sich neu. Dies führt dann zu Patentansprüchen, die lauten „Stoff X zur Verwendung als Arzneimittel …“ (erste medizinische Indikation) oder „Stoff X zur Verwendung bei der Behandlung der Krankheit Y …“ (zweite medizinische Indikation). Auf diese spezifische Gestaltung von Patentansprüchen geht der BGH in seiner Entscheidung Arznei-mittelgebrauchsmuster für das Gebrauchsmusterrecht ein. Daraus aber eine Übertragbarkeit auf beliebige Erzeugnisse abzuleiten geht über die Ausnahmeregelung nach Art. 53 Buchst. c) EPÜ hinaus, auch wenn es sich um eine (medizinische) Vorrichtung zur Wundreinigung handelt.
110
Die Verwendung im vorliegenden Fall ist daher nicht als neue Verwendung oder Eignung eines Stoffes oder Stoffgemisches aufzufassen. Vielmehr wird eine medizinisch verwendbare Vorrichtung – hier eine Wundreinigungseinrichtung – für ein therapeutisches Verfahren (Débridement) benutzt. Die Erfindung betrifft nicht die neuartige Verwendung eines (Wirk-)Stoffes, sondern die Nutzung einer therapeutisch verwendbaren Vorrichtung.
2.3
111
Soweit die Beklagte sich zur Zulässigkeit der in den Hilfsanträgen formulierten Verwendungsansprüche auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19. November 1991 – X ZR 9/89 – Heliumeinspeisung, beruft, vermag der Senat die Bedeutung der Entscheidung für das hiesige Verfahren nicht zu erkennen. Entgegen der Annahme der Beklagten äußert sich der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung zu Fragen, ob die Herrichtung von Gegenständen für die Benutzung eines patentierten Verfahrens – von den Fällen der Verwendungsansprüche abgesehen – bereits als dessen Gebrauch angesehen werden kann, und, ob Vorbereitungshandlungen – außer bei Verwendungsansprüchen – als Gebrauch eines geschützten Verfahrens angesehen werden können. Dabei stand eine von den Patentansprüchen abweichende Benutzungshandlung in Streit, und der Patentanspruch 1, dessen Verwirklichung in allen weiteren Patentansprüchen vorausgesetzt wird, war nicht als Verwendungsanspruch formuliert. Dabei ging es letztlich darum, ob durch entsprechende Fassung der Patentansprüche dafür Sorge getragen ist, dass gegebenenfalls ein schon in die Vorbereitungsphase hineinverlegter Patentschutz gewährt wird, sofern das nach dem Gegenstand der jeweiligen Erfindung gerechtfertigt ist.
B.
112
Nebenentscheidungen
113
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.