Sozialrecht

Aufforderung zur Antragstellung auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation

Aktenzeichen  L 20 KR 545/16

Datum:
30.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ASR – 2017, 146
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 51 Abs. 1
SGB X § 24, § 37 Abs. 1, § 41 Abs. 1
SGG § 109

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit der Aufforderung einer Krankenkasse zur Antragstellung auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 51 Abs. 1 SGB V. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 6 KR 104/15 2016-09-29 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 29.09.2016 und der Bescheid der Beklagten vom 06.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015 aufgehoben.
II. Die Beklagte erstattet dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG), insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist begründet. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 06.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015, mit dem die Beklagte den Kläger aufgefordert hat, innerhalb von zehn Wochen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 51 Abs. 1 SGB V zu beantragen.
Zu Unrecht hat das SG die gegen diesen Bescheid zulässig mit einem reinen Anfechtungsantrag erhobene Klage abgewiesen (dazu, dass es sich bei der Aufforderung, einen Rehaantrag nach § 51 SGB V zu stellen, um einen Verwaltungsakt handelt, siehe auch BSG Urteil vom 07.12.2004, B 1 KR 6/03 R, juris Rn. 30; der Erhebung einer Feststellungsklage auf Feststellung, dass dem Kläger über den 20.04.2015 Krankengeld zustand, bedurfte es daneben nicht; zwar hat das BSG im Urteil vom 16.12.2014, B 1 KR 32/13 R, auch einen Feststellungsantrag aufgenommen, dort ging es aber nicht um einen Bescheid aufgrund von § 51 SGB V, sondern um einen im Folgenden erlassenen Bescheid, der aufgrund der nicht erfolgten Stellung eines Rehaantrags das Krankengeld einstellte).
Dagegen durfte das SG aber mittels Gerichtsbescheid entscheiden. Dem Vorsitzenden der zuständigen Kammer des SG steht insoweit ein gewisser Beurteilungsspielraum zu (so auch Kühl in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 105 Rn. 3), der hier zur Überzeugung des Senats nicht überschritten worden ist; die Sache weist – auch aus Sicht des Senats – keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt. Das klägerische Schreiben vom 04.03.2016 an das SG, in dem dieser zum Ausdruck gebracht hat, dass er mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht einverstanden sei, steht dem nicht entgegen. Der Zustimmung der Beteiligten für den Erlass eines Gerichtsbescheides bedarf es nicht. § 105 Abs. 1 S. 2 SGG verlangt nur die vorherige Anhörung, die hier durchgeführt worden ist.
Der Bescheid vom 06.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Zu Unrecht hat die Beklagte den Kläger im Bescheid vom 06.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015 aufgefordert, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu stellen. Der Bescheid ist schon formell rechtswidrig, weil die Beklagte den Kläger vor Erlass des Bescheides vom 06.02.2015 nicht angehört und diesen Fehler auch nicht geheilt hat (dazu unter 1.). Darüber hinaus ist der Bescheid aber auch materiell rechtswidrig; die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V liegen zur Überzeugung des Senats nicht vor und die Beklagte hat ihr Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt (dazu unter 2.). Entgegen der Ansicht des Klägers ist der Bescheid vom 06.02.2015 aber wirksam bekannt gegeben worden und damit existent (vgl. § 37 Abs. 1 S. 2, § 39 SGB X); der Klägerbevollmächtigte gibt mit seinem Widerspruch vom 16.02.2015, dem er im Übrigen den Bescheid vom 06.02.2015 in Kopie selbst beigefügt hat, auch zu verstehen, dass er diesen tatsächlich erhalten hat.
1. Nach § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Von diesem grundsätzlichen Anhörungserfordernis vor dem Erlass belastender Verwaltungsakte kann nur unter den, hier nicht gegebenen, Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 SGB X abgesehen werden.
Eine Anhörung vor Erlass des Bescheides vom 06.02.2015, der in Rechte des Klägers eingreift, hat die Beklagte nicht durchgeführt, mit der Folge, dass der Bescheid formell rechtswidrig und daher schon aus diesem Grund aufzuheben ist (s.a. § 42 S. 2 SGB X).
Eine Heilung dieses Fehlers nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X ist – entgegen der Ansicht der Beklagten und des SG – nicht erfolgt. Die unterbliebene Anhörung ist weder im Widerspruchsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren (vgl. § 41 Abs. 2 SGB X) nachgeholt worden.
Im Widerspruchsverfahren hat die Beklagte keine Anhörung des Klägers durchgeführt. Ihre Ermessenserwägungen hat sie dem Kläger erst im Widerspruchsbescheid mitgeteilt, so dass dieser während des Vorverfahrens noch keine Gelegenheit hatte, sich dazu zu äußern. Demnach ist bis dahin noch keine Heilung des Anhörungsmangels eingetreten (vgl. BSG Urteil vom 20.12.2012, B 10 LW 2/11 R, juris Rn. 38 m.w.N.).
Auch eine Nachholung der Anhörung während des Gerichtsverfahrens ist nicht erfolgt. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des BSG, die in der Literatur Zustimmung gefunden hat, setzt die Nachholung der fehlenden oder fehlerhaften Anhörung während des Gerichtsverfahrens voraus, dass die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung einräumt und danach zu erkennen gibt, ob sie nach Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält (siehe BSG Urteil vom 20.12.2012, B 10 LW 2/11 R, juris Rn. 39 m.w.N.). Dies setzt regelmäßig voraus, dass die Behörde dem Kläger in einem gesonderten „Anhörungsschreiben“ alle erheblichen Tatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will, und sie ihm eine angemessene Frist zur Äußerung setzt (BSG a.a.O.). Ferner ist erforderlich, dass die Behörde das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert (BSG a.a.O.). Die bloße Erwiderung der Behörde auf die Anfechtungsklage – gegebenenfalls verbunden mit einem Antrag auf Klageabweisung – reicht insoweit nicht aus (BSG a.aO.). Nichts anderes – nämlich die bloße Erwiderung der Behörde auf die Anfechtungsklage – hat die Beklagte hier aber getan, so dass es an einer Nachholung der Anhörung fehlt und der Bescheid vom 06.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015 formell rechtswidrig und daher schon aus diesem Grund aufzuheben ist.
2. Darüber hinaus ist der Bescheid vom 06.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015 aber auch materiell rechtswidrig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V liegen zur Überzeugung des Senats nicht vor; im Übrigen hat die Beklagte ihr Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt.
Nach § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V kann die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen haben. Stellen Versicherte innerhalb der Frist den Antrag nicht, entfällt der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf der Frist (§ 51 Abs. 3 S. 1 SGB V), wobei nach der Rechtsprechung des BSG der fruchtlose Fristablauf nicht das Stammrecht auf Krankengeld, sondern lediglich den Anspruch auf Auszahlung von Krankengeld entfallen lässt (siehe BSG Urteil vom 16.12.2014, B 1 KR 32/13 R, juris Rn. 17). Die in § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V formulierte Möglichkeit für die Krankenkassen, Versicherte zur Stellung eines Rehaantrags aufzufordern, dient in erster Linie dazu, beim Versicherten die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu beseitigen (vgl. BSG Urteil vom 16.12.2014, B 1 KR 31/13 R, juris Rn. 27). Dies ist Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes, wonach die Leistungen zur Teilhabe Vorrang haben vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, § 8 Abs. 1 und 2 SGB IX, § 26 Abs. 3 SGB VII; Brinkhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 51 SGB V Rn. 6, 10; BSG Urteil vom 16.12.2014, B 1 KR 31/13 R, juris Rn. 27). Inhaltlich normiert der Gesetzgeber dadurch eine gesetzliche Risikozuordnung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne eines Vor- und Nachrangs konkurrierender Leistungen (Brinkhoff a.a.O.; s.a. BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 1 KR 31/13 R, juris Rn. 22.). Auch ist es in erster Linie Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung, bei dauerhafter Erwerbsminderung mit Leistungen einzutreten; Krankengeld hat nicht die Funktion, dauerhafte Leistungsdefizite oder eine Erwerbsminderung finanziell abzusichern (vgl. BSG Urteil vom 16.12.2014, B 1 KR 31/13 R, juris Rn. 22.). Auch wenn die möglichst frühzeitige Stellung eines Antrags auf Teilhabeleistungen oftmals im Interesse der Versicherten liegen dürfte, räumt die Vorschrift einer Krankenkasse die Möglichkeit ein, einen Wegfall ihrer Leistungszuständigkeit für die Krankengeldauszahlung schon vor Erreichen der Anspruchshöchstdauer (§ 48 SGB V) zu bewirken, was regelmäßig auf Seiten der Versicherten zu erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen führt (Brinkhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 51 SGB V Rn. 10). Aus diesem Grund liegen die tatbestandlichen Anforderungen dieser Norm recht hoch (z.B. bei der Ausübung des Ermessens), die allgemeinen Form- und Verfahrensvorschriften sind zu beachten (Brinkhoff a.a.O.). Tatbestandsvoraussetzung von § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V ist, dass eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt. Dies ist der Fall, wenn entweder der gesundheitliche Zustand des Versicherten so schlecht ist, dass mit einer dauerhaften Minderung oder dem Verlust seiner Erwerbsfähigkeit gerechnet werden muss, oder eine solche Minderung bereits eingetreten ist (siehe dazu Brinkhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 51 SGB V Rn. 13). Abzustellen ist auf die persönlichen Verhältnisse des Versicherten, also auf dessen aktuelle körperliche sowie geistige Konstitution und die daraus resultierende gesundheitliche Einschränkung seiner konkreten beruflichen Leistungsfähigkeit (Brinkhoff a.a.O.). In Abgrenzung zur Akuterkrankung liegt eine dauerhafte Minderung oder Gefährdung vor, wenn diese voraussichtlich länger als sechs Monate bestehen wird (Anlehnung an § 101 Abs. 1 SGB VI; s.a. § 30 Abs. 1 S. 3 Bundesversorgungsgesetz und § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX, wo der Gesetzgeber auch auf einen Zeitraum von 6 Monaten abstellt), unabhängig davon, wie lange sie bereits besteht (Brinkhoff a.a.O.; Noftz in Hauck/Noftz, SGB, 11/14, § 51 SGB V Rn. 12). Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Krankenkasse, den Versicherten zur Antragstellung nach § 51 SGB V auffordern will, hat sie daher eine Prognose zu treffen, ob dieser Zustand der erheblichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit noch voraussichtlich 6 Monate andauern wird (siehe dazu auch Brinkhoff a.a.O.). Dies festzustellen, bedarf es nach § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V eines ärztlichen Gutachtens („nach ärztlichem Gutachten“). Dabei muss es sich um mehr als ein Attest oder eine ärztliche Bescheinigung handeln, vielmehr ist notwendig, dass die erhobenen Befunde – zumindest summarisch – wiedergegeben werden und sich der Arzt – soweit es sich um ein sozialmedizinisches Gutachten handelt – zu den nach seiner Auffassung durch die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer äußert (Brinkhoff a.a.O. Rn. 14; BSG Urteil vom 07.08.1991, 1/3 RK 26/90, juris Rn. 16 m.w.N.; s.a. Knorr/Krasney in Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung – Krankengeld – Mutterschaftsgeld, Stand 01/2015, § 51 SGB V Rn. 8); wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, muss es sich nicht zwangsläufig um ein Gutachten aufgrund ambulanter Untersuchung, sondern dann darf es sich auch um eine ärztliche Stellungnahme nach Aktenlage handeln (so im Ergebnis auch BSG a.a.O. und Brinkhoff a.a.O.). Der Gutachter darf sich allerdings nicht darauf beschränken, nur das Ergebnis seiner Überlegungen mitzuteilen; vielmehr muss das Gutachten aus sich heraus verständlich und für diejenigen, die Verwaltungsentscheidungen möglicherweise überprüfen, nachvollziehbar sein (BSG a.a.O. Rn. 17; Brinkhoff a.a.O.; Knorr/Krasney a.a.O.). Nur dann kann das Gutachten als Grundlage für die Verwaltungsentscheidung der Krankenkasse dienen, ob dem Erkrankten wegen erheblicher Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Frist zur Beantragung von Rehabilitationsmaßnahmen gesetzt werden kann; deshalb hat es alle medizinischen Gesichtspunkte zu enthalten, die die Beurteilung zulassen, ob eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit anzunehmen ist oder nicht (vgl. auch BSG a.a.O. Rn. 17). Diesen Anforderungen genügt das Gutachten des Dr. E. nicht. Dr. E. lag zwar das ausführliche, erst 3 Monate alte Gutachten der Dr. M. vom 14.07.2014 vor, so dass nicht zwangsläufig im Oktober 2014 (Zeitpunkt der Gutachtenserstellung von Dr. E.) eine erneute ambulante Untersuchung des Klägers durchzuführen war, sondern auch nach Aktenlage Stellung genommen werden konnte. Dr. E. hat sich aber im Ergebnis, worauf der Klägerbevollmächtigte insoweit zutreffend hingewiesen hat, nur darauf beschränkt, das Ergebnis seiner Überlegungen mitzuteilen, nämlich dass er der Meinung sei, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers erheblich gefährdet sei. Dabei hat er nur mitgeteilt, dass der Kläger seit März 2014 wegen Depression arbeitsunfähig sei, wobei bereits 12/2013 depressive Symptome vorhanden gewesen seien, sich in psychotherapeutischer Behandlung und in ambulanter hausärztlicher Behandlung befinde, die Arbeitsunfähigkeit von allen Behandlern weiter bestätigt werde, Dr. M. von einem aufgehobenen Leistungsvermögen zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung von unter 3 Stunden ausgegangen sei, trotz psychotherapeutischer Behandlung keine wesentliche Besserung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit habe erreicht werden können und eine Besserung in absehbarer Zeit unter den bisher laufenden Behandlungen nicht zu erwarten sei. Aus sich heraus ist dieses Gutachten nicht verständlich und schon gar nicht nachprüfbar. Auf der Basis eines solchen Gutachtens kann eine Krankenkasse, die die Entscheidung nach § 51 SGB V (und nicht der Arzt des MDK) zu treffen hat, keine den Anforderungen des § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V genügende Entscheidung treffen. Wie der Klägerbevollmächtigte zu Recht moniert hat, hat sich Dr. E. nicht zu den nach seiner Auffassung durch festgestellte Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen des Klägers geäußert. Es lässt sich nicht überprüfen, unter welchen medizinischen Gesichtspunkten hier von Dr. E. eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit angenommen wird. Es fehlt jede Angabe zum qualitativen Leistungsvermögen und auch hinsichtlich des quantitativen Leistungsvermögens übernimmt Dr. E. offenbar nur die Feststellung von Dr. M. im Gutachten vom 14.07.2014. Wie und warum er zu dieser Auffassung gelangt ist, erläutert Dr. E. nicht. Hinzu kommt, dass er auch nicht auf die voraussichtliche Dauer von Leistungseinschränkungen des Klägers eingeht. Dieses Unterlassen der Auseinandersetzung mit dem Fall des Klägers wird umso deutlicher, weil sich auch aus dem von Dr. M. erstellten Gutachten vom 14.07.2014 ergibt, dass dort ein Arbeitsplatzkonflikt Anfang des Jahres 2014 – mit der geplanten Abmahnung am 07.03.2014 (Beginn der Arbeitsunfähigkeit) und deswegen erstmalige Vorstellung beim Hausarzt Dr. R. an diesem Tag – erwähnt ist. Hinzu kommt, dass dem MDK-Gutachter Dr. E. im Rahmen seiner Gutachtenserstellung am 24.10.2014 der an den MDK adressierte Befundbericht des Dr. V. vom 23.09.2014 vorlag, in dem Letzterer angegeben hat, dass es bezüglich der Überwindung der Arbeitsunfähigkeit Konflikte am bisherigen Arbeitsplatz gebe, eine Wiederaufnahme dort nicht möglich sei und eine AU-Schreibung und neue Bewertung erst nach der arbeitsgerichtlichen Regelung ab Dezember 2014 sinnvoll erscheine; auch sei eine leichte Besserungstendenz vorhanden und rehabilitative Maßnahmen nicht erforderlich. Angesichts dessen hätte sich für Dr. E. aufdrängen müssen, dass die hier durch den Arbeitsplatzkonflikt hervorgerufene Arbeitsunfähigkeit u.U. nicht mehr lange andauern wird. Angesichts dessen wäre eine genauere Auseinandersetzung mit dem Fall des Klägers angebracht gewesen, ggf. nach Rücksprache beim behandelnden Arzt oder doch einer ambulanten Untersuchung des Klägers. Das Gutachten des Dr. E. genügt daher in keiner Hinsicht den nach § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V zu fordernden Kriterien, so dass es an einer Tatbestandsvoraussetzung des § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V fehlt und der Bescheid der Beklagten vom 06.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015 auch materiell rechtswidrig ist.
Hinzu kommt, dass die Beklagte auch ihr in § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V eingeräumtes Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt hat. Mit der Anordnung von Ermessen („kann“) räumt das Gesetz der Krankenkasse in § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V einen Entscheidungsspielraum ein, den die Gerichte zu achten haben. Gemäß § 54 Abs. 2 S. 2 SGG dürfen die Gerichte nur prüfen, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, mit anderen Worten, ob sie die ihr durch das Verwaltungsverfahrensrecht (vgl. § 39 Abs. 1 S. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch) auferlegte Verhaltenspflicht beachtet hat, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten hat (vgl. BSG Urteil vom 22.02.1995, 4 RA 44/94, juris Rn. 33). Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich also regelmäßig darauf, ob die Krankenkasse ihrer Pflicht zur Ermessensbetätigung nachgekommen ist (falls nein: Ermessensnichtgebrauch), ob sie mit dem Ergebnis ihrer Ermessensbetätigung, d.h. mit ihrer Ermessensentscheidung, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten, d.h. eine nach dem Gesetz nicht zugelassene Rechtsfolge gesetzt (Ermessensüberschreitung), und ob sie von dem Ermessen (und hier liegt der Entscheidungsfreiraum der Verwaltung) in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Abwägungsdefizit, Ermessensmissbrauch; vgl. BSG a.a.O.). Voll gerichtlich überprüfbar ist dabei aber, ob die Krankenkasse überhaupt Ermessen ausgeübt hat. Zur Ermessensausübung ist sie verfahrensrechtlich verpflichtet; insoweit steht ihr kein Entscheidungsspielraum zu.
Vorliegend hat die Beklagte erst im Widerspruchsbescheid erkannt, dass sie Ermessen auszuüben hat. Im Bescheid vom 06.02.2015 hat die Beklagte sich im Wesentlichen auf die Wiedergabe des gesetzlichen Wortlaut des § 51 SGB V beschränkt; Ermessen hat sie dort nicht ausgeübt. Da der Bescheid aber seine endgültige Gestalt erst in Form des Widerspruchsbescheides erhält (vgl. § 95 SGG) kann eine Ermessensausübung (nur) im Widerspruchsbescheid ausreichend sein. Die Beklagte hat im Widerspruchsbescheid von ihrem Ermessen aber nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht bzw. einen wichtigen Belang des Versicherten nicht eingestellt (vgl. § 54 Abs. 2 S. 2 SGG). Bei der Ausübung muss die Krankenkasse alle Umstände des Einzelfalls sorgfältig abwägen und die Belange des Versicherten beachten. Das Gesetz räumt bei der Abwägung zwischen den Gestaltungsmöglichkeiten des Versicherten und den Befugnissen der Krankenkasse nach § 51 SGB V allerdings grundsätzlich den Interessen der Krankenkasse den Vorrang ein (BSG, Urteil vom 07.12.2004, B 1 KR 6/03 R, juris Rn. 32). Eine Entscheidung zu Gunsten des Versicherten erfordert daher, dass seine Belange den bei Dauerzuständen gesetzlich typisierten Vorrang der Krankenkasseninteressen an einer Begrenzung der Krankengeldaufwendungen sowie der Überantwortung der Kompensation krankheitsbedingten Entgeltausfalls an die Rentenversicherungsträger überwiegen (BSG a.a.O.). Das bloße Interesse des Versicherten, weiterhin und möglichst lange das im Vergleich zu Rentenleistungen höhere Krankengeld in Anspruch nehmen zu wollen, ist daher nicht schützenswert; Gleiches gilt für das Interesse an höheren Rentenleistungen, die sich aus der Berücksichtigung zusätzlicher Anrechnungszeiten wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bzw. Beitragszeiten wegen Krankengeldbezugs ergeben können (vgl. BSG a.a.O. Rn. 34). In die Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen der Krankenkasse und des Versicherten sind aber, auch bei grundsätzlicher, typisierender Vorrangigkeit der Krankenkasseninteressen im Falle des § 51 SGB V (s.o.), auch etwaige besondere Umstände des Einzelfalles sowie persönliche Verhältnisse des Versicherten einzustellen, jedenfalls soweit sie der Krankenkasse „ohne weitere Ermittlungen“ bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens bekannt geworden sind (vgl. dazu auch BSG Urteil vom 22.02.1995, 4 RA 44/94, juris Rn. 34). Nicht erlaubt ist es den Gerichten aber, ihre Einschätzung, welches Verhalten zweckmäßig gewesen wäre, an die Stelle der Einschätzung der Verwaltung zu setzen (vgl. § 54 Abs. 2 S. 2 SGG). Auch unter Berücksichtigung dessen hat die Beklagte überhaupt nicht in die Ermessenausübung einbezogen, dass sich die (letztlich) zur Arbeitsunfähigkeit führenden Gesundheitsstörungen des Klägers offenbar aufgrund eines Arbeitsplatzkonflikts ergeben haben. Wie sie im Widerspruchsbescheid eingangs selbst ausgeführt hat, war der Kläger u.a. wegen „Kontaktanlässen mit Bezug auf das Berufsleben“ erkrankt. Auch aus dem von Dr. M. im Verfahren S 6 KR 176/14 erstellten Gutachten vom 14.07.2014, das der Beklagten als Beteiligte im dortigen Verfahren ab Ende Juli 2014 auch vorlag, ist ein Arbeitsplatzkonflikt Anfang des Jahres 2014 – mit der geplanten Abmahnung am 07.03.2014 (Beginn der Arbeitsunfähigkeit) und deswegen erstmalige Vorstellung beim Hausarzt Dr. R. an diesem Tag – eindeutig erwähnt. Hinzu kommt, dass dem MDK-Gutachter Dr. E. im Rahmen seiner Gutachtenserstellung am 24.10.2014 der an den MDK adressierte Befundbericht des Dr. V. vorlag, in dem Letzterer angegeben hat, dass es bezüglich der Überwindung der Arbeitsunfähigkeit Konflikte am bisherigen Arbeitsplatz gebe, eine Wiederaufnahme dort nicht möglich sei und eine AU-Schreibung und neue Bewertung erst nach der arbeitsgerichtlichen Regelung ab Dezember 2014 sinnvoll erscheine; auch sei eine leichte Besserungstendenz vorhanden und rehabilitative Maßnahmen nicht erforderlich. Auch wenn der Senat nicht verkennt, dass der MDK als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit eigenem Pflichtenkreis weder Organ noch Vertreter oder Erfüllungsgehilfe der Krankenkassen ist, die deshalb für dessen Fehler grundsätzlich nicht haftbar sind (vgl. dazu auch BSG Urteil vom 28.09.2006, B 3 KR 23/05 R, juris Rn. 17 – allerdings im Abrechnungsstreit zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen vom BSG im Urteil vom 16.05.2012, B 3 KR 14/11 R aufgegeben), hätte es hier – angesichts dessen, dass die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung des Klägers aus einem Arbeitsplatzkonflikt herrührte, was der Beklagten angesichts des Gutachtens von Dr. M. im Verfahren S 6 KR 176/14 Ende Juli 2014 bekannt war – auch für die Krankenkasse nahe gelegen, den MDK nicht einfach mit einer Begutachtung des Klägers zu beauftragen, sondern beim Kläger selbst nachzufragen, ob der Arbeitsplatzkonflikt andauere und ob ggf. beabsichtigt sei, die Arbeitsstelle zu wechseln, also mit dem Kläger in Kontakt zu treten; nichts dergleichen ist von Seiten der Beklagten aber unternommen worden. Insoweit liegt ein Abwägungsdefizit vor, weil vor dem Hintergrund des Zwecks der gesetzlichen Regelung des § 51 SGB V, die Krankengeldaufwendungen zu begrenzen und die Kompensation krankheitsbedingten Entgeltausfalls an die Rentenversicherungsträger zu überantworten, ein wesentlicher Belang, nämlich der, dass zur Arbeitsunfähigkeit führende Arbeitsplatzkonflikte nicht dauerhaft sind, sondern sich bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes auflösen können, mit der Folge, dass dann auch keine Arbeitsunfähigkeit mehr gegeben ist, nicht in die Ermessensausübung eingestellt worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen