Patent- und Markenrecht

Patentbeschwerdeverfahren – “Vorrichtungen, Verfahren und Systeme für eine Digitalkonversationsmanagementplattform” – zur Patentfähigkeit

Aktenzeichen  17 W (pat) 28/19

Datum:
1.8.2019
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Gerichtsort:
München
Dokumenttyp:
Beschluss
Normen:
§ 1 PatG
§ 4 PatG
§ 38 PatG
Spruchkörper:
17. Senat

Tenor

In der Beschwerdesache
betreffend die Patentanmeldung 11 2011 106 152.8

hat der 17. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 1. August 2019 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dipl.-Phys. Dr. Morawek, der Richterin Eder, des Richters Dipl.-Ing. Baumgardt und der Richterin Dipl.-Phys. Univ. Zimmerer
beschlossen:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Gründe

I.
1
Die vorliegende Patentanmeldung entstand durch Teilung aus der Stammanmeldung 11 2011 100 329.3 im Beschwerdeverfahren gemäß Teilungserklärung vom 24. April 2018.
2
Die Stammanmeldung ist eine PCT-Anmeldung in nationaler Phase, welche als WO 2011 / 89 450 A2 in englischer Sprache und als DE 11 2011 100 329 T5 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde. Ihr PCT-Anmeldetag ist der 25. Januar 2011, und sie nimmt die Priorität zweier US-Voranmeldungen vom 25. Januar 2010 und vom 30. Juni 2010 in Anspruch. Eine Beschwerde der Anmelderin gegen die Zurückweisung der Stammanmeldung hatte keinen Erfolg. Der Senat stellte im Verfahren 17 W (pat) 46/16 fest, dass die Vorrichtung des damaligen Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag und nach den beiden Hilfsanträgen gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 3 i. V. m. Abs. 4 PatG vom Patentschutz ausgeschlossen sei.
3
Während des Beschwerdeverfahrens in der Stammanmeldung erklärte die Anmelderin rechtswirksam deren Teilung. Die damit vorliegende Teilanmeldung trägt unverändert die Bezeichnung
4
„Vorrichtungen, Verfahren und Systeme für eine Digitalkonversationsmanagementplattform“.
5
Diese Teilanmeldung wurde vom Senat mit Beschluss vom 29. Oktober 2018 (17 W (pat) 32/18) „zur Prüfung und Entscheidung“ an das Deutsche Patent- und Markenamt zurückverwiesen. Dort beschloss die Prüfungsstelle für Klasse G 06 Q des Deutschen Patent- und Markenamts in der Anhörung vom 8. Januar 2019 ihre Zurückweisung mit der Begründung, dass der Anspruch 1 mangels erfinderischer Tätigkeit seines Gegenstands nicht gewährbar sei; denn der Gegenstand des Anspruchs 1 ergebe sich mit seinen Merkmalen – soweit sie technisch zur Lösung eines konkreten technischen Problems beitrügen und somit bei der Prüfung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit in den Blick zu nehmen seien (unter Verweis auf BGH X ZR 47/07 vom 26.10.2010 – Wiedergabe topographischer Informationen, m. w. N.) – in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik.
6
Gegen diesen Zurückweisungsbeschluss ist die Beschwerde der Anmelderin gerichtet. Sie hat im Beschwerdeverfahren auf eine vorläufige Stellungnahme des Senats hin ein völlig neues Patentbegehren eingereicht und dieses in der mündlichen Verhandlung um zwei Hilfsanträge ergänzt. Dazu hat sie vorgetragen und ausführlich erläutert, dass die verschiedenen im Laufe des Verfahrens vorgebrachten Gründe gegen eine Patenterteilung nicht vorlägen.
7
Die Anmelderin stellt den Antrag,
8
den angegriffenen Beschluss aufzuheben und das nachgesuchte Patent mit folgenden Unterlagen zu erteilen:
9
– gemäß Hauptantrag mit
10
Patentansprüchen 1 bis 14 vom 15. Juli 2019,
11
Beschreibung Seiten 1 bis 118 und 62 Blatt Zeichnungen mit Figuren 1 bis 18, jeweils vom 24. April 2018;
12
– gemäß Hilfsantrag 1 mit
13
Patentansprüchen 1 bis 14, überreicht in der mündlichen Verhandlung, Beschreibung und Zeichnungen wie Hauptantrag;
14
– gemäß Hilfsantrag 2 mit
15
Patentansprüchen 1 bis 14, überreicht in der mündlichen Verhandlung, Beschreibung und Zeichnungen wie Hauptantrag.
16
Ferner regt sie gemäß ihrer Beschwerdebegründung vom 4. März 2019 die Zulassung der Rechtsbeschwerde an, falls seitens des erkennenden 17. Senats in Zweifel gestellt werde, dass es sich bei den vorliegend beanspruchten KI-gesteuerten Dialogverarbeitungsagenten (KI-Chatbots) um technische Mittel auf technischem Gebiet handelt oder dass durch die Gegenstände gemäß Hauptantrag oder den Hilfsanträgen ein technisches Problem mit technischen Mitteln gelöst wird.
17
Schließlich beantragt sie eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr mit der Begründung, dass die Prüfungsstelle ihr im Verlaufe der Anhörung zu bestimmten (in Schriftsatz vom 4. März 2019 detailliert aufgeführten) Argumenten kein rechtliches Gehör gewährt habe, die Begründung des angefochtenen Zurückweisungsbeschlusses völlig neben der Sache liege, die Gründe für die Zurückweisung nicht nachvollziehbar seien (weil entscheidende Tatsachen lediglich behauptet, aber nicht belegt wurden) und die Prüfungsstelle mit ihrer Begründung von der ständigen Rechtsprechung abweiche.
18
Gemäß
Hauptantrag
lauten der geltende Patentanspruch 1, mit der Gliederung der Anmelderin, und der ihm nebengeordnete Patentanspruch 14 (mit ähnlicher Gliederung):
19
M1 1. Digitales System zur Konversationserzeugung, umfassend:
20
M2 Mittel (120) zum Instanziieren eines Konversationsagenten (130) mit künstlicher Intelligenz;
21
M3 Mittel (120) zum Identifizieren eines individuellen Konversationsziels (101);
22
M4 Mittel (120) zum Initiieren einer Konversation mit dem individuellen Ziel (101) durch den Konversationsagenten (130) mit künstlicher Intelligenz durch Bereitstellen eines ersten Teils eines Konversationsdialogs für das individuelle Ziel (101);
23
M5 Mittel (120) zum Aufzeichnen einer Antwort des individuellen Ziels auf den ersten Teil des Konversationsdialogs;
24
M6 Mittel (120) zum Antworten auf die Antwort des individuellen Ziels (101) mit einem nächsten kontextbezogenen Teil des Konversationsdialogs;
25
M7 Mittel (120) zum Initiieren einer Dialoganalytik, um Ziel-Agenten-Interaktionen zu steuern;
26
M8 Mittel (120) zum Bestimmen eines Dialogpfades eines Dialogs;
27
M9 Mittel (120) zum Bestimmen von Dialogparametern auf Grundlage des Dialogpfades;
28
M10 wobei die Dialogparameter eine Anzahl von Dialogaktionen im Dialogpfad umfassen sowie ein Zeitbedarf für jede Dialogaktion;
29
M11 Mittel (120) zum Aggregieren von Dialogpfaden einer Vielzahl individueller Ziele (101); und
30
M12 Mittel (120) zum Erstellen einer Vielzahl virtueller Agentenapplikationen (130);
31
M13 wobei die virtuellen Agentenapplikationen (130) eine Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache für eine sinnvolle Konversation mit Wissenserwerbern inklusive Entscheidungsergebnissen verwenden; und
32
M14 wobei die virtuellen Agentenapplikationen (130) ihren eigenen Entscheidungsbaum mit gescriptetem Dialog aufweisen, der mit anderen virtuellen Agentenapplikationen (130) dynamisch verlinkt werden kann, wodurch ein Wissenserwerber beim Erreichen eines spezifischen relevanten gezielten Ergebnisses unterstützt wird.
33
V1 14. Digitales Verfahren zur Konversationserzeugung, umfassend:
34
V2 Instanziieren eines Konversationsagenten (130) mit künstlicher Intelligenz;
35
V3 Identifizieren eines individuellen Konversationsziels (101);
36
V4 Initiieren einer Konversation mit dem individuellen Ziel (101) durch den Konversationsagenten (130) mit künstlicher Intelligenz durch Bereitstellen eines ersten Teils eines Konversationsdialogs für das individuelle Ziel (101);
37
V5 Aufzeichnen einer Antwort des individuellen Ziels auf den ersten Teil des Konversationsdialogs;
38
V6 Antworten auf die Antwort des individuellen Ziels (101) mit einem nächsten kontextbezogenen Teil des Konversationsdialogs;
39
V7 Initiieren einer Dialoganalytik, um Ziel-Agenten-Interaktionen zu steuern;
40
V8 Bestimmen eines Dialogpfades eines Dialogs; und
41
V9 Bestimmen von Dialogparametern auf Grundlage des Dialogpfades,
42
V10 wobei die Dialogparameter eine Anzahl von Dialogaktionen im Dialogpfad umfassen sowie ein Zeitbedarf für jede Dialogaktion;
43
V11 Aggregieren von Dialogpfaden einer Vielzahl individueller Ziele (101);
44
V12 Erstellen einer Vielzahl virtueller Agentenapplikationen (130);
45
V13 wobei die virtuellen Agentenapplikationen (130) eine Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache für eine sinnvolle Konversation mit Wissenserwerbern inklusive Entscheidungsergebnissen verwenden; und
46
V14 wobei die virtuellen Agentenapplikationen (130) ihren eigenen Entscheidungsbaum mit gescriptetem Dialog aufweisen, der mit anderen virtuellen Agentenapplikationen (130) dynamisch verlinkt werden kann, wodurch ein Wissenserwerber beim Erreichen eines spezifischen relevanten gezielten Ergebnisses unterstützt wird.
47
Gemäß
Hilfsantrag 1
lautet der Verfahrensanspruch 14, mit einer Markierung der Unterschiede zum Anspruch 14 des Hauptantrags:
48
V1 14. Digitales Verfahren zur Konversationserzeugung, umfassend:
49
V2‘ Instanziieren eines Konversationsagenten (130) mit künstlicher Intelligenz, der eine Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache für eine sinnvolle Konversation verwendet;
50
V3 Identifizieren eines individuellen Konversationsziels (101);
51
V4 Initiieren einer Konversation mit dem individuellen Ziel (101) durch den Konversationsagenten (130) mit künstlicher Intelligenz durch Bereitstellen eines ersten Teils eines Konversationsdialogs für das individuelle Ziel (101);
52
V5 Aufzeichnen einer Antwort des individuellen Ziels auf den ersten Teil des Konversationsdialogs;
53
V6 Antworten auf die Antwort des individuellen Ziels (101) mit einem nächsten kontextbezogenen Teil des Konversationsdialogs;
54
V7 Initiieren einer Dialoganalytik, um Ziel-Agenten-Interaktionen zu steuern;
55
V8 Bestimmen eines Dialogpfades eines Dialogs; und
56
V9 Bestimmen von Dialogparametern auf Grundlage des Dialogpfades,
57
V10 wobei die Dialogparameter eine Anzahl von Dialogaktionen im Dialogpfad umfassen sowie ein Zeitbedarf für jede Dialogaktion;
58
V11 Aggregieren von Dialogpfaden einer Vielzahl individueller Ziele (101);
59
V12‘ Erstellen einer Vielzahl virtueller Agentenapplikationen
weiterer Konversationsagenten (130);
60
V13‘ wobei die virtuellen Agentenapplikationen
weiteren Konversationsagenten (130) eine Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache für eine sinnvolle Konversation mit Wissenserwerbern inklusive Entscheidungsergebnissen verwenden;
61
VHi1
wobei die Beantwortungsleistung eines Konversationsagenten (130) über mehrere Konversationsdialoge mit mehreren individuellen Zielen (101) aufgezeichnet wird;
62
VHi2
wobei die Beantwortungsleistung des Konversationsagenten (130) mit der Beantwortungsleistung anderer Konversationsagenten (130) verglichen wird; und
63
V14‘ wobei die virtuellen Agentenapplikationen (130) ihren eigenen Entscheidungsbaum mit gescriptetem Dialog aufweisen
aufweist, der mit anderen virtuellen Agentenapplikationen
Konversationsagenten (130) basierend auf den Dialogparametern und der Beantwortungsleistung dynamisch verlinkt werden kann, wodurch ein Wissenserwerber beim Erreichen eines spezifischen relevanten gezielten Ergebnisses unterstützt wird.
64
Der Verfahrensanspruch 14 gemäß
Hilfsantrag 2
basiert auf dem Anspruch 14 des Hilfsantrags 1. Er stimmt mit diesem überein bis auf folgende zwei Änderungen: im Schritt VHi2 wurde das letzte Wort „und“ gestrichen, und nach Merkmal V14’ kommt noch folgendes Merkmal hinzu:
65
VHi3 und wobei die die Werte eines Konversations-Kl-Einheitsleistungsindex, eines Konversations-Kl-Einheitsinteraktionsleistungsindex und eines monetären Konversations-Kl-Einheitsleistungsindex auf täglicher, wöchentlicher, monatlicher und jährlicher Basis für künftige Wertschätzungen erfasst werden.
66
Zu den jeweils nebengeordneten, auf ein „Digitales System zur Konversationserzeugung“ gerichteten Ansprüchen 1 nach Hilfsantrag 1 / 2 (mit entsprechenden Änderungen) und den Unteransprüchen 2 bis 13 wird auf die Akte verwiesen.
67
Eine klare Aufgabenstellung ist in der Anmeldung nicht angegeben. Die Anmelderin hat in ihrer Eingabe vom 15. Juli 2019 ausgeführt, die beanspruchte Lehre befasse sich mit einem effektiveren und effizienteren technischen Zugang zu verfügbarer Echtzeitinformation durch eine zum Prioritätszeitpunkt der vorliegenden Anmeldung völlig neuartige technischen Ausgestaltung einer Art Suchmaschine mit künstlicher Intelligenz. Durch die vorliegende Anmeldung werde eine verbesserte sprachgesteuerte Schnittstelle zu einer weltweiten KI-basierten Wissensdatenbank (vgl. Fig. 16D) mit sehr effizienter und effektiver Informationszugangsfunktion bereitgestellt. D. h., eine auf natürlicher Sprache basierende Benutzerschnittstelle (Natural Language Processing Layer (NLPL)), ähnlich der nach dem Prioritätsdatum der vorliegenden Anmeldung implementierten Schnittstellen SIRI oder Google Assistant, könne in Verbindung mit der dynamischen Verlinkung zum schnelleren und zielgerichteteren Auffinden einer Information aus einem umfangreichen weltweiten Netz aus Millionen miteinander verbundenen Chatbots ohne Kenntnis der individuellen Dialogskripte und Entscheidungsbäume der im Netz verlinkten Chatbots eingesetzt werden. Durch einen bei der Dialoganalyse eingesetzten Maschinenlernvorgang werde sichergestellt, dass jede denkbare ungeskriptete Suchanfrage zu dem bestgeeigneten verfügbaren Chatbot der weltweiten Datenbank geleitet wird.
II.
68
Die Beschwerde wurde frist- und formgerecht eingelegt und ist auch sonst zulässig. Sie hat jedoch keinen Erfolg, zumindest weil der jeweilige Gegenstand der unabhängigen Patentansprüche 1 und 14 des Hauptantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (PatG § 4), und weil die Patentansprüche 14 der Hilfsanträge 1 und 2 eine Erweiterung gegenüber dem Inhalt der früheren Anmeldung beinhalten (PatG § 38).
69
1. Die vorliegende Patentanmeldung bezieht sich auf digitale Agenten zur Durchführung einer Konversation mit (menschlichen) Gesprächspartnern über ein Kommunikationsnetz. Solche Agenten sind z. B. unter der Bezeichnung „Chatbot“ bekannt. Sie folgen in einer einfachen Ausführungsform konkreten Dialogvorgaben („geskripteter Dialog“), wobei auch Entscheidungsverzweigungen möglich sind. Weiterentwickelte Ausführungsformen benutzen Mittel der „künstlichen Intelligenz“ (KI) und können aus früheren Gesprächsverläufen „lernen“, einen effektiveren Dialog zu führen. Die Anmeldung setzt Konversationsagenten mit künstlicher Intelligenz (KI-Dialogagenten) als bekannt voraus und macht eine Fülle von Vorschlägen zur Steuerung eines Systems mit einer Vielzahl von KI-Dialogagenten, wobei eine sog. „DCM-Plattform“ („Digital Conversation Management Platform“) im Mittelpunkt steht.
70
Die gesamte Anmeldung umfasst eine große Anzahl von Details mit unterschiedlichsten Schwerpunkten.
71
Auch in der geltenden Anspruchsfassung spiegeln sich unterschiedliche Aspekte wider. Jedenfalls sollen Dialoge von KI-Agenten aufgezeichnet und analysiert werden, so dass eine immer weiter wachsende Sammlung von bereits durchgeführten Dialogen entsteht; und es sollen neue KI-Agenten erzeugt werden, die eine Kombination aus natürlicher Sprache und geskripteter Sprache verwenden, um die Kommunikation mit menschlichen Gesprächspartnern zu verbessern, wobei diese mit anderen KI-Agenten „dynamisch verlinkt“ sein können, um einen „Wissenserwerber beim Erreichen eines spezifischen relevanten gezielten Ergebnisses“ zu unterstützen.
72
Als Fachmann, der mit der Aufgabe betraut wird, den Informationszugang für Nutzer durch Konversationsagenten mit künstlicher Intelligenz zu verbessern, sieht der Senat einen Informatiker mit Hochschulabschluss und mehrjähriger Berufserfahrung in der Entwicklung und Implementierung von intelligenten Dialog-Systemen an.
73
2. Das geltende Patentbegehren bedarf einer Auslegung.
74
2.1 Als „ursprüngliche Offenbarung“ und somit als maßgeblich für die Auslegung ist die englischsprachige PCT-Anmeldung gemäß WO 2011 / 89 450 A2 anzusehen (vgl. Busse, PatG, 8. Auflage (2016), § 34 Rn. 239 – Fußnote 574 mit Verweis auf EPA T 605/93).
75
2.2 Die Vorrichtung nach Anspruch 1 des Hauptantrags ist in zehn der vierzehn Gliederungs-Merkmale durch „Mittel zum …“ gekennzeichnet, wofür jeweils dasselbe Bezugszeichen (120) verwendet wird. Mit (120) ist in der Anmeldung die „DCM-Plattform“ („Digital Conversation Management Platform“) bezeichnet, also das Verwaltungsprogramm für KI-Dialogagenten. Die Formulierung „Mittel zum …“ macht deutlich, dass nicht ein Computer als technisches Gerät besonders ausgebildet wird, sondern seine Arbeitsweise, worauf primär der Verfahrensanspruch 14 (mit i. Ww. denselben Formulierungen wie im Vorrichtungsanspruch) gerichtet ist. Deshalb beziehen sich die folgenden Ausführungen zunächst auf das Verfahren nach Anspruch 14.
76
2.3 Das beanspruchte Verfahren umfasst gemäß Hauptantrag nach der oben angegebenen Gliederung die Merkmale V1 bis V14. Diese lassen sich in zwei Gruppen einteilen:
77
a) Die Merkmale V2 bis V11 betreffen einen einzelnen Dialog, welcher von einem instanziierten „Konversationsagenten (130) mit künstlicher Intelligenz“ (im Folgenden verkürzt: KI-Agent) mit einem „Konversationsziel (101)“ durchgeführt wird. Das „Konversationsziel“ ist dabei als der menschliche Gesprächspartner zu verstehen, der hier durch sein Kommunikationsendgerät repräsentiert wird: das Bezugszeichen 101 bezieht sich auf „Konsumentengerät(e) 101(a)-(d)“, gemäß Abs. [0036] „ein Mobiltelefon 101(a), ein Smartphone 101(b), einen Computer 101(c), ein Telefon 101(d) und/oder dgl.“.
78
Gemäß den Merkmalen V4, V5 und V6 beginnt der KI-Agent eine Konversation, indem er einen „ersten Teils eines Konversationsdialogs“ bereitstellt; er zeichnet dann die Antwort des Gesprächspartners auf und führt den Dialog mit einem nächsten Teil des Konversationsdialogs fort. Letzteres soll „kontextbezogen“ sein, also sich auf die erhaltene Antwort beziehen.
79
Um Interaktionen zwischen KI-Agent und Gesprächspartnern zu steuern (womit lediglich die Intention für die folgenden Arbeitsschritte angegeben ist – eine unmittelbare Steuerung ergibt sich aus der Anspruchsformulierung nicht) wird eine Dialog-Analyse initiiert (Merkmal V7). Dabei sollen der „Dialogpfades eines Dialogs“, also eine formale Beschreibung des Ablaufs eines Dialogs, und darauf basierend Parameter des Dialogs bestimmt werden (Merkmale V8, V9); diese Parameter sollen „eine Anzahl von Dialogaktionen im Dialogpfad“ und den Zeitbedarf für jede Dialogaktion umfassen (Merkmal V10). D. h. „ein“ Dialog wird in Form einer formalen Beschreibung erfasst und es werden ihm kennzeichnende Parameter wie die Anzahl der Dialogschritte und deren Dauer zugeordnet.
80
Schließlich sollen gemäß Merkmal V11 Dialogpfade einer Vielzahl individueller Ziele „aggregiert“ werden. Nach den Ausführungen der Anmelderin in der mündlichen Verhandlung ist darunter das Sammeln von nach zuvor beschriebener Art erfassten und parametrisierten Dialogen zu verstehen. D. h. das Verfahren der Schritte V2 bis V10 wird immer wieder durchlaufen, wodurch schließlich eine große Menge von bisher durchgeführten Dialogen als „Sammlung“ verfügbar ist.
81
b) Die Merkmale V12 bis V14 betreffen das Erstellen einer „Vielzahl virtueller Agentenapplikationen (130)“, worunter KI-Agenten nach Art desjenigen Agenten zu verstehen sind, dessen Dialog mit den Merkmalen V2 bis V6 angestoßen und mit den Merkmalen V7 bis V10 aufgezeichnet und analysiert wurde.
82
Das ist aber auch der einzige Zusammenhang zwischen den beiden Merkmalsgruppen. Die Spezifizierung der Merkmale V13 und V14 greift nicht auf die Maßnahmen oder Ergebnisse aus den Merkmalen V2 bis V11 zurück.
83
Gemäß Merkmal V13 soll ein erstellter neuer KI-Agent „eine Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache“ für eine „sinnvolle Konversation mit Wissenserwerbern inklusive Entscheidungsergebnissen“ verwenden. Und gemäß Merkmal V14 soll ein erstellter neuer KI-Agent seinen „eigenen Entscheidungsbaum mit gescriptetem Dialog aufweisen“, welcher mit anderen KI-Agenten „dynamisch verlinkt“ werden kann. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, ein Gespräch vom aktuell aktiven KI-Agenten automatisch an einen anderen KI-Agenten weiterzuleiten. Hierzu hat die Anmelderin auf Figur 16A der Anmeldung verwiesen: Dort kann der aktive KI-Agent das Gespräch weiterführen, wenn die Frage nach „Fieber“ vom menschlichen Gesprächspartner positiv beantwortet wird; falls hingegen negativ, wird das Gespräch automatisch an einen anderen KI-Agenten („Arzt-KI“) übergeben.
84
Schließlich enthält das Merkmal V14 noch die Zweckangabe, dass durch diese Maßnahmen „ein Wissenserwerber beim Erreichen eines spezifischen relevanten gezielten Ergebnisses unterstützt wird“.
85
3. Zunächst ist festzustellen, dass das geltende Patentbegehren in der Fassung gemäß Hauptantrag wie auch gemäß der Hilfsanträge 1 und 2 mehrere unterschiedliche Mängel aufweist.
86
So bestehen die Zweifel unvermindert fort, ob hier „auf technischen Überlegungen beruhende Erkenntnisse“ zugrundeliegen (vgl. BGH GRUR 2000, 498 – Logikverifikation), und inwieweit Anspruchs-Merkmale zur Lösung eines konkreten technischen Problems mit technischen Mitteln beitragen (BGH GRUR 2005, 143 – Rentabilitätsermittlung; BGH GRUR 2011, 125 – Wiedergabe topografischer Informationen; siehe den Senatsbeschluss 17 W (pat) 46/16 zur Stammanmeldung).
87
Darüber hinaus ist fraglich, ob die beanspruchte Lehre „in der Anmeldung so deutlich und vollständig“ offenbart ist, „dass ein Fachmann sie ausführen kann“ (§ 34 Abs. 4 PatG). Beispielsweise sind mehrere im geltenden Patentbegehren verwendete Begriffe in der Beschreibung kaum erläutert, oft nur an einer oder zwei Textstellen genannt, so dass es ganz allein dem Fachmann überlassen bleibt, welche Bedeutung er ihnen zumisst und welche nicht.
88
Ferner hat die Anmelderin zwar i. W. mit Erfolg nachgewiesen, wo die einzelnen Merkmale der geltenden unabhängigen Patentansprüche des Hauptantrags ursprünglich offenbart sind; dennoch bleibt offen, ob auch die vorliegend gewählte Zusammenstellung unterschiedlicher Merkmalsgruppen für den Fachmann aus den ursprünglichen Unterlagen als mögliche Ausführungsform der beanspruchten Erfindung erkennbar war (z. B. woraus hervorgeht, dass die Dialoganalytik des Merkmals V7 ff. nach der Ausgabe des zweiten Teils des Konversationsdialogs gemäß Merkmal V6 beginnt, u. a.).
89
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss jedoch hinsichtlich der gesetzlichen Patentierungsvoraussetzungen keine bestimmte Prüfungsreihenfolge eingehalten werden (siehe BGH GRUR 2004, 667 – Elektronischer Zahlungsverkehr, II. 4.; vgl. auch BGH GRUR 1991, 120 – Elastische Bandage, II. 1.).
90
Deshalb kann dahinstehen, ob diese Mängel bereits zu einer Zurückweisung der Anmeldung geführt hätten, da die Patentfähigkeit der Ansprüche in der Fassung nach dem Haupt- und den Hilfsanträgen jedenfalls aus den folgenden Gründen nicht gegeben ist.
91
4. Der Hauptantrag hat keinen Erfolg, weil das Verfahren, auf das sein Patentanspruch 14 gerichtet ist, nicht über das hinausgeht, was sich bereits vor dem Prioritätstag der Anmeldung für den Fachmann aus dem Stand der Technik ergab.
92
Von besonderer Bedeutung hierfür ist zunächst die Druckschrift
93
D3 NGUYEN, A. WOBCKE, W.: An agent-based approach to dialogue management in personal assistants. Conference Paper January 2005, [online] https://www.researchgate.net/ publication/221607746_An_agent-based_approach_to_dia-logue_management_in_personal_assistants.
94
Zur Erläuterung dessen, was als Stand der Technik bekannt war und zum Fachwissen gehörte, wird zusätzlich noch verwiesen auf:
95
D5 VoiceXML: Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia, Version vom 30. September 2009, URL: https://de.wikipedia. org/w/index.php?title=VoiceXML&oldid=65089228 (abgerufen am 26.07.2019)
96
D6 Raggett, Dave: Getting started with VoiceXML 2.0 (November 2001), Übersetzung von Jens Oliver Meiert (Juli 2007), URL: https://meiert.com/de/w3/Voice/Guide/ (abgerufen am 26.07.2019)
97
D7 factline Website: Verlinkung wahlweise statisch oder dynamisch, Internet Archiv: 25. November 2009, URL: https://web.archive.org/web/20091125155342/http://www.factline.com/208031.0/ (abgerufen am 26.07.2019).
98
4.1 In der Druckschrift D3 werden „Persönliche Assistenten“ beschrieben, die jeweils für spezielle Aufgaben wie Email- oder Kalendermanagement geschult sind (Abstract). Aus Seite 2 (linke Spalte unteres Viertel) ist entnehmbar, das diese Agenten „lernfähig“ sein können (vgl. auch Kapitel 2.1: „BDI model“); insoweit versteht der Senat die anspruchsgemäßen „Konversationsagenten mit künstlicher Intelligenz“ als mögliche Ausführungsformen oder zumindest als naheliegende Weiterbildungen der Agenten der D3. In Kapitel 3.2.1 (Seite 6 linke Spalte Mitte) und Kapitel 4 sind Beispieldialoge aufgeführt, die ein Verfahren mit den Merkmalen V2 bis V6 vorwegnehmen oder zumindest nahelegen (auch wenn den Beispieldialogen ein festes Skript zugrundeliegen würde, wie die Anmelderin vorgetragen hat, würde die in D3 beschriebene Lernfähigkeit weitergehende Möglichkeiten eröffnen, insbesondere kontextbezogenere Dialogteile). In Figur 2 (Kapitel 3) ist ein „Dialog Manager“ beschrieben, der mehrere Agenten steuert (entsprechend der DCM-Plattform der Anmeldung – vgl. auch Kapitel 6 „Conclusion“: „Future work will be the integration of additional personal assistants to demonstrate the system’s capability of coordinating the activities of the multiple agents“). Das Kapitel 2.2.1 „Discourse History“ zeigt, dass während einer geführten Konversation eine zeichenkodierte formalisierte Aufzeichnung des Gesprächsablaufs erzeugt wird; dies ist als das beanspruchte „Bestimmen eines Dialogpfades eines Dialogs“ entsprechend Merkmal V8 zu verstehen. Dem Fachmann war eine zeichenkodierte formalisierte Gesprächsaufzeichnung in Form eines Skriptes zum Prioritätszeitpunkt vertraut (siehe z. B. „VoiceXML“ gemäß Druckschrift D5, D6). Ersichtlich sind einem solchen aufgezeichneten Dialogpfad auch „Dialogparameter“ (wie Sender, Receiver, Subject – siehe Beispiel in D3 Kapitel 2.2.1) zu entnehmen (Merkmal V9); welche spezifischen Parameter erfasst werden (Merkmal V10), ist eine rein handwerkliche Entscheidung, die der Fachmann im Rahmen seiner fachüblichen Tätigkeiten trifft (im Übrigen nehmen die anderen Anspruchsmerkmale keinerlei Bezug auf die konkret benannten Parameter, so dass die Auswahl gemäß Merkmal V10 den Anschein der „Beliebigkeit“ erweckt). Im Abschnitt 5 „Related Work“ wird schließlich ein Lernen auf Basis einer Sammlung aufgezeichneter Dialoge („training corpus of collected dialogs“) vorgeschlagen – das Sammeln der Dialoge entspricht dabei dem „Aggregieren“ vom Merkmal V11, und das Lernen setzt eine Analyse der Dialoge voraus (Merkmal V7).
99
Damit findet der Fachmann in der Druckschrift D3 ein Verfahren zur Konversationserzeugung, dass sich von dem mit den Merkmalen V1 bis V11 beanspruchten Verfahren allenfalls in naheliegender Weise unterscheidet.
100
Für den Fachmann lag es ferner nahe, auf die aus D3 bekannte „Sammlung von Dialogen“ zurückzugreifen, um darauf aufbauend neue KI-Konversationsagenten zu erstellen (Merkmal V12); so ist etwa in Kapitel 6 „Conclusion“ ausgeführt: „Future work will be the integration of additional personal assistants …“.
101
Die Anspruchsmerkmale V13 und V14 geben zunächst nur aufgabenhaft vor, welche Ziele mit den neuen KI-Konversationsagenten des Merkmals V12 erreicht werden sollen: „…für eine sinnvolle Konversation mit Wissenserwerbern inklusive Entscheidungsergebnissen …“, „wodurch ein Wissenserwerber beim Erreichen eines spezifischen relevanten gezielten Ergebnisses unterstützt wird“. Damit kann ein Unterschied zum Stand der Technik nicht begründet werden.
102
In konkreter Hinsicht lassen sich drei Aspekte erkennen:
103
a) die neuen KI-Konversationsagenten sollen „eine Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache“ verwenden;
104
b) jeder neue KI-Konversationsagent soll „seinen eigenen Entscheidungsbaum mit gescriptetem Dialog aufweisen“; und
105
c) es soll die Möglichkeit bestehen, dass ein KI-Konversationsagent mit anderen KI-Konversationsagenten „dynamisch verlinkt“ wird.
106
Zu a): Nach Verständnis des Senats gehörte „eine Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache“ für digitale Konversationsagenten zur ganz normalen, üblichen Arbeitsweise. So zeigt etwa die Druckschrift D6 Beispiele für Dialoge auf VoiceXML-Basis. Das erste Beispiel (Seite 4 Mitte) bietet ein gescriptetes Menü mit drei Optionen (Sport; Wetter; Nachrichten) an, wobei aber auch natürliche Sprachausgaben („Ich habe nicht verstanden, was Sie gesagt haben“) vorgesehen sein können.
107
Die Anmelderin hat hier die Auffassung vertreten, die Formulierung „Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache“ sei anders zu verstehen. Der Gegensatz zwischen „natürlicher Sprache“ und „gescripteter Sprache“ für Agenten ziehe sich durch die gesamte Anmeldung und würde vom hier zuständigen Fachmann dahingehend ausgelegt, dass die „gescriptete Sprache“ den bekannten nicht-intelligenten Dialogagenten zugeordnet sei, wo jeder einzelne Schritt genau vorbedacht und vorprogrammiert werden müsse; während „natürliche Sprache“ ein spezifisches Merkmal von Dialogagenten mit künstlicher Intelligenz sei, die eine Konversation ohne detailliertes Vorgabe-Skript allein aufgrund ihrer „künstlichen Intelligenz“ führen könnten.
108
Der Senat kann sich solch einer speziellen Auslegung nicht anschließen. Die Formulierung „Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache“ konnte in der gesamten Anmeldung, obwohl diese über 600 Ausführungsformen oder -beispiele umfasst, nur ein einziges Mal gefunden werden (Abs. [0470] „…verwenden virtuelle Agentenanwendungen eine Kombination aus natürlicher und gescripteter Sprache für eine sinnvolle Konversation mit Konsumenten“ bzw. „these virtual agent applications use a combination of natural and scripted language for a meaningful conversation with consumers“). Dass darin die der Anmeldung zugrundeliegende Erfindung zu sehen sein sollte, war nicht nachvollziehbar. Wenn es im Übrigen einen speziell ausgebildeten Fachmann braucht, der erst dieser Formulierung eine besondere Bedeutung zumisst, dann setzt eine solche Überlegung voraus, dass der Fachmann die Besonderheit bereits kannte oder sie für ihn zumindest offensichtlich war. Dann war sie für ihn aber naheliegend und könnte das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit nicht mehr begründen.
109
Zu b): Dass ein Konversationsagent „seinen eigenen Entscheidungsbaum mit gescriptetem Dialog“ aufweist, war für nicht-intelligente Agenten allgemein üblich (vgl. den obigen Verweis auf Druckschrift D6). Dass für KI-Agenten ein gescripteter Dialog eine Besonderheit darstellen könnte, war der Anmeldung nicht entnehmbar; vielmehr ist es übliches fachmännisches Handeln, bei Weiterbildungen (künstliche Intelligenz für Dialogagenten) zumindest teilweise auf bekannte Maßnahmen (geskriptete Dialoge) zurückzugreifen.
110
Zu c): Die Anmelderin hat hierzu auf Figur 16A der Anmeldung verwiesen: Falls die Frage des aktiven Agenten nach „Fieber“ vom menschlichen Gesprächspartner negativ beantwortet wird, wird das Gespräch automatisch an einen anderen KI-Agenten („Arzt-KI“) übergeben. Diese Arzt-KI sei nach den Ausführungen der Anmelderin mit dem aktiven Agenten „dynamisch verlinkt“.
111
Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass eine „dynamische“ Verlinkung im Bereich der Informationsverarbeitung auch schon lange vor dem Prioritätstag allgemein üblich war (vgl. Druckschrift D7). Durch das Adjektiv „dynamisch“ wird lediglich zum Ausdruck gebracht, dass nicht die Information von einem festen Zeitpunkt einbezogen wird, sondern jeweils die aktuelle (in der Zwischenzeit evtl. veränderte) Information.
112
Dass ein KI-Agent eine Konversation nicht selbst zu Ende führen muss, sondern ggf. an einen anderen Agenten übergeben kann, sieht der Senat ebenfalls nicht als erfinderische Besonderheit an. Eine Aufteilung eines komplexen Bereichs in Teilbereiche mit gegenseitiger „Verlinkung“ ist in der Wissenschaft oder auch in der Programmierung (Unterprogramme) allgemein üblich. Auch erfährt der (menschliche) Anrufer bei jeder üblichen „Telefon-Hotline“, dass sein (i. d. R. menschlicher) Gesprächspartner das Gespräch ggf. an einen anderen, für eine spezielle Frage kompetenteren Gesprächspartner weitergibt. Somit könnte hierin allenfalls die Übertragung einer an sich bekannten Maßnahme aus dem Bereich der „menschlichen“ Arbeitsorganisation auf ein diese abbildendes Computerprogramm gesehen werden, womit allein sich das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit nicht begründen lässt (vgl. dazu etwa BGH GRUR 2004, 667 – Elektronischer Zahlungsverkehr, Leitsatz).
113
Zusammenfassend enthält der geltende Patentanspruch 14 in der vorliegenden Formulierung nichts, was der Fachmann nicht schon kannte oder was sich für ihn nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergab.
114
Die Anmelderin hat noch eingewendet, dass sich die KI-Dialogagenten der Anmeldung erheblich von denen der Druckschrift D3 unterschieden, wobei die D3 allenfalls Ansätze in Richtung „künstlicher Intelligenz“ zeige, wohingegen die Anmeldung hier eine wesentliche Weiterentwicklung leiste.
115
Dem ist zu entgegnen, dass die Anspruchsformulierung, oder möglicherweise auch bereits die Anmeldung selbst, solche Unterschiede nicht hinreichend deutlich wiedergibt. Beurteilt wird nicht, was der Erfinder sich gedacht hat und in die vorliegenden Unterlagen hereininterpretiert, sondern was der Durchschnittsfachmann beim Lesen der Ansprüche versteht oder der Anmeldung entnehmen kann.
116
4.2 Mit dem Patentanspruch 14 fallen die übrigen Ansprüche, da über einen Antrag nur einheitlich entschieden werden kann.
117
Der Patentanspruch 1 des Hauptantrags wäre unabhängig davon auch nicht günstiger zu beurteilen, da er i. w. dieselben Maßnahmen des Verfahrensanspruchs 14 (hier formuliert als „Mittel zum …“) betrifft. Ein besonderer, möglicherweise „erfinderische Tätigkeit“ begründender Unterschied des Vorrichtungsanspruchs wurde nicht vorgebracht und ist auch nicht erkennbar.
118
5. Die Hilfsanträge 1 und 2 können nicht gewährt werden, zumindest weil eine der vorgenommenen Änderungen im jeweiligen Patentanspruch 14 den Gegenstand der Anmeldung gegenüber der früheren Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unzulässig erweitert (§ 38 PatG).
119
5.1 Der Patentanspruch 14 nach Hilfsantrag 1 wie auch der Patentanspruch 14 nach Hilfsantrag 2 enthalten u. a. folgendes Merkmal (Unterschiede zum Patentanspruch 14 gemäß Hauptantrag sind markiert):
120
V14‘ wobei die virtuellen Agentenapplikationen (130) ihren eigenen Entscheidungsbaum mit gescriptetem Dialog aufweisen
aufweist, der mit anderen virtuellen Agentenapplikationen
Konversationsagenten (130) basierend auf den Dialogparametern und der Beantwortungsleistung dynamisch verlinkt werden kann, wodurch ein Wissenserwerber beim Erreichen eines spezifischen relevanten gezielten Ergebnisses unterstützt wird.
121
D. h. die „dynamische Verlinkung“ zweier Konversationsagenten soll nunmehr „basierend auf den Dialogparametern und der Beantwortungsleistung“ geschehen, welche zuvor gemäß Merkmal V9 und dem zusätzlichen Merkmal VHi2 bestimmt wurden. Damit ist der Patentanspruch 14 beider Hilfsanträge auf Konversationsagenten gerichtet, die auf Basis von den zuvor bestimmten Dialogparametern und der Beantwortungsleistung dynamisch verlinkt wurden oder werden können.
122
5.2 Eine solche Lehre findet sich „unmittelbar und eindeutig“ in der Anmeldung nicht.
123
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf ein Patentanspruch nicht auf einen Gegenstand gerichtet werden, den die ursprüngliche Offenbarung aus Sicht des Fachmanns nicht als zur Erfindung gehörend erkennen lässt. Dafür ist maßgeblich, was sich den Anmeldungsunterlagen aus fachmännischer Sicht „unmittelbar und eindeutig“ entnehmen lässt, und nicht, was sich gegebenenfalls erst aufgrund einer weitergehenden Erkenntnis ergibt, zu der der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens oder durch Abwandlung der offenbarten Lehre gelangen kann (BGH, Urteil vom 27. Oktober 2011 – X ZR 94/09 (Juris), Rn. 16; vgl. auch BGH GRUR 2010, 910 – Fälschungssicheres Dokument, Rn. 62).
124
Die Anmelderin hat zur Offenbarung auf die Figur 12A und die Absätze [0279], [0280] und [0451] verwiesen und dies in der mündlichen Verhandlung erläutert.
125
Es kann dahinstehen, dass bereits der Begriff „Beantwortungsleistung“ in der ursprünglichen Offenbarung nicht vorkommt (möglicherweise ist die in Abs. [0225] genannte „Interaktionsleistung“ gemeint). Es wird auch nicht angezweifelt, dass der Anmeldung die Bestimmung verschiedener Leistungs-Indizes für KI-Konversationsagenten entnommen werden kann (dies zeigen u. a. die genannten Absätze [0279] und [0280]). An keiner Stelle findet sich aber eine eindeutige und klare Lehre, wodurch die „dynamische Verlinkung“ zweier Konversationsagenten hergestellt wird – insbesondere nicht, dass dieses „auf Basis von“ Dialogparametern und der Beantwortungsleistung geschehen würde. Der Ausdruck „dynamisch verlinkt“ kommt allein in Abs. [0469] vor: „Beispielsweise kann jede virtuelle Agentenanwendung ihren eigenen Entscheidungsbaum mit gescriptetem Dialog aufweisen, der mit anderen Anwendungen ‚dynamisch verlinkt‘ werden kann …“. Auf welcher Basis diese dynamische Verlinkung erzeugt wurde, ist nicht angegeben. Die von der Anmelderin zitierten Abs. [0279] und [0280] beschreiben, dass Leistungsindizes erstellt werden – dass diese zur Verlinkung von Agenten benutzt würden, steht dort nicht. Abs. [0451] ff. und Figur 12A beschreiben eine Dialoganalytik: „… kann der Dialogagent aufgezeichnete Dialogaktionen zu verwandten Themen abrufen 1210, inklusive einer für eine Großanalytik anonym aufgezeichnete Dialogaktion 1210(a), die mit einem Benutzer für eine Profilierungsanalytik verknüpft ist 1210(b), und/oder die mit einem Dialogagenten für eine Wertanalytik verknüpft ist 1210(c).“ Von einer dynamischen Verlinkung von Agenten „basierend auf …“ ist hier ebenfalls keine Rede – es heißt lediglich, ein Agent könne „aufgezeichnete Dialoge“ aufrufen, welche ggf. mit weiteren Dialogen oder Agenten verlinkt sein könnten; es ist aber nicht beschrieben, auf welche Weise der Aufruf erzeugt wurde bzw. auf welcher Basis eine Verlinkung hergestellt wurde.
126
Die Anmelderin hat noch besonders auf Figur 12A und Bezugszeichen 1210(c) verwiesen, wonach der aktive Agent „verlinkt mit einem Dialogagent für Wertanalytik“ sei. Dies zeigt jedoch lediglich, dass Agenten miteinander verlinkt sind – wie eine solche Verlinkung erfolgt, insbesondere dass dieses „basierend auf den Dialogparametern und der Beantwortungsleistung“ geschehen sollte, ist auch hier nicht entnehmbar.
127
Dass der Fachmann möglicherweise nach ausführlichem Studium der Anmeldung bei Heranziehen seines Fachwissens zu der Auffassung kommen könnte, dass die beschriebene dynamische Verlinkung nicht wahllos, sondern nur anhand bestimmter Kriterien erfolgen sollte – um dann in einem nächsten Schritt „sinnvolle“ Kriterien herauszufinden – hilft nicht weiter; denn das verlässt den Rahmen einer „unmittelbaren und eindeutigen“ Offenbarung (s. o. zur Rechtsprechung).
128
Dies zusammenfassend kann der Patentanspruch 14 nach Hilfsantrag 1 wie auch nach Hilfsantrag 2 mangels ursprünglicher Offenbarung zumindest eines seiner Merkmale keinen Bestand haben.
129
6. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr war nicht geboten.
130
Eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr kommt nach § 80 Abs. 3 PatG nur dann in Betracht, wenn dies der Billigkeit entspricht. Die Anmelderin verweist auf die Rechtsprechung, wonach typischerweise eine fehlerhafte Sachbehandlung, echte Verfahrensfehler oder Verstöße gegen die Prozessökonomie im patentamtlichen Verfahren eine Rückzahlung rechtfertigen könnten.
131
Aus der Aktenlage ist aber kein solcher Grund ersichtlich. Der Zurückweisungsbeschluss weist keine schwerwiegenden Fehler auf und weicht insbesondere nicht von der ständigen Rechtsprechung ab. Die Begründung ist prinzipiell nachvollziehbar, wobei unerheblich ist, ob der Senat zu derselben oder zur gegenteiligen Auffassung gekommen wäre (vgl. Schulte, PatG, 10. Auflage (2017), § 73 Rdnr. 140).
132
Auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Prüfungsstelle ist nicht erkennbar. Wie der Bundesgerichtshof beispielsweise in seinem Beschluss vom 21. November 2018 (X ZB 21/16, juris) festgestellt hat, liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, wenn deutlich wird, dass Vorbringen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Dabei ist aber grundsätzlich davon auszugehen, dass die Entscheidungs-Stelle das von ihr entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat – ohne dass sie verpflichtet wäre, sich in den Gründen ihrer Entscheidung mit jedem Vorbringen ausdrücklich zu befassen. Zudem muss den Verfahrensbeteiligten nicht mitgeteilt werden, wie der die Grundlage der späteren Entscheidung bildende Sachverhalt voraussichtlich gewürdigt werden wird. Es reicht in der Regel aus, wenn die Sach- und Rechtslage erörtert und den Beteiligten dadurch aufgezeigt wird, welche Gesichtspunkte für die Entscheidung voraussichtlich von Bedeutung sein werden. Ein Hinweis kann lediglich geboten sein, wenn für die Beteiligten auch bei sorgfältiger Prozessführung nicht vorhersehbar ist, auf welche Erwägungen die Entscheidung gestützt werden wird (vgl. auch BGH X ZB 13/17, Beschluss vom 5. November 2018, Rdnr. 11).
133
Der Prüfer hat bereits im Prüfungsbescheid auf seine Auffassung hingewiesen, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1 mit seinen Merkmalen – soweit sie technisch sind – in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergebe. Dieselbe Auffassung hat er in der Anhörung und im Zurückweisungsbeschluss vertreten. Es liegt also kein „neuer Umstand“ für eine Zurückweisung vor, der dem Anmelder hätte mitgeteilt werden müssen, ebenso wenig wie eine Überraschungsentscheidung (siehe Schulte, a. a. O., § 48 Rdnr. 20).
134
Der Prüfer war auch nicht verpflichtet, seine Meinung in der Anhörung kundzutun. Er hat sich wohl aktiv am Gespräch beteiligt, dies führt auch die Anmelderin selbst so aus. Er ist aber nicht verpflichtet, seine rechtliche Würdigung im Einzelnen in der Anhörung offenzulegen. Im Übrigen hatte er einen Prüfungsbescheid erlassen, in dem er auf seine Meinung hingewiesen hat. Dass der Prüfer keine weitere Gelegenheit zur Stellung von Hilfsanträgen gegeben und die Anhörung abrupt beendet habe, lässt sich den Akten, insbesondere dem Anhörungs-Protokoll nicht entnehmen.
135
7. Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen.
136
Das von der Anmelderin in der Beschwerdebegründung vom 4. März 2019 thematisierte Problem, ob es sich bei den vorliegend beanspruchten KI-gesteuerten Dialogverarbeitungsagenten (KI-Chatbots) um technische Mittel auf technischem Gebiet handelt, bzw. ob durch die Gegenstände gemäß Hauptantrag oder den Hilfsanträgen ein technisches Problem mit technischen Mitteln gelöst wird, war nicht entscheidungserheblich.

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