Aktenzeichen 4 Ni 22/13 (EP)
Tenor
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das europäische Patent 1 550 482
(DE 503 12 624)
hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf die mündlichen Verhandlungen vom. April 2015 und 15. September 2015 durch den Vorsitzenden Richter Engels sowie der Richterin Kopacek, der Richter Dipl.-Phys. Univ. Dr. Müller, Dipl.-Ing. Veit und Dipl.-Ing. Univ. Schmidt-Bilkenroth
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent 1 550 482 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Gegenstand des Nichtigkeitsverfahrens ist das auch mit Wirkung für Deutschland erteilte europäische Patent 1 550 482 (Streitpatent), das am 29. Dezember 2003 angemeldet worden ist und ein „Inertisierungsverfahren zum Löschen eines Brandes“ betrifft. Das in der Verfahrenssprache Deutsch am 14. April 2010 veröffentlichte Streitpatent umfasst 10 Patentansprüche, die sämtlich angegriffen sind.
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Patentanspruch 1 lautet:
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1. Inertisierungsverfahren zum Löschen eines Brandes in einem umschlossenen Zielraum, bei welchem der Sauerstoffgehalt in dem umschlossenen Raum innerhalb einer vorgegebenen Zeit (x) auf ein bestimmtes Inertisierungsniveau abgesenkt wird,
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dadurch gekennzeichnet, dass
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durch geregeltes Einleiten eines Sauerstoff verdrängenden Gases in den Zielraum das Inertisierungsniveau in einem bestimmten Regelbereich gehalten wird, wobei der obere Schwellwert des Regelbereichs kleiner oder maximal gleich dem Rückzündungsverhinderungsniveau (R) ist.
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Wegen der übrigen abhängigen, direkt oder indirekt auf Patentanspruch 1 rückbezogenen Ansprüche 2 bis 10 wird auf die Streitpatentschrift Bezug genommen.
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Mit ihrer Nichtigkeitsklage macht die Klägerin geltend, der Gegenstand des Streitpatents sei nach Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG iVm Art. 52 bis 57 EPÜ nicht patentfähig. Außerdem gehe der Gegenstand des Anspruchs 1 über den Inhalt der europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus.
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Die Klägerin hat folgende Dokumenten und Schriften vorgelegt:
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K1 Aktueller Registerauszug DE 503 12 624
10
K2 EP 1 550 482 B1 (Streitpatentschrift)
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K3 Merkmalsgliederung Anspruch 1
12
K4 JP 11057054 A mit deutscher Übersetzung
13
K5 JP 2001095936 A mit deutscher Übersetzung
14
K6 EP 1 062 005 B1
15
K7 JP 9-276428 A mit deutscher Übersetzung
16
K8 EP 1 550 482 A1
17
K9 Schadensprisma 3/2002
18
K10 ISO 14520-1 von 2000
19
K11 ISO 14520-1 von 2006
20
K12 VdS 2093: 1997-10 (CO2-Feuerlöschanlagen)
21
K13 VdS 3527
22
K14 VdS 2380: 2002-06 (01) (Feuerlöschanlagen mit nicht verflüssigten
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Inertgasen)
24
K17 Anlagenkonvolut offenkundige Vorbenutzung (K17a bis K17j)
25
K18 US 2002/0070035 A1
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K19 Auszug Dubbel, „Taschenbuch für Maschinenbau“. 19. Aufl., 1997
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K20 Ausdruck Goggle-Translator.
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Sie macht geltend, Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung (Hauptantrag) gehe über den Inhalt der europäischen Patentanmeldung (K8) hinaus, da ein geregeltes
Einleiten von Sauerstoff verdrängendem Gas in den ursprünglichen Unterlagen nicht erwähnt sei. Patentanspruch 1 sei nicht neu gegenüber K4, K5 und K6. Selbst wenn man von Neuheit ausgehen würde, habe der Gegenstand von Anspruch 1 im Hinblick auf K4, K5 und K6 für den Fachmann nahegelegen. Auch die übrigen Ansprüche 2 bis 10 seien nicht neu, jedenfalls aber nicht erfinderisch.
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Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag I sei nicht gewährbar, da dessen Gegenstand über den Inhalt der europäischen Patentanmeldung (K8) hinausgehe. Außerdem sei Anspruch 1 des Hilfsantrags I nicht neu und auch nicht erfinderisch. Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag II sei nicht ausführbar bzw. nicht brauchbar im Hinblick auf den äußerst geringfügigen Sicherheitsbereich für eine erfolgreiche Brandbekämpfung; der Anspruch beruhe zudem nicht auf erfinderischer Tätigkeit im Hinblick auf K4, K5 und K6. Die Dokumente des Anlagenkonvoluts K17 belegten, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags II bereits vor dem Anmeldetag des Streitpatents am 29. Dezember 2003 Stand der Technik und damit nicht neu gewesen sei. Zudem lege K17 den Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents nahe, denn die Wahl des Regelungsbereiches von 0,4% sei eine rein handwerkliche Maßnahme. Die Offenkundigkeit der K17 sei ausreichend dargelegt. Es seien entsprechende Systeme an verschiedene Kunden verkauft worden. Außerdem sei im Schriftsatz vom 21. April 2015 Beweis durch zwei Zeugen angeboten worden, dass die Übergabe der Dokumente K-17b bis K-17j an die Firma TLG erfolgt sei, was für eine öffentliche Zugänglichmachung ausreiche.
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Die jeweiligen Gegenstände der weiteren Hilfsanträge III bis IX seien ebenfalls mangels erfinderischer Tätigkeit im Hinblick auf Hilfsantrag II nicht geeignet, eine Patentfähigkeit zu begründen. Sämtliche weiteren Merkmale seien aus den Entgegenhaltungen K4, K5 und K6 sowie K17 bekannt.
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Die Klägerin beantragt,
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das europäische Patent EP 1 550 482 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang für nichtig zu erklären.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen, hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit das Streitpatent mit den in der mündlichen Verhandlung am 15. September 2015 zu Protokoll genommenen Anträgen I bis IX verteidigt werde.
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Die Nichtigkeitsklage sei nicht begründet. Der von der Klägerin erhobene Einwand der unzulässigen Erweiterung greife nicht, da in den Abs. [0017] und [0018] der Anmeldeunterlagen detailliert dargelegt sei, wie bei dem erfindungsgemäßen Inertisierungsverfahren ein geregeltes Einleiten des sauerstoffverdrängenden Gases in den Zielraum erfolge. Der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 sei durch die von der Klägerin zitierten Dokumente nicht neuheitsschädlich vorweggenommen und beruhe auch auf erfinderischer Tätigkeit. Die Lehre des Streitpatents, nämlich das schnelle kontrollierte Herunterfahren auf das zu erreichende Niveau, finde sich weder in K4, K5 und K6 noch in K17. Insbesondere habe der Fachmann aufgrund von K17, die die Brandvermeidung betreffe, keine Veranlassung, dieses System auch für die patentgegenständliche Brandbekämpfung einzusetzen. Die Ansprüche 2 bis 10 des Streitpatents würden aufgrund direkten oder indirekten Rückbezugs auf den unabhängigen Patentanspruch 1 von dessen Rechtsbeständigkeit mitgetragen. Der jeweilige Anspruch 1 nach den Hilfsanträgen I bis IX werde nicht durch K4, K5, K6 oder K17 neuheitsschädlich vorweggenommen und beruhe zudem auf erfinderischer Tätigkeit. Insbesondere erscheine die Kombination mit dem Merkmal M12 patentfähig. Zudem sei die Lehre nach Hilfsantrag II ff. ausführbar, da im Rahmen der heute üblichen Brandfrüherkennung ein Sicherheitszuschlag von 0,4% bei einem Brand im Frühstadium ausreichend sei, wenn auch möglicherweise schwere Brände nicht gelöscht werden könnten.
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Die Offenkundigkeit des von der Klägerin vorgelegten Anlagenkonvoluts K17 bestreitet die Beklagte, da diese Unterlagen nur einigen Kunden zugesandt worden seien.
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Der Senat hat den Parteien einen frühen gerichtlichen Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG zugeleitet (Bl. 108 ff. d. A.). Ergänzend hat der Senat mit Hinweis vom 4. Mai 2015 zum Verständnis der Lehre des Streitpatents sowie zu den Hilfsanträgen III bis IX der Beklagten Stellung genommen (Bl. 343 ff. d. A.). Auf beide Hinweise wird Bezug genommen.
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Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien samt Anlagen und auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14. April 2015 und 15.September 2015 Bezug genommen.