Aktenzeichen L 14 R 698/17
SGB VI § 300 Abs. 1
SGB VI § 49
VerschG § 1 Abs. 1
Leitsatz
1. Zur Festellung des Todeszeitpunktes einer Verschollenen und Einstellung der Altersrente.
2. § 300 Abs. 1 SGB VI erlaubt die Feststellung des mutmaßlichen Todeszeitpunkts auch mit Wirkung vor dem Inkrafttreten des § 102 Abs. 6 SGB VI.
Verfahrensgang
S 11 R 869/16 2017-09-22 GeB SGMUENCHEN SG München
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 22.09.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) erhobene Berufung der Klägerin ist zulässig.
Die Klagebefugnis der Klägerin, vertreten durch ihre Abwesenheitspflegerin, ist gegeben.
Zwar wurde der Bescheid vom 01.12.2015 an die Tochter der Klägerin gerichtet, ohne, dass dies ausdrücklich in ihrer Eigenschaft als Abwesenheitspflegerin der Klägerin erfolgt ist. Aber nach den Umständen des Falles und dem Inhalt des Bescheides ist davon auszugehen, dass die eigentliche Intention der Beklagten war, den Bescheid gegenüber der Klägerin, vertreten durch die Tochter, zu erlassen. Daher ist von einer Klagebefugnis der Klägerin auszugehen.
Auch von einem berechtigten Interesse der Klägerin an der Verfahrensführung ist auszugehen, weil die wirtschaftliche und rechtliche Situation der Klägerin durch das begehrte Urteil verbessert würde, da ihr die entsprechenden Nachweise, die sie für den Fall ihres Wiederauftauchens führen müsste, erspart blieben.
Die Berufung ist aber unbegründet.
Im Ergebnis erweist sich die Entscheidung des Sozialgerichts München, obwohl sie durch Gerichtsbescheid erging, in der Sache als zutreffend. Sie verletzt die Klägerin ebenso wenig in ihren Rechten wie der Bescheid der Beklagten vom 01.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2016.
Der Bescheid der Beklagten über die Feststellung des Todeszeitpunkts der Klägerin vom 01.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2016 ist rechtmäßig.
Der Bescheid ist formell rechtmäßig. Die nach § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erforderliche Anhörung ist durch das vorangegangene Verwaltungs- und Gerichtsverfahren mit der Einigung über den Erlass des streitgegenständlichen Bescheids erfolgt.
Der Bescheid ist auch materiell-rechtlich rechtmäßig.
Gemäß dem neuen § 102 Abs. 6 S. 1 SGB VI werden Renten an Verschollene längstens bis zum Ende des Monats geleistet, in dem sie nach Feststellung des Rentenversicherungsträgers als verstorben gelten; § 49 gilt entsprechend.
Danach kann der Rentenversicherungsträger den mutmaßlichen Todeszeitpunkt des Verschollenen wie nach § 49 SGB VI feststellen und die Rentenzahlung beenden.
Gemäß § 49 S. 1 SGB VI gelten Ehegatten, die verschollen sind, als verstorben, wenn die Umstände ihren Tod wahrscheinlich machen und seit einem Jahr Nachrichten über ihr Leben nicht eingegangen sind.
Dies ist vorliegend der Fall. Die Klägerin ist verschollen.
Nach § 1 Abs. 1 Verschollenheitsgesetz (VerschG) ist verschollen, wessen Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne dass Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, sofern nach den Umständen hierdurch ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründet werden. Ernstliche Zweifel bestehen dann, wenn Leben und Tod bei vernünftiger Betrachtungsweise gleichermaßen ungewiss sind und über das Schicksal des Betreffenden keine Nachrichten zu erlangen sind, obwohl sie nach Lage des Falles zu erwarten gewesen wären (Gürtner, in Kasseler Kommentar, SGB VI, § 49 Rn. 3-6 m.w.N.).
Die Klägerin hat am 04.10.2008 ihre Wohnung verlassen und ist seit diesem Zeitpunkt nicht mehr aufgetaucht. Sie hat sich weder bei ihrer Tochter, noch bei anderen Verwandten gemeldet und es sind auch keine anderen Lebenszeichen von ihr seitdem eingegangen. In Anbetracht des Alters der Klägerin, ihrer persönlichen – wenn auch möglicherweise problematischen – Beziehung zu ihrer einzigen Tochter und der Tatsache, dass sie vor ihrem Verschwinden dauerhaft in A-Stadt gelebt hat, wären Nachrichten von der Klägerin bzw. über ihr Schicksal zu erwarten gewesen. Daher bestehen ernstliche Zweifel am Fortleben der Klägerin, so dass sie gemäß § 1 Abs. 1 VerschG verschollen ist.
Zusätzlich zur Verschollenheit müssen für die Fiktion nach § 49 S. 1 SGB VI die Umstände den Tod wahrscheinlich machen. Das trifft zu, wenn bei vernünftiger Abwägung die für den Tod sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, dass die dagegensprechenden für die Bildung und Rechtfertigung der Überzeugung ausscheiden (Gürtner a.a.O. Rn. 6, BSGE 32, 202).
Auch diese Voraussetzung ist gegeben: Die Klägerin hat sich weder bei der Beklagten nach Einstellung ihrer Rentenzahlung gemeldet, noch hat sie Leistungen ihrer Krankenversicherung nach ihrem Verschwinden am 04.10.2008 in Anspruch genommen, obwohl sie unter akuter Verwirrtheit, Wahnvorstellungen und einer endogenen Depression litt. Ausweislich des Berichts des Klinikums B-Stadt vom 01.10.2008 wurde diese drei Tage vor ihrem Verschwinden aus stationär-psychiatrischer Behandlung auf Verlangen der Angehörigen entlassen mit der Hoffnung auf weitere gesundheitliche Stabilisierung im familiären Umfeld. Wahnbedingt war die Klägerin jedoch überzeugt, dass die Familie sie in den Keller sperren und verhungern lassen werde. Die Bank würde ihr zudem das Haus wegnehmen. Daneben glaubte die Klägerin krebskrank zu sein (Bericht vom 01.10.2008). Diese Indizien lassen einen Aufbruch (04.10.) nach Entlassung (01.10.) bei erster Gelegenheit in den (erfolgreichen) Suizid als wahrscheinlich erscheinen. Die Beklagte hat ohne Erfolg sowohl bei dem für den letzten Wohnsitz der Klägerin zuständige als auch der für sie zuständigen Polizeidienststelle, bei denen die Klägerin als vermisst gemeldet ist, um Auskunft über den Verbleib der Klägerin gebeten. Damit machen die Umstände ihren Tod gem. § 49 S. 1 SGB VI wahrscheinlich.
Auch die nach § 49 S. 1 SGB VI weitere Voraussetzung des Ausbleibens von Nachrichten seit einem Jahr zusätzlich zu den Umständen, die den Tod wahrscheinlich machen, liegt vor. Seit dem 04.10.2008 ist keine Nachricht mehr von der Klägerin eingegangen.
Gemäß § 49 S. 3 SGB VI ist der Rentenversicherungsträger berechtigt, den nach den Umständen mutmaßlichen Todestag für die Rentenleistung festzustellen, sofern nicht bereits eine gerichtliche Todeserklärung vorliegt. Festzustellen ist der den Umständen nach mutmaßliche Todestag. Der nach dem Ergebnis der Ermittlungen festzustellende wahrscheinlichste Zeitpunkt des Todes kann nicht nur ein bestimmter Tag, sondern auch das Ende eines Zeitraums, der sich über mehrere Tage oder Wochen erstreckt, sein (Gürtner a.a.O.; OLG Frankfurt a. M. BeckRS 2014, 05742). Es handelt sich dabei um eine Tatsachenfeststellung, deren Richtigkeit nicht nur von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nachgeprüft, sondern die von ihnen auch nachgeholt werden kann (Gürtner a.a.O.; BSGE 5, 249).
Es dürften zwar Zweifel bestehen, ob es sich bei dem von der Beklagten festgestellten mutmaßlichen Todestag, genau dem 04.10.2008, um den wahrscheinlichsten Zeitpunkt des Todes der Klägerin handelt. Jedenfalls ist aber davon auszugehen, dass der Tod der Klägerin am 04.10.2008 bzw. spätestens in den Tagen nach ihrem Verschwinden ab 04.10.2008 eingetreten ist. Die zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 73-jährige wurde bis drei Tage vor ihrem Verschwinden vier Monaten lang stationär wegen einer schweren Episode einer depressiven Störung mit psychotischen Symptomen und einem Benzodiazepinabusus behandelt. Sie hat seit ihrem Verschwinden am 04.10.2008 – nach den Auskünften ihrer Krankenversicherung, der AOK – offensichtlich keinen Arzt mehr in Anspruch genommen, sich bei keinem Verwandten mehr gemeldet und wurde von niemandem mehr gesehen. Außerdem hat sie keine Rentenleistungen mehr in Anspruch genommen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Nächte im Oktober in der Regel so kalt sind, dass die Gefahr einer Unterkühlung besteht. Vor dem Hintergrund ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes ist – auch wenn nach dem Entlassungsbericht eine Besserung eingetreten war – daher von einem Tod der Klägerin am 04.10.2008 bzw. in wenigen Tagen ab ihrem Verschwinden am 04.10.2008 auszugehen.
Die genaue Festlegung des mutmaßlichen Todestags kann aber dahinstehen, da die Wirkung des § 102 Abs. 6 SGB VI „Einstellung der Rente“ erst mit dem Ablauf des Monats, in dem der Verschollene als verstorben gilt, eintritt (vgl. Kater, in Kassler Kommentar SGB VI, § 102 Rn. 23-27), d.h. hier mit dem Ablauf des Monats Oktober 2008. Nachdem sich auch nach den im Berufungsverfahren eingeholten Auskünften des Einwohnermeldeamts A-Stadt und der Kriminalpolizeiinspektion B-Stadt, sowie den Angaben der Tochter der Klägerin keine neuen Anhaltspunkte für einen späteren Todestag ergeben haben, ist von einem mutmaßlichen Todestag in wenigen Tagen ab dem 04.10.2008 bis spätestens zum 31.10.2008 auszugehen.
Damit hat die Beklagte gemäß § 102 Abs. 6 S. 1 i.V.m. § 49 S. 3 SGB VI die Rentenzahlung an die Klägerin ab November 2008 zu Recht eingestellt.
Hierfür bedarf es keines besonderen Entziehungsbescheides. Vielmehr endet die Rentenleistung nach wirksamer Feststellung des Todestages mit Ablauf des mutmaßlichen Sterbemonats, ohne dass es eines besonderen Entziehungsbescheides bedarf (vgl. Kater, a.a.O., Rn 27).
Die Feststellung des mutmaßlichen Todestages durfte – entgegen der Ansicht der Klägerin – auch rückwirkend mit der Folge der rückwirkenden Einstellung der Rente erfolgen. Der entscheidende § 102 Abs. 6 SGB VI wurde zwar erst durch Gesetz zum 15.04.2015 eingeführt. § 300 Abs. 1 SGB VI stellt jedoch entsprechend allgemeinen und verfahrensrechtlichen Grundsätzen über den zeitlichen Geltungsbereich gesetzlicher Vorschriften den Grundsatz auf, dass neues Recht vom Zeitpunkt des Inkrafttretens an unabhängig davon anzuwenden ist, ob der betreffende Sachverhalt oder Anspruch vor oder nach dessen Inkrafttreten entstanden ist.
Nach allgemeiner Meinung stellt die Grundsatznorm des § 300 Abs. 1 SGB VI eine Abkehr vom Versicherungsfallprinzip dar (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.1997 – B 13 RJ 3/97). Wenn mit § 300 Abs. 1 SGB VI neue Vorschriften vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auch auf bereits bestehende Ansprüche anzuwenden sind, so ist diese Regelung nach Auffassung des Bundessozialgerichts (a.a.O.) dahin zu verstehen, dass ein Rechtsanwender das neue Recht grundsätzlich immer dann und in vollem Umfang (also auch für Zeiten vor seiner Geltung) heranzuziehen hat, wenn nach dem Inkrafttreten eine rentenversicherungsrechtliche Entscheidung zu treffen ist (vgl. BSG a.a.O., Rn. 25). Diese „funktionale“ Auslegung des § 300 Abs. 1 SGB VI ergibt sich insbesondere aus der Begründung zum Entwurf des Rentenreformgesetzes (RRG) 1992. Darin wird der Vorteil hervorgehoben, dass der Rechtsanwender nach diesem Prinzip nicht ständig prüfen müsse, inwieweit altes, bereits aufgehobenes Recht noch weiter anwendbar sein könnte, das meist nur schwer feststellbar sei (vgl. BT-Drucks 11/4124, S. 206).
Soweit der 4. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 30.01.1997 – B 4 RA 55/95 – eine gegenteilige Auffassung vertreten hat, ist dieser Auffassung aus den Gründen, die der 13. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 30.10.1997 – B 13 RJ 3/97 Rn. 29 – ausführlich dargelegt hat, nicht zu folgen. Danach will der 4. Senat des BSG insbesondere § 300 Abs. 1 SGB VI dahin verstehen, dass er die Anwendung neuer Vorschriften frühestens für Zeiten ab ihrem Inkrafttreten vorsehe. Eine solche Auslegung mag zwar mit dem Wortlaut dieser Bestimmung vereinbar sein, sie widerspricht jedoch dem aus den Gesetzesmaterialien deutlich erkennbaren Willen des Gesetzgebers (vgl. BSG a.a.O; BT-Drucks 11/4124, S. 206).
Daher ist die Feststellung des mutmaßlichen Todeszeitpunkts mit der Wirkung des Entfallens des Rentenanspruchs der Klägerin gemäß § 102 Abs. 6 SGB VI auch mit Wirkung vor dem Inkrafttreten des § 102 Abs. 6 SGB VI möglich, so dass die Rentenzahlung mit Wirkung ab November 2008 eingestellt werden durfte.
Durch die Anwendung des § 102 Abs. 6 SGB VI wird die Klägerin auch nicht in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt.
Ein Verstoß gegen Art. 14 Grundgesetz (GG), ist nicht ersichtlich. Ihr Rentenanspruch ist durch diese Verfassungsnorm nur in der Ausgestaltung geschützt, wie er sich in einer Zusammenschau aller in diesem Zeitpunkt geltenden, die Eigentümerstellung regelnden gesetzlichen Vorschriften darstellte (vgl. dazu BVerfGE 58, 300, 336). Aus dem bereits zum 1. Januar 1992 in Kraft getretenen § 300 Abs. 1 SGB VI zu entnehmen, dass neues Recht auch auf einen Sachverhalt anzuwenden ist, der vor diesem Zeitpunkt bestanden hat. In die durch diese Regelungen umschriebene Rechtsposition der Klägerin ist nicht dadurch in verfassungswidriger Weise eingegriffen worden, dass die Beklagte von der neuen Regelung Gebrauch gemacht, den mutmaßlichen Todeszeitpunkt der Klägerin festgestellt und die Rente eingestellt hat.
Im Übrigen stellt § 102 Abs. 6 S. 3 SGB VI klar, dass der Anspruch auf die Rente wiederauflebt, wenn Verschollene zurückkehren. Damit scheidet auch eine Verletzung des – grundsätzlich gegenüber Art. 14 Abs. 1 GG subsidiären – rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes aus.
Ergänzend sei hier noch angemerkt, dass sich die Beteiligten ja auch gerade auf diese Vorgehensweise in ihrem Vergleich am 19.03.2015 vor dem Bayerischen Landessozialgerichts im Verfahren L 13 R 599/12 geeinigt hatten. Die Beklagte hat die Berufung zurückgenommen, mit dem Ergebnis, dass die Entscheidung des Sozialgerichts München über die Aufhebung des zugrundeliegenden Bescheids rechtskräftig wurde. Hintergrund dieses Vorgehens war ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung, dass die Beklagte aufgrund der zu erwartenden Ergänzung des § 102 SGB VI um den Abs. 6 berechtigt sein würde, den Todeszeitpunkt wie nach § 49 SGB VI abschließend selbst festzustellen. Daher wollte man das alte Verfahren beenden und den neuen Feststellungsbescheid abwarten.
Im Ergebnis war die Berufung daher zurück zu weisen.
Die Kostenentscheidung (§ 193 SGG) berücksichtigt, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren nicht erfolgreich gewesen ist.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.