Aktenzeichen 4 Ni 30/14 (EP)
Tenor
In der Patentnichtigkeitssache
…
…
betreffend das europäische Patent 2 272 468
(DE 602 42 921)
hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 10. Mai 2016 durch den Vorsitzenden Richter Engels, die Richterin Kopacek, die Richter Dipl.-Phys. Univ. Dr. Müller und Dipl.-Ing. Veit sowie die Richterin Dipl.-Phys. Univ. Zimmerer
für Recht erkannt.
I.
Das europäische Patent 2 272 468 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Ansprüche 1, 2, 7, soweit Anspruch 7 direkt auf Anspruch 1 oder 2 rückbezogen ist, und 8, soweit Anspruch 8 direkt auf Anspruch 1 oder 2 rückbezogen ist oder soweit dieser auf den direkt auf Anspruch 1 oder 2 rückbezogenen Anspruch 7 rückbezogen ist, für nichtig erklärt.
II.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten.
III.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Gegenstand des Nichtigkeitsverfahrens ist das auch mit Wirkung für Deutschland erteilte europäische Patent 2 272 468 B1, deutsches Aktenzeichen DE 602 42 921 (Streitpatent), das am 25. Januar 2002 unter Inanspruchnahme der Priorität US 771061 vom 29. Januar 2001 angemeldet worden ist. Das in englischer Verfahrenssprache erteilte Streitpatent mit der Bezeichnung „Constrained prothetic knee with rotating bearing“ betrifft eine eingeschränkte Knieprothese mit rotierendem Lager, wurde am 9. Mai 2012 veröffentlicht und umfasst 15 Patentansprüche, von denen die Ansprüche 1, 2, 7 und 8 angegriffen sind.
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Patentanspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache Englisch:
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1. Prosthetic knee (20), comprising:
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a femoral component (22) having a hinge post (40) rotably connected
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thereto about a rotational axis;
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a hinge post extension (42) extending from said hinge post (40);
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a tibial component (24) including a hinge post extension aperture (110), whereby said hinge post extension (42) is positioned within said hinge post extension aperture (110) when the prosthetic knee is operably assembled, whereby said hinge post (40) is fully constrained by said tibial component (24) against displacement in a direction perpendicular to a longitudinal axis of said hinge post extension (42), and whereby said femoral component (22) is rotable about said longitudinal axis of said hinge post extension (42); and
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a meniscal component (26) positioned between said femoral component (22) and said tibial component (24), said femoral component (22) including a condylar bearing surface (28, 30), said meniscal component (26) including a cooperative bearing surface (86, 88) abutting said condylar bearing surface (28, 30) of said femoral component (22),
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wherein the meniscal component (26) forms a rotating bearing which allows rotational movement between the meniscal component (26) and the tibial component (24) about the longitudinal axis, wherein the longitudinal axis is positioned anteriorly with respect to the rotational axis,
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characterized in that
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the hinge post (40) and hinge post extension (42) include cooperating locking tapers (46) for locking the hinge post extension (42) to the hinge post (40).
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Patentanspruch 1 lautet in der deutschen Übersetzung:
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1. Knieprothese (20), umfassend:
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eine Femurkomponente (22) mit einem Gelenkzapfen (40), der daran um eine Drehachse drehbar verbunden ist;
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eine Gelenkzapfenverlängerung (42), die sich von dem Gelenkzapfen (40) erstreckt;
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eine Tibiakomponente (24), die eine Gelenkzapfenverlängerungsöffnung (110) aufweist, wodurch die Gelenkzapfenverlängerung (42) in der Gelenkzapfenverlängerungsöffnung (110) positioniert ist, wenn die Knieprothese funktional zusammengesetzt ist, wodurch der Gelenkzapfen (40) durch die Tibiakomponente (24) vollständig an einer Verlagerung in einer Richtung rechtwinklig zu einer Längsachse der Gelenkzapfenverlängerung (42) gehindert ist, und wodurch die Femurkomponente (22) um die Längsachse der Gelenkzapfenverlängerung (42) drehbar ist;
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und
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eine Meniskuskomponente (26), die zwischen der Femurkomponente (22) und der Tibiakomponente (24) positioniert ist, wobei die Femurkomponente (22) eine Kondylenlagerfläche (28, 30) aufweist, wobei die Meniskuskomponente (26) eine zusammenwirkende Lagerfläche (86, 88) aufweist, die an der Kondylenlagerfläche (28, 30) der Femurkomponente (22) anliegt,
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wobei die Meniskuskomponente (26) ein Drehlager bildet, das eine Drehbewegung zwischen der Meniskuskomponente (26) und der Tibiakomponente (24) um die Längsachse zulässt, wobei die Längsachse anterior in Bezug auf die Drehachse positioniert ist,
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dadurch gekennzeichnet, dass
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der Gelenkzapfen (40) und die Gelenkzapfenverlängerung (42) zusammenwirkende Verriegelungskonen (46) zum Verriegeln der Gelenkzapfenverlängerung (42) an dem Gelenkzapfen (40) umfassen.
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Patentanspruch 2 lautet in der Verfahrenssprache Englisch:
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2. Prostetic knee according to claim 1,
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wherein the meniscal component (26) is free to rotate about the hinge post (40) during flexion and extension.
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Patentanspruch 2 lautet in der deutschen Übersetzung:
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2. Knieprothese nach Anspruch 1,
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wobei die Meniskuskomponente (26) frei um den Gelenkzapfen (40) während der Flexion und Extension drehen kann.
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Patentanspruch 7 lautet in der Verfahrenssprache Englisch:
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7. Prosthetic knee according to any of the preceding claims,
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wherein the hinge post (40) has a hinge post extension aperture (112), the hinge post extension (42) has a locking taper (46) and a cylindrical extension (48), and the locking taper (46) is adapted to be seated in the hinge post extension aperture (112) and locked therein.
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Patentanspruch 7 lautet in der deutschen Übersetzung:
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7. Knieprothese nach einem der vorhergehenden Ansprüche,
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wobei der Gelenkzapfen (40) eine Gelenkzapfenverlängerungsöffnung (112) aufweist, die Gelenkzapfenverlängerung (42) einen Verriegelungskonus (46) und eine zylindrische Verlängerung (48) aufweist und der Verriegelungskonus (46) dazu ausgebildet ist, in der Gelenkzapfenverlängerungsöffnung (112) zu sitzen und darin zu verriegeln.
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Patentanspruch 8 lautet in der Verfahrenssprache Englisch:
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8. Prosthetic knee according to any of the preceding claims,
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wherein the condylar bearing surface of the femoral component (22) comprises a pair of condylar surfaces (28, 30), the hinge post (40) being rotably connected to the femoral component (22) between the condylar surfaces (28, 30) of the femoral component (22).
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Patentanspruch 8 lautet in der deutschen Übersetzung:
38
8. Knieprothese nach einem der vorhergehenden Ansprüche,
39
wobei die Kondylenlagerfläche der Femurkomponente (22) ein Paar von Kondylenflächen (28, 30) umfasst, wobei der Gelenkzapfen (40) drehbar mit der Femurkomponente (22) zwischen den Kondylenflächen (28, 30) der Femurkomponente (22) verbunden ist.
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Wegen des Wortlauts der Ansprüche 3 bis 6 und 9 bis 15 wird auf die Streitpatentschrift Bezug genommen.
41
Mit ihrer Nichtigkeitsklage macht die Klägerin die mangelnde Patentfähigkeit des jeweiligen Gegenstands der Patentansprüche 1, 2, 7 und 8 des Streitpatents geltend.
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Sie hat folgende Schriften bzw. Dokumente vorgelegt:
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NK1 EP 2 272 468 B1 (Streitpatent)
44
NK2 Registerauszug aus dem Patentregister des DPMA zum Streitpatent
45
NK3 US 5,370,701 („Finn“)
46
NK4 Merkmalsgliederung der Patentansprüche 1, 2, 7 und 8 des Streitpatents
47
NK5 US 5,011,496 („Forte“)
48
NK6 US 5,766,267 („Goodman“)
49
NK7 US 4,219,893 („Noiles“)
50
NK8 Kopie der Klageschrift zum LG Mannheim v. 14.05.2014
51
NK9 Verfügung der 7. Zivilkammer des LG Mannheim v. 23.06.2014
52
NK10 Mitteilung der 7. Zivilkammer des LG Mannheim v. 02.07.2014
53
NK11 Klageerwiderung der Beklagten beim LG Mannheim v. 30.09.2014
54
NK12 Wikipedia-Auszug „Reibungskoeffizient“
55
NK13 Wikipedia-Auszug „Schnappverbindung“
56
NK14 Auszug aus DuPont™ Technische Kunststoffe – Allgemeine
57
Konstruktionsprinzipien – Modul I
58
NK15 US 4,834,081
59
NK16 DE 199 15 053 A1
60
NK17 EP 0716 839 A1
61
NK18 Kopie des Urteils des Landgerichts Mannheim vom
23.01.2015
62
NK19 Kopie des Streitwertbeschlusses des LG Mannheim
63
vom 23.01.2015
64
NK20 Ausdruck auf www.wikipedia.de – Meniskus (Anatomie)
65
NK21 Ausdruck aus www.ortho-zentrum.de – Meniskus
66
NK22 EP 0 724 868 A1
67
NK23 US 4 301 553.
68
Die Klägerin beruft sich darauf, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu, da er aus der NK5 bekannt sei. Weder umfasse Anspruch 1 ein Merkmal, welches definiere, dass die Meniskuskomponente und die Gelenkzapfenverlängerung getrennt ausgebildete Bauteile seien, wie auch die Materialen nicht definiert seien, noch enthalte Anspruch 1 eine Einschränkung dahingehend, dass die Gelenkzapfenverlängerung nicht gleichzeitig als Lagerbuchse genutzt werden könne. Merkmal 4.1 lasse auch offen, ob nur die Gelenkzapfenverlängerung in die Tibiakomponente hineinragen dürfe und nicht auch der Gelenkzapfen. Der „depending shaft 54“ sei deshalb eine erfindungsgemäße Gelenkzapfenverlängerung des Gelenkzapfens „hinge post 106“, wobei es auch mangels einer Einschränkung im Anspruch unerheblich sei, ob der in die Tibiakomponente hineinragende Überstand geringfügig sei oder nicht.
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Zudem beruhe der Anspruch 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf die Lehre der NK6 in Verbindung mit der NK5, wie auch der NK6 unter Berücksichtigung der im Prüfungsverfahren genannten NK3 (dort D1), da der Fachmann Veranlassung gehabt habe, die Meniskuskomponente relativ zur Tibiakomponente drehbar gelagert auszubilden. So werde in NK6 bereits darauf hingewiesen, dass die Elemente zum Koppeln des Meniskusteils mit dem Tibiaplateau optional seien wie auch die NK6 ausdrücklich auf die NK3 hinweise.
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Ausgehend von der Aufgabenstellung, die Knieprothese so zu verbessern, dass sie eine dem natürlichen Kniegelenk möglichst nahe kommende Funktionalität aufweise, sei es deshalb für den Fachmann naheliegend gewesen, die rotierbar gelagerte Meniskuskomponente einzubeziehen, zumal die Kongruenz der zusammenwirkenden Gleitflächen am Femurteil und der Meniskuskomponente vorteilhaft hätten beibehalten werden können und deshalb keineswegs eine Inkompabilität bestanden habe.
71
Auch die mit NK3 vergleichbare Lehre nach NK16 unter Berücksichtigung der NK15 wie auch NK17, welche den einzigen Unterschied einer zylindrischen Presssitzverbindung zeige, führten in naheliegender Weise zur Lehre des Streitpatents. Hinzu komme, dass NK22, die auch einen modularen Gelenkzapfen zeige, insbesondere in Figur 7 (Spalte 8, Zeilen 30 ff.) ausgehend von der fixen Meniskuskomponente eine Reduzierung der Flächenbelastung anstrebe. Bei der NK22 erfolge zudem ebenfalls eine Koppelung der Femur- mit der Tibiakomponente durch das Element 8, welches eine Gelenkzapfenverlängerung darstelle in Verbindung mit dem Element 12, welches einen Gelenkzapfen im Sinne des Streitpatents bilde.
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Die Klägerin beantragt,
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das europäische Patent 2 272 468 B1 mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Ansprüche 1, 2, 7, soweit Anspruch 7 direkt auf Anspruch 1 oder 2 rückbezogen ist, und 8, soweit Anspruch 8 direkt auf Anspruch 1 oder 2 rückbezogen ist oder soweit dieser auf den direkt auf Anspruch 1 oder 2 rückbezogenen Anspruch 7 rückbezogen ist, für nichtig zu erklären.
74
Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen, hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit das Streitpatent mit Hilfsanträgen 1a, 1b, 2a, 3a, 4 und 5, eingereicht mit Schriftsätzen vom 5. November 2015 und 28. April 2016, verteidigt wird. Die Beklagten haben durch ihren Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung ferner sinngemäß zu Protokoll erklären lassen:
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Die genannten Hilfsanträge umfassten die Patentansprüche 1, 2 und 8, daneben werde der Anspruch 7 in seinem Rückbezug auf Anspruch 1 in der geltenden Fassung verteidigt. Darüber hinaus werde Anspruch 2 isoliert verteidigt, ferner Anspruch 8 in seinem Rückbezug auf Anspruch 7 und auf seinen mittelbaren Rückbezug auf Anspruch 1.
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Der Fassung des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag 1a werde folgendes Merkmal hinzugefügt: „wherein the hinge post is cannulated along the longitudinal axis“.
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Der Fassung des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag 1b werde folgendes Merkmal hinzugefügt: „wherein the hinge post is cannulated along the longitudinal axis, wherein the locking taper for cooperating with the locking taper (46) of the hinge post extension (42) is formed in the cannulation of the hinge post (40).“
79
Der Fassung des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag 2a werde folgendes Merkmal hinzugefügt: „wherein the hinge post (40) is a cannulated hinge post (40), wherein the hinge post extension (42) may be anteriorly positioned and secured through the cannulation of the hinge post (40).“
80
Der Fassung des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag 3a werde folgendes Merkmal hinzugefügt: „wherein the hinge post (40) is a cannulated hinge post (40), wherein the locking taper for cooperating with the locking taper (46) of the hinge post extension (42) is formed in the cannulation of the hinge post (40), and wherein means for securing the hinge post extension (42) in the hinge post (40) are formed in the cannulation of the hinge post (40).“
81
Der Fassung des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag 4 werde folgendes Merkmal hinzugefügt: „wherein the hinge post extension (42) is secured in the hinge post (40) by means of a threaded securing element (38).“
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Der Fassung des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag 5 werde folgendes Merkmal hinzugefügt: „wherein the hinge post extension (42) is secured in the hinge post (40) by means of a threaded securing element (38), and wherein the hinge post (40) is cannulated and the securing element (38) is arranged proximal with respect to the cooperating locking tapers (46) in the hinge post (40).“
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Die Beklagten treten in der Sache den Ausführungen der Klägerin in allen Punkten entgegen und erachten das Streitpatent für patentfähig. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei neu gegenüber der NK5, da die dort bekannte Knieprothese keinen modularen Gelenkzapfen, wie er durch die Merkmale 2, 3 und 10 des Anspruchs 1 definiert werde, und auch keine Verriegelungskonen aufweise. Insbesondere zeige der dortige „depending shaft 54“ keine zum modularen Gelenkzapfen separate Gelenkzapfenverlängerung 42, sondern einen einstückigen Gelenkzapfen 106 und eine Meniskusverlängerung 54 aus Kunststoff, die als Lagerbuchse zwischen dem Gelenkzapfen 106 und der Tibiakomponente 14 diene.
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Dieser Gegenstand beruhe auch auf erfinderischer Tätigkeit, da der Fachmann ausgehend von der NK6 den Einsatz einer drehbaren Meniskuskomponente wegen der abweichenden kinematischen Situation einer fixierten gegenüber einer erfindungsgemäß verdrehbaren Meniskuskomponente nicht in Erwägung ziehen würde: Denn bei der NK6 werde die Rotation dadurch ermöglicht, dass sich die Femurkomponente relativ zur Meniskuskomponente drehen könne – mit entsprechender Ausgestaltung der Artikulationsflächen – wobei diese Komponenten durch eine Schnappverbindung fixiert und nur gemeinsam verdrehbar seien. Die Rotation werde folglich durch die Drehung der Femurkomponente gegenüber der Meniskuskomponente ermöglicht, was im Hinblick auf die für die Lastübertragung sorgenden Artikulationsflächen eine abgestimmte Ausgestaltung erfordere. Letztlich erforderte ein zusätzlicher Freiheitsgrad ein komplettes Neudesign der Knieprothese. Dies gelte auch, wenn man die NK5 als Ausgangspunkt wähle.
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Der Senat hat den Parteien am 7. September 2015 einen qualifizierten Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG zugeleitet, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird (Bl. 224 ff. d. A.). Im Übrigen wird ferner auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze samt allen Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10. Mai 2016 Bezug genommen.