Sozialrecht

Anspruch auf Heilbehandlung und Verletztenrente bei HWS Distorsion

Aktenzeichen  L 2 U 371/14

Datum:
24.2.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII SGB VII § 26, § 29, § 30, § 56
SGB V SGB V § 13 Abs. 3

 

Leitsatz

1. Die Beurteilung der Ursachenzusammenhänge bei HWS Distorsionen muss sich auf die herrschende wissenschaftliche Lehrmeinung zu den Ursachenzusammenhängen und damit auf die Ansicht der Mehrheit der im Fachbereich veröffentlichten Wissenschaftler stützen. (amtlicher Leitsatz)
2. Nach derzeit herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung erbringen funktionelle Befunde wie ein funktionelles MRT keine wesentlichen Erkenntnisse bei einem Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule. (amtlicher Leitsatz)
3 Die Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB VII sind nach § 26 Abs. 4 S. 2 SGB VII grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Eine Kostenerstattung findet allein unter den Voraussetzungen von § 13 Abs. 3 SGB V statt, der angesichts der Regelungslücke hinsichtlich der Kostenerstattung entsprechend anwendbar ist. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 23 U 566/12 2014-07-15 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 15.07.2014 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtlichen Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A) Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung erweist sich als unbegründet. Die Klägerin hat weder Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 02.09.2011 noch auf weitere Heilbehandlung von Unfallfolgen über den 29.12.2011 hinaus.
1. Die form- und fristgerecht erhobenen Klagen in Form der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG sind unbegründet, soweit die Beklagte im Bescheid vom 07.08.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2012 einen Anspruch der Klägerin auf Verletztenrente abgelehnt hat.
Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Mindern die Folgen des Versicherungsfalles die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H., besteht für den Versicherungsfall gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB VII Anspruch auf Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundersätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Nach § 56 Abs. 3
Satz 2 SGB VII wird bei einer MdE Teilrente in Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente geleistet, der dem Grad der MdE entspricht.
Aus dem von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall der Klägerin vom 02.09.2011 resultieren aber über die 26. Woche hinaus nach Überzeugung des Senats keine Unfallfolgen, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) begründen.
Gesundheitsstörungen, die wesentlich durch das Unfallereignis (mit-) verursacht worden sind, sind als Gesundheitserstschäden Tatbestandsvoraussetzung eines Arbeitsunfalls nach § 8 Abs. 1 SGB VII. Unfallfolgen wiederum sind Gesundheitsstörungen, die wesentlich durch diese unfallbedingten Gesundheitserstschäden verursacht worden sind.
Für die erforderliche Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheits(erst)schaden sowie für die Kausalität zwischen Gesundheits(erst)schaden und weiteren Gesundheitsschäden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG vom 17.02.2009 – B 2 U 18/07 R – Juris RdNr. 12), die auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht. Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Die versicherte Verrichtung muss also eine Wirkursache (ggf. neben anderen Wirkursachen) der Einwirkung, die Einwirkung muss eine Wirkursache (ggf. neben anderen Wirkursachen) des Gesundheitserstschadens und der Gesundheitserstschaden muss (ggf. neben anderen Wirkursachen) für die Unfallfolgen sein (vgl. hierzu BSG vom 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R – Juris RdNr. 56). Als rechtserheblich werden aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.
Welche Ursache wesentlich ist, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet werden (vgl. BSG vom 17.02.2009 – B 2 U 18/07 R – Juris RdNr. 12). Außerdem gründet die Beurteilung auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand über Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten (vgl. BSG vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R – Juris RdNr. 17). Gesichtspunkte für die Beurteilung sind neben der versicherten Ursache als solcher, einschließlich Art und Ausmaß der Einwirkung, u. a. die konkurrierende Ursache (nach Art und Ausmaß), der zeitliche Ablauf des Geschehens, das Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, Befunde und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie die gesamte Krankengeschichte (vgl. BSG vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R – Juris RdNr. 16).
Für die Beurteilung eines Wirkungszusammenhangs reicht ein bloßer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang nicht aus; vielmehr ist der jeweils neueste anerkannte Stand des einschlägigen Erfahrungswissens als Maßstab für die objektive Kausalitätsbeurteilung zugrunde zu legen (vgl. BSG vom 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R – Juris RdNr. 61). Dies wird in der Regel die Auffassung der Mehrheit der im jeweiligen Fachbereich veröffentlichenden Wissenschaftler/Fachkundigen eines Fachgebiets sein. Lässt sich eine solche „herrschende Meinung“ nicht feststellen, so darf der Richter nicht als Schiedsrichter im Streit einer Wissenschaft fungieren und selbst eine (von ihm anerkannte) Ansicht zur maßgeblichen des jeweiligen für ihn fachfremden Wissenschaftsgebietes erklären (vgl. BSG ebenda). Vielmehr kommt, falls auch durch staatliche Merkblätter, Empfehlungen der Fachverbände etc. kein von den Fachkreisen mehrheitlich anerkannter neuester Erfahrungsstand festgestellt werden kann, eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen in Betracht (vgl. BSG ebenda unter Abgrenzung zum Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R – Juris RdNr. 18).
Ausgangsbasis der richterlichen Erkenntnisbildung über wissenschaftliche Erfahrungssätze sind auch bei Fragen der objektiven Verursachung Fachbücher und Standardwerke insbesondere zur Begutachtung im jeweiligen Bereich, Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und andere wissenschaftliche Veröffentlichungen (vgl. hierzu BSG vom 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R – Juris RdNr. 68). Grundlegende und fundierte Zweifel seitens der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler können einem wissenschaftlichem Erkenntnisstand den Boden entziehen; einzelne Gegenstimmen sind dazu aber nicht geeignet (vgl. hierzu auch BSG vom 23.04.2015 – B 2 U 10/14 R – Juris RdNr. 22).
Soweit der Klägerbevollmächtigte moniert hat, die Beurteilung von SG und Beklagter stütze sich ausschließlich auf die Meinung der „Schulmedizin“, ist folglich ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich die Beurteilung der Ursachenzusammenhänge nach der BSG-Rechtsprechung auf die herrschende wissenschaftliche Lehrmeinung zu den Ursachenzusammenhängen stützen muss und damit auf die Ansicht der Mehrheit der im Fachbereich veröffentlichen Wissenschaftler (vgl. hierzu bereits das Urteil des Senats vom 08.02.2012 – L 2 U 80/10 – Juris RdNr. 66).
Hinsichtlich des Beweismaßstabes ist zu beachten, dass das Vorliegen eines Gesundheits(erst)schadens bzw. eines Gesundheitsfolgeschadens (Unfallfolgen) im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen muss, während für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitserst- bzw. -folgeschaden die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit genügt (vgl. BSG vom 02.04.2009 – B 2 U 29/07 R – Juris RdNr. 16).
Der Senat schließt sich der Einschätzung des SG an, dass das Unfallereignis am 02.09.2011 bei der Klägerin lediglich eine leichte HWS-Zerrung Grad 0-1 nach Schröter bzw. Grad 1 nach Erdmann oder Quebec Tasc Force verursacht hat. Der Senat nimmt auf die entsprechenden Ausführungen im SG-Urteil Bezug, die auf das Gutachten von Dr. G. unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Literatur wie Schönberger/Mehrtens/Valentin, „Arbeitsunfall und Berufskrankheit“ 8. Auflage Bl. 465 ff. sowie den Aufsatz von Thomann (MedSach 2012) gestützt sind.
Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin: Weitergehende Gesundheitserstschäden über eine leichte Zerrung der HWS-Muskulatur bzw. eine solche HWS-Distorsion Grad 1 hinaus sind nach den vorliegenden Unterlagen und Gutachten nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Weder sind Bandverletzungen im Bereich der Ligamenta alaria bzw. des Ligamentum transversum im Vollbeweis nachgewiesen noch eine krankheitswertige Asymmetrie des Dens axis bzw. eine Gefügestörung.
Dr. G. hat schlüssig und überzeugend dargelegt, dass weder Erstschadensbild noch Beschwerdeverlauf noch bildgebende Befunde einschließlich des von Dr. F. gefertigten MRT vom 13.06.2012 – allein oder in der Gesamtschau – entsprechende Gesundheitsstörungen belegen.
So hat das Erstschadensbild am 06.09.2011 – vier Tage nach dem Unfall – laut Dr. G. eine unspezifische HWS-Symptomatik gezeigt, keine neurologischen Ausfälle und keine relevante vegetative Begleitsymptomatik, im Sinne einer leichten Zerrung ohne schwerwiegendere – insbesondere discoligamentäre oder knöcherne – Verletzungen. Ausstrahlende Beschwerden in die Extremitäten wie Sensibilitätsstörungen, Schwäche in den Armen oder Ähnliches haben, wie Dr. G. unter Auswertung der vorliegenden Befunde schlüssig dargelegt hat, zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Diese Einschätzung stimmt im Übrigen auch mit derjenigen der von der Klägerin aufgesuchten Neurologen Dr. v. B., Dr. B. und Dr. O. überein.
Auch das MRT vom 27.09.2011 hat – wie schon vom Radiologen im Befund ausgeführt – keine Hinweise für knöcherne, diskoligamentäre oder weichteilige Verletzungen, Einblutungen, Knochenmarködeme oder Gefügestörungen gezeigt. In der Beurteilung, dass das Wirbelkörperhämangiom im 7. Halswirbelkörper und der Bandscheibenvorfall im Segment C5/6 angesichts der bereits erfolgten knöchernen Überbauung keine Folgen des Unfalls vom 02.09.2011 sind, stimmen die Sachverständigen im Übrigen nachvollziehbar überein.
Unter Auswertung der MRT-Aufnahmen vom 13.06.2012 gemeinsam mit der Radiologin Dr. H. hat Dr. G. lediglich physiologische Kaliberschwankungen im Bandverlauf, aber keine Hinweise für posttraumatische bzw. unfallbedingte Verletzungen an den Ligamenta alaria bzw. des Ligamentum transversum feststellen können, bei unauffälligem atlantooccipitalen Übergang und einer im Normbereich liegenden leichten asymmetrischen Stellung des Dens axis mit erkennbarem physiologischen Bewegungsspiel in den Funktionsaufnahmen. Überzeugend hat Dr. G. ausgeführt, dass die Verletzung eines Ligamentum alaria nur bei zusätzlichen knöchernen und ligamentären Verletzungen zu erwarten ist, mit dann ausgeprägter sofortiger Symptomatik, während bei der Klägerin auch nach ihren eigenen Angaben bei Untersuchung durch Dr. G. ein beschwerdefreies Intervall von einigen Tagen vorgelegen hat. Während dann laut Klägerin zunächst ein Ziehen im Nacken aufgetreten war, haben die Beschwerden etwa vierzehn Tage nach dem Unfall zugenommen, mit Unwohlsein, Steifigkeit, Schlappheit, Antriebsarmut, Kopfschmerzen und Schwindel. Der Crescendoverlauf mit Zunahme der Beschwerden ca. zwei Wochen nach dem Unfall, den auch Prof. Dr. W. beschreibt und der sich in den zeitnahen Berichten von Dr. H. u. a. vom 27.09.2011 wiederfindet, spricht aber gegen den Unfall als wesentliche Teilursache der Beschwerden. Eine progrediente Beschwerdesymptomatik mit Crescendo-Charakter ist innerhalb der ersten 48 Stunden möglich, danach spricht sie gegen eine organische Verursachung (vgl. SMV Bl. 463; auch Lang u. a., Leitlinie zur Begutachtung der Halswirbelsäulendistorsion, 2008, a. a. O.; vgl. zum symptomfreien Intervall von max. 48 Stunden für Schweregrad 1 nach Erdmann auch Tegenthoff u. a., Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Beschleunigungstrauma der HWS, Stand 2012, veröffentlicht unter www.a…org).
Zutreffend hat das SG darauf hingewiesen, dass eine bloße Vereinbarkeit der Befundkonstellation mit einer „posttraumatischen“ Verletzungsfolge nach Kopf-Hals-Trauma – so die Aussage von Dr. F. im Befund zum funktionellen MRT vom 13.06.2012 – als Nachweis für Bandzerreißungen nicht ausreicht.
Dass nach derzeit herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung funktionelle bildgebende Befunde keine wesentlichen Erkenntnisse bei einem Beschleunigungstrauma der HWS erbringen, ergibt sich auch aus der aktuellen Leitlinie der DGN (Tegenthoff u. a. a. a. O.), wonach im Rahmen der Diagnostik solche funktionellen bildgebenden Befunde (z. B. funktionelles MRT) ausdrücklich nicht empfohlen werden. Ferner wird in dieser Leitlinie dargelegt, dass früher Verletzungen der Ligamenta alaria überbewertet worden sind.
Vor diesem Hintergrund überzeugen die Ausführungen von Prof. Dr. W. den Senat nicht, der aus den funktionellen bildgebenden Befunden Bänderverletzungen mit daraus resultierender anhaltender Instabilität ableitet. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Beschwerden wie ausgeprägte Muskelverspannungen, Druckschmerzen und (verspannungsbedingte) Bewegungseinschränkungen (Hypomobilität) keineswegs nur bei HWS-Schleudertraumata auftreten, sondern ebenso bei degenerativen HWS-Beschwerden auftreten können und bei der Klägerin auch nach Prof. Dr. W. – altersentsprechende – degenerative Veränderungen der HWS vorliegen mit Osteochondrose, Spondylose und Spondylarthrose sowie ein alter Bandscheibenvorfall im Bereich C 5/6. Soweit daher Dr. F. im Befund seines Funktions-CT vom 09.12.2013 auf eine Dezentrierung des Atlasrings nach links als Folge eines erhöhten Muskeltonus der links am Atlas ansetzenden Muskulatur und mäßiggradige Hypomobilitäten der HWS hinweist, lassen sich daraus keine Rückschlüsse auf die Ursache dieser mit Bewegungseinschränkungen einhergehenden Muskelverspannungen ziehen. Ebensowenig legt Dr. G. dar, warum rezidivierende zervikale und thorakale Muskelverspannungen und Wirbelsäulen- sowie Rippenblockaden auf das Jahre zurückliegende Unfallereignis als wesentliche Teilursache zurückzuführen sein sollen. Dass das sogenannte „cervicocephale Syndrom“ lediglich eine unspezifische Umschreibung für Beschwerden im Bereich von HWS und Kopf darstellt, aber keine Diagnose, die Rückschlüsse auf die Genese zulässt, räumt Prof. Dr. W. letztlich selbst ein, wenn er in seiner ergänzenden Stellungnahme ausführt, dass dieses Syndrom vornehmlich Schmerzen, Degenerationen (!) und posttraumatische Veränderungen der oberen HWS mit Ausstrahlung in den Kopf erfasst.
Die Begründung eines Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfall vom 02.09.2011 und den breit gefächerten Beschwerden der Klägerin – von Muskelverspannungen bis hin zu Wortfindungsstörungen – in den Ausführungen von Prof. Dr. W., Dr. A.,
Dr. G. und Dr. T. erschöpft sich im Wesentlichen in der Feststellung, dass die Beschwerden zeitlich nach dem Unfall aufgetreten sind, dass ein gewisser Prozentsatz von Menschen aus nach wie vor letztlich ungeklärten Gründen zeitlich nach HWS-Distorsionen chronische Beschwerden entwickelt und auf die Beschaffenheit von Bändern und Gelenken der Klägerin, die sich allerdings – wie dargelegt – im Normbereich befinden und auf Basis der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung nicht als Ursache für anhaltende Beschwerden anzuerkennen sind. Dabei setzen sich Prof. Dr. W., Dr. A., Dr. G. oder Dr. T. insbesondere nicht mit der Crescendo-Problematik der Beschwerden auseinander. Soweit der Arzt für Naturheilverfahren
Dr. A. auf zentrale nervöse Störungen oder Symptome mit Kleinhirnirritation aufgrund von Instabilitäten hinweist, ist festzuhalten, dass von Fachärzten nie entsprechende neurologische Auffälligkeiten festgestellt worden sind.
Damit sind zur Überzeugung des Senats über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus keine wesentlichen Unfallfolgen mehr nachgewiesen. Die über diesen Zeitpunkt hinaus bestehenden Beschwerden lassen sich in Übereinstimmung mit Dr. G. und Prof. Dr. H. nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 02.09.2011 bzw. die leichte Zerrung im Bereich der HWS als wesentliche Teilursache zurückführen.
2. Auch die auf Erstattung weiterer Heilbehandlungskosten gerichtete Klage erweist sich als unbegründet.
Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Heilbehandlung von Folgen eines Versicherungsfalls (vgl. § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII, hierzu BSG vom 20.03.2007 – B 2 U 38/05 R – Juris RdNr.15). Dabei bestimmt der Unfallversicherungsträger nach § 26 Abs. 5 Satz 1 SGB VII Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen (vgl. BSG vom 29.11.2011 – B 2 U 21/10 R – Juris RdNr. 16 m. w. N.: BSG vom 22.03.2011 – B 2 U 12/10 R – Juris RdNr. 20 f.). Die Leistungen sind nach § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB VII als Sach- und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen und als „Naturalleistung“ zu gewähren, sofern nicht Ausnahmen im SGB VII oder SGB IX ausdrücklich vorgesehen sind (vgl. BSG vom 20.03.2007 – B 2 U 38/05 R – Juris RdNr. 13). Eine Kostenerstattung wie hier für selbst beschaffte Leistungen zur Heilbehandlung findet allein unter den Voraussetzungen von § 13 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) statt, der angesichts der Regelungslücke hinsichtlich der Kostenerstattung entsprechend anwendbar ist (vgl. BSG ebenda).
Die Beklagte hat aber weder eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht noch hat sie eine notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt, so dass der Klägerin dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind.
Wie bereits dargelegt hat die Klägerin aufgrund des Unfalls vom 02.09.2011 nur eine leichtgradige HWS-Zerrung maximal Grad 1 nach Schröter erlitten, ohne Begleitverletzungen im Bereich Knochen, Bändern oder Weichteilen. Vor diesem Hintergrund hat
Dr. G. eine unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit der Klägerin nur bis 30.09.2011 festgestellt. Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf Heilbehandlung von Unfallfolgen über die bereits bis 29.12.2011 bewilligten Ansprüche hinaus und infolgedessen auch keinen Erstattungsanspruch von Heilbehandlungskosten. Beschwerden, die über diesen Zeitraum hinaus bestehen, lassen sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall bzw. die HWS-Distorsion als wesentliche Teilursache zurückführen. Die abweichende Einschätzung von Prof. Dr. W. beruht auf der unzutreffenden Annahme weiterer Unfallfolgen und überzeugt daher auch insoweit nicht.
Ferner besteht schon mangels ärztlicher Verordnung kein Anspruch auf Kostenerstattung für die bis 29.12.2011 verwendeten Thermacare Wärmeauflagen bzw. Wärmeumschläge oder das Seminar Feldenkrais-Methode. Dabei kann der Senat offenlassen, ob Thermacare Wärmeauflagen bzw. Wärmeumschläge, bei denen Wärme durch Oxidation bestimmter Substanzen mit Luftsauerstoff nach Entnahme aus der Verpackung erzeugt wird, Arznei- oder Verbandsmittel i. S.v. § 29 SGB VII sind, und ob ein Seminar zur Feldenkrais-Methode, das vorrangig der verbesserten Selbstwahrnehmung und Körpererfahrung unter Anleitung eines Lehrers dient, die Voraussetzungen für ein Heilmittel i. S.v. § 30 SGB VII erfüllt. Denn nach §§ 29, 30 SGB VII setzt ein Anspruch eine ärztliche Verordnung voraus, die hier fehlt.
B) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
C) Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

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