Aktenzeichen 4 Ni 5/14 (EP)
Tenor
In der Patentnichtigkeitssache
…
…
betreffend das europäische Patent 1 938 765
(DE 698 41 759)
hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juli 2015 durch den Vorsitzenden Richter Engels, die Richterin Kopacek sowie die Richter Dipl.- Phys. Brandt, Dipl.- Ing. Univ. Schmidt-Bilkenroth und Dipl.- Ing. Altvater für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent EP 1 938 765 wird für das Hoheitsgebiet der
Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte, ausgenommen die
außergerichtlichen Kosten der Nebenintervenientin zu 2., die diese selbst trägt.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Gegenstand des Nichtigkeitsverfahrens ist das auch mit Wirkung für Deutschland erteilte europäische Patent EP 1 938 765 (Streitpatent), das am 1. Juni 1998 unter Inanspruchnahme der Prioritäten der US Patentanmeldungen 871 114 vom 9. Juni 1997, 911 805 vom 15. August 1997 und 911 827 vom 15. August 1997 angemeldet worden ist. Das Streitpatent ist in der Verfahrenssprache Englisch veröffentlicht und wird beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nr. 698 41 759 geführt. Es betrifft ein System(e) zur Behandlung gebrochener oder erkrankter Knochen mithilfe dehnbarer Elemente und umfasst 8 Ansprüche, welche sämtlich angegriffen sind.
2
Das Streitpatent bezieht sich auf ein System zur Behandlung von Wirbelkörpern. Zum Beispiel als Folge von Osteoporose, Knochennekrose oder Krebs kann die Spongiosa (schwammartig aufgebautes System aus feinen Knochenbälkchen im Innern der Knochen) befallen werden und die umgebende Kortikalis (äußere Schicht der Knochen) wird anfällig für Kompressionsbrüche oder Einbrüche. Dies ist eine Folge davon, dass die Spongiosa den sie umgebenden Knochen nicht mehr stützt.
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Patentanspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache Englisch
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und in deutscher Übersetzung
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Hinsichtlich der auf den Patentanspruch 1 unmittelbar oder mittelbar rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 8 wird auf die Streitpatentschrift EP 1 938 765 B1 Bezug genommen.
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Mit ihrer Nichtigkeitsklage macht die Klägerin geltend, der Gegenstand des Streitpatents sei wegen mangelnder Patentfähigkeit aufgrund fehlender Neuheit und fehlender erfinderischer Tätigkeit für nichtig zu erklären (Art. 138 Abs. 1 lit. a EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG i. V. m. Art. 54, 56 EPÜ). Die von der Beklagten gestellten Hilfsanträge 2 bis 4 erachtet sie als unzulässig erweitert (Art. 123 Abs. 2 EPÜ). Soweit die Klägerin sich den Angriff der Nebenintervenientin zu 2 der fehlenden Ausführbarkeit (Art. 138 Abs. 1 lit. b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜG) zu Eigen gemacht hat, verfolgt sie diesen Nichtigkeitsgrund nicht weiter.
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Im Verfahren befinden sich folgende Dokumente:
8
NK1 EP 1 938 765 B1 (Streitpatent)
9
NK2 Registerauszug des DPMA
10
NK3 Klageschrift vom 01.10.2013 der hiesigen Beklagten im Verletzungsverfahren 4a O 114/131 vor dem LG Düsseldorf
11
NK4 Merkmalsgliederung, von der Klägerin vorgelegt
12
NK5 US 5 480 400 A
13
NK5a – (deutsche Übersetzung der NK5)
14
NK6 US 5 108 404 A („continuation-in-part“ der US 4 969 888)
15
NK6a – (deutsche Übersetzung der NK6)
16
NK7 US 4 772 287
17
NK7a – (deutsche Übersetzung der NK7)
18
NK8 WO 96/39970 A1
19
NK8a DE 696 33 286 T2 (deutsche Übersetzung des EP-Patents EP 0 836 435 B1 zur NK8)
20
NK9 Galibert, P; Deramond, H.: La vertebroplastie acrylique percutanee comme traitement des angiomes vertebraux et des affections dolorigenes et fragilisantes du rachis. Chirurgie, 1990, Seiten 326 – 335
21
NK9a Galibert, P; Deramond, H.: … (engl. Übersetzung der NK9)
22
NK10 Debussche-Depriester, C.; Deramond, H.; Fardellone, P.; Heleg, A.; Sebert, J. L.; Cartz, L.; Galibert, P.: Percutaneous vertebroplasty with acrylic cement in the treatment of osteoporotic vertebral crush fracture syndrome. Neuroradiology, 1991, Seiten 149-152
23
NK11 EP 0 621 020 A1
24
NK12 Deramond, H.; Depriester, C.; Toussaint, P.; Galibert, P.: Percutaneous Vertebroplasty. Seminars in Musculoskeletal Radiology, Vol. 1, Nr. 2, 1997, Seiten 285 – 295
25
NK13 Gangi, A.; Kastler, B. A.; Dietemann, J.-L.: Percutaneous Vertebroplasty Guided by a Combination of CT and Fluoroscopy. American Journal on Neuroradiology, Jan. 1994, Seiten 83 – 86
26
NK14 Chiras, J.; Depriester, C.; Weill, A.; Sola-Martinez, M. T.; Deramond, H.: Vertebroplasties Percutanees. J. Neuroradiology, 1997, Seiten 45 – 59
27
NK14a Chiras, J.; Depriester, C. [et al.] : …(engl. Übersetzung der NK14)
28
NK15 Lapras, C.; Mottolese, C.; Deruty, R.: Injection Percutanee de Methyl-Metacrylate dans le Traitement de l’Osteoporose et Osteolyse Vertebrale Grave. Annales de Chirurgie, 1989, Vol. 43, Nr. 5, Seiten 371 – 376NK15a Lapras, C.; Mottolese, C. [et al.] : …(engl. Übersetzung der NK15)
29
NK16 WO 95/20362 A1
30
NK17 EP 0 453 393 A1
31
NK18 US 5 562 736 A
32
NK19 US 5 331 975 A
33
NK20 Auszug Wikipedia „Substantia spongiosa“
34
NK21 Auszug Wikipedia „Substantia compacta“
35
NK22 Replik vom 05.06.2014 der hiesigen Beklagten im Verletzungsverfahren 4a O 114/131 vor dem LG Düsseldorf
36
NK23 Cloft, H.J.; Jensen, M. E.: Kyphoplasty: An Assessment of a New Technology. American Journal Neuroradiology. , Febr. 2007, Seiten 200-203
37
NK24 Gutachten PD Dr. Disch
38
NK25 ZHOU; McCARTHY [et al.] : Geometrical dimensions of the lower lumbal vertebrae – analysis of data from digitised CT images. European Spine Journal, Springer-Verlag, 2000, Nr. 9, Seiten 242-248
39
NK26 US 4 943 275
40
NK27/NK27a Erklärung von Neil J. Sheehan in Sachen der US 6 623 505
41
NK28 US 4 422 447
42
NK29 US 4 402 307
43
NK30 US 3 867 945
44
NK31 US 3 460 541
45
NK32 US 4 299 226
46
NK33 EP 1 938 765 A1 (Offenlegungsschrift zum Streitpatent)
47
NJ2 Urteil im Verletzungsverfahren 4a O 114/131 LG Düsseldorf(auch als NK22 von der Klägerin sowie von der Beklagten vorgelegt)
48
NJ3 EP 0 807 415 A2
49
Die Klägerin macht geltend, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei gegenüber der NK5 bis NK7 nicht neu und beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit, insbesondere gegenüber der NK8 in Verbindung mit dem Fachwissen des Fachmanns oder gegenüber der NK8 in Kombination mit einer der Schriften NK9 bis NK15 oder NJ3 oder NK5 bis NK7, NK18 oder NK19. Ferner beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 auch nicht auf erfinderischer Tätigkeit gegenüber der NK6 in Verbindung mit dem Fachwissen oder gegenüber der NK6 in Kombination mit einer der Schriften NK5 bis NK7, NK9 bis NK15, NK18 oder NK19. Auch die gestellten Hilfsanträge führten nicht zum Bestand des Streitpatents. Hilfsantrag 1, der in geänderter Fassung in der mündlichen Verhandlung vom 21. Juli 2015 überreicht wurde, sei verspätet, zudem der danach maßgebliche Patentanspruch 1 unzulässig erweitert, da eine völlig neue Thematik in das Verfahren eingeführt werde. Es sei zu berücksichtigen, dass kein Verwendungs-, sondern ein Vorrichtungsanspruch vorliege, weshalb insbesondere die gleichzeitige Verwendung der Ballons nicht erheblich sei. Im Übrigen sei Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 1 auch nicht patentfähig. Der Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2 sei unzulässig erweitert; außerdem sei sein Gegenstand nicht ausführbar und beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit gegenüber der Entgegenhaltung NK6 oder NK8 in Kombination mit der NK26 (vgl. hierzu auch die gutachterliche Stellungnahme in NK27, NK27a). Neben der Entgegenhaltung NK26 existierten eine ganze Reihe ähnlicher Dokumente, die ein inneres Versteifungselement, wie ihn Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 enthalte, zeigten (vgl. NK28, NK32). Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 beruhe ausgehend von einer der Entgegenhaltungen NK8 oder NK6 ebenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 sei unzulässig erweitert; ferner sei sein Gegenstand nicht erfinderisch gegenüber einer der Entgegenhaltungen NK8 oder NK6 in Kombination mit NK26, dem Fachwissen oder einer der Entgegenhaltungen NK7, NK9 bis NK15, NK18 und NK19.
50
Die der Klage mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2014 (Telefax Bl. 224, 225, Original Bl. 226, 227 d. A.) beigetretene Nebenintervenientin zu 1 ist von der Lizenznehmerin der Beklagten vor dem LG München I wegen Patentverletzung verklagt worden (dortiges AKZ 21 O 16081/14): Sie greift das Streitpatent vollumfänglich wegen fehlender Patentfähigkeit an.
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Die Nebenintervenientin zu 2 ist ebenfalls auf Seiten der Klägerin dem Rechtsstreit mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2014 beigetreten (Telefax vom 16. Dezember 2014, Original vom 15.12.2014, Bl. 237 ff. d. A.) und hat das Streitpatent in vollem Umfang angegriffen. Mit Schriftsatz vom 2. Juli 2015, bei Gericht eingegangen am 3. Juli 2015, hat die Nebenintervenientin zu 2 ihre Nebenintervention zurückgenommen.
52
Mit Schriftsatz vom 15. Juli 2015 hat die Nebenintervenientin zu 3 ihren Beitritt zum Verfahren auf Seiten der Klägerin erklärt. Sie trägt vor, sie sei von einer angeblich ausschließlichen Lizenznehmerin der Beklagten wegen vermeintlicher Patentverletzung vor dem Landgericht München I verklagt worden (dortiges AKZ 21 O 16101/14). Die Nebenintervenientin zu 3 hat keine eigenen Angriffsmittel in den Rechtsstreit eingeführt, sondern sich den bisherigen Vortrag der Klägerin zu Eigen gemacht.
53
Die Klägerin und die Nebenintervenientinnen zu 1 und 3 beantragen sinngemäß,
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das europäische Patent EP 1 938 765 B1 vollumfänglich mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen, hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit das Streitpatent mit Hilfsantrag 1, eingereicht in der mündlichen Verhandlung sowie mit den Hilfsanträgen 2 bis 4, eingereicht mit Schriftsatz vom 27. April 2015, verteidigt wird.
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Wegen des Wortlauts der Hilfsanträge wird auf die Akte verwiesen.
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Die Beklagte tritt den Ausführungen der Klägerin und der Nebenintervenientinnen in allen Punkten entgegen und erachtet die Klage für unbegründet. Patentanspruch 1 sei in der erteilten Fassung, jedenfalls aber in einer der Fassungen der Hilfsanträge 1 bis 4, patentfähig. Insbesondere seien NK6 und NK8 im Hinblick auf Anspruch 1 des Streitpatents weder neuheitsschädlich noch könnten sie den Gegenstand des Anspruchs 1 nahelegen. Hilfsantrag 1 sei nicht verspätet, da er aufgrund der vom Senat in der mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsansicht gestellt worden sei. Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 sei zulässig und auch patentfähig, da er sich gegenüber der Lehre der NK6 und NK8 abgrenze. Die Form der expandierbaren Körper könnte im Streitpatent im Gegensatz zu NK6 und NK8 den therapeutischen Zweck erfüllen. Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2 sei weder durch NK6 noch durch NK26 nahegelegt, da in keiner der beiden Schriften ein Versteifungselement gezeigt werde. Hilfsantrag 3 schaffe mit nur einem einzigen aufblasbaren Teil eine Abgrenzung zur NK8 und NK16, die mehrere Kammern aufwiesen. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 sei zulässig und unterscheide sich von den expandierbaren Körpern aus den Entgegenhaltungen NK6, NK8 und NK16.
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Der Senat hat den Parteien einen frühen gerichtlichen Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG zugeleitet. Auf diesen Hinweis vom 26. Januar 2015 wird Bezug genommen (Bl.352 ff. d. A.).
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Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien samt Anlagen und
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auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 21. Juli 2015 Bezug genommen.