Sozialrecht

Bewilligung von Ausbildungsförderung aufgrund Betreuung eines behinderten Kindes

Aktenzeichen  12 ZB 19.1969

Datum:
11.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
FamRZ – 2021, 400
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BAföG aF § 10
BAföG § 66a Abs. 2

 

Leitsatz

1. Bei Fortbestand eines Hinderungsgrundes nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG (hier Behinderung eines Kindes über das 10. Lebensjahr hinaus) findet das Unverzüglichkeitsgebot zur Aufnahme der Ausbildung unverzüglich nach Wegfall des Hinderungsgrundes gem. § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG keine Anwendung. Denn § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG knüpft die Pflicht zur unverzüglichen Aufnahme der Ausbildung explizit an den „Wegfall der Hinderungsgründe“ an. (Rn. 18) (Rn. 12 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der ab dem 1. August 2019 geänderte § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG, der den Hinderungsgrund ununterbrochenen Erziehung eines eigenen Kindes bis zum 10. Lebensjahr auf bis zum 14. Lebensjahr verlängert, ist auch auf Bewilligungszeiträume anwendbar, die vor dem 1. August 2019 begonnen haben. (Rn. 19 – 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 15 K 17.4333 2019-07-18 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 18. Juli 2019 – Az. M 15 K 17.4333 – wird wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen.

Gründe

Die 1962 geborene Klägerin verfolgt mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung die Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen für ihr Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule München für den Zeitraum September 2016 bis August 2017 weiter.
1. Die Klägerin ist Mutter von fünf 1990, 1992, 1996, 1999 und 2003 geborenen Kindern. Der letztgeborene Sohn ist Autist und pflegebedürftig nach Pflegegrad 4. Die Klägerin war von 1982 bis 1983 an der Hochschule Rosenheim im Diplomstudiengang Innenarchitektur immatrikuliert. Von 1986 bis 2003 war sie als Unternehmerin und kaufmännische Angestellte, von 2003 bis 2010 neben der Pflege des fünften Kindes als Hausfrau und von 2011 bis Juli 2016 mit 30 Wochenstunden als Geschäftsführerin einer GmbH tätig. Von ihrem Ehemann ist die Klägerin nach häuslichen Gewaltdelikten geschieden.
1.1 Ihren Antrag auf Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen für das im September 2016 im Alter von fast 54 Jahren aufgenommene Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule München lehnte das beklagte Studentenwerk mit Bescheid vom 12. Januar 2017 ab. Für eine Förderung nach Überschreitung der Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) lägen zwar grundsätzlich die Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG vor. Eine Förderung komme jedoch nach § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG nur dann in Betracht, wenn die Ausbildung unverzüglich nach dem Wegfall der Hinderungsgründe aufgenommen werde. Vorliegend hätte die Klägerin auch in Ansehung der Pflege ihres autistischen Sohnes A. das Studium bereits zum Sommersemester 2014 an der Hochschule München aufnehmen können, da A. bereits mit Schuleintritt im Jahr 2010 von 7:30 bis 16:00 Uhr betreut gewesen sei, sodass kein Hinderungsgrund für eine Studienaufnahme vorgelegen hätte.
1.2 Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies das beklagte Studentenwerk mit Bescheid vom 9. August 2017 zurück. Nachdem A. am 24. November 2013 das zehnte Lebensjahr vollendet habe, hätte kein Hinderungsgrund mehr vorgelegen, das Studium bereits zum Sommersemester 2014 zu beginnen. Etwas Anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass A. an Autismus leide. So habe die Klägerin mit Schreiben vom 20. Dezember 2016 selbst ausgeführt, dass für sie As Betreuung mit der Einschulung im Jahr 2010 leichter geworden sei, da er von Montag bis Freitag durch eine Schulbegleitung von 7:30 bis 16:00 Uhr betreut worden sei. Trotz entsprechender Aufforderung habe die Klägerin keinen Nachweis führen können, dass sie A. infolge der Autismuserkrankung ca. einmal pro Woche von der Schule haben abholen und sich entsprechend dafür habe bereithalten müssen. Ferner wichen As Fehltage an der Schule nicht erheblich von denen anderer Schüler ab. Trotz der Erkrankung ihres Sohnes wäre es der Klägerin daher möglich gewesen, das Studium bereits zum Sommersemester 2014 aufzunehmen. Die Studienaufnahme erst zum Wintersemester 2016/2017 sei daher nicht unverzüglich nach Wegfall des Hinderungsgrundes erfolgt. Dies gelte gleichermaßen, wenn man in der Trennung der Klägerin von ihrem Ehemann 2010 und einer daraus resultierenden Bedürftigkeit eine einschneidende Veränderung der persönlichen Verhältnisse im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG sehe. Auch in diesem Fall hätte die Klägerin nach Eintritt der Bedürftigkeit nicht unverzüglich im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG das Studium aufgenommen.
1.3 Die daraufhin erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht München ebenfalls als unbegründet ab. Die Klägerin könne sich zwar auf den Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG berufen, wonach die Altersgrenze für die Aufnahme der Ausbildung von 30 Jahren nach § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG dann nicht gelte, wenn der Auszubildende aus persönlichen oder familiären Gründen gehindert gewesen sei, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Auszubildende bei Erreichen der Altersgrenze bis zur Aufnahme der Ausbildung ein eigenes Kind unter 10 Jahren ohne Unterbrechung erzogen habe und während dieser Zeit höchstens 30 Wochenstunden, als Alleinerziehender auch mehr, erwerbstätig gewesen sei. Nachdem die Klägerin zuletzt ihren behinderten Sohn A. betreut habe, der auf ihre Hilfe angewiesen gewesen sei, seien familiäre Hinderungsgründe nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG ausnahmsweise auch ohne Rücksicht auf das Alter des Sohnes – folglich auch über dessen zehntes Lebensjahr hinaus – anzunehmen gewesen.
Die Klägerin habe jedoch gegen das in § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG geregelte Unverzüglichkeitsgebot verstoßen. Die Obliegenheit, unverzüglich nach Wegfall des Hinderungsgrundes eine Ausbildung zu beginnen, bedeute entsprechend § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB „ohne schuldhaftes Zögern“. Die rechtzeitige Aufnahme der Ausbildung sei dann nicht im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG schuldhaft verzögert, „wenn sie dem Auszubildenden nicht zuvor objektiv möglich und zumutbar“ gewesen sei. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Anforderungen daran, die Ausbildung umsichtig zu planen und zielstrebig durchzuführen, umso strenger seien, je mehr der Auszubildende die allgemeine Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG überschritten habe und je geringer daher das Interesse der Allgemeinheit an der Ausschöpfung seiner Bildungsreserven im Hinblick auf die zu erwartende Berufsdauer sei. Die Klägerin habe indes im vorliegenden Fall in subjektiv vorwerfbarer Weise gegen das Unverzüglichkeitsgebot des § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG verstoßen, da es ihr zumutbar gewesen wäre, spätestens nach der Einschulung von A. im Jahr 2010 ein Studium aufzunehmen, da A. ab dem Einschulungszeitpunkt von 7:30 bis 16:00 Uhr fremdbetreut gewesen sei. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin unterstellen würde, dass As Schulverhalten zunächst nicht absehbar gewesen sei, so wäre ihr jedenfalls ab Beginn des dritten Grundschuljahres im September 2013 die Aufnahme eines Studiums möglich und zumutbar gewesen. Auch habe die Klägerin nicht durch Vorlage entsprechender Unterlagen nachgewiesen, dass eine im Schuljahr 2013/2014 erforderliche Betreuung von A. ihrem erfolgreichen Ausbildungsabschluss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entgegengestanden hätte. Jedenfalls wäre es der Klägerin daher zum Wintersemester 2013/2014 zumutbar gewesen, ihr Studium der Sozialen Arbeit aufzunehmen. Schließlich könne sich die Klägerin auch nicht mit Erfolg auf den Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG berufen.
1.4 Gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil richtet sich nunmehr der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem die Klägerin sinngemäß ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend machen lässt.
So vermenge das Verwaltungsgericht unzulässig den Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG mit dem Unverzüglichkeitsgebot des § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG. Während das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Hinderungsgrundes für die rechtzeitige Aufnahme der Ausbildung aus familiären bzw. persönlichen Gründen bejahe und weiter davon ausgehe, dass für die Klägerin aufgrund der behinderungsbedingten Betreuungsbedürftigkeit ihres Sohnes ein Hinderungsgrund über die Altersgrenze von 10 Jahren hinweg vorgelegen habe, knüpfe es im Rahmen des Unverzüglichkeitsgebots nach § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG nicht an das Wegfallen des Hinderungsgrundes an. Gehe man von der Fortdauer des Hinderungsgrundes auch über das 10. Lebensjahr des Kindes aus, käme es auf die Beachtung des Unverzüglichkeitsgebots überhaupt nicht an. Überdies sei darauf hinzuweisen, dass der Sohn der Klägerin in Pflegestufe II, nunmehr Pflegegrad 4 eingestuft sei, was eine eingeschränkte Alltagskompetenz beinhalte und für die Klägerin mit erheblichen Belastungen für die Betreuung einhergehe. Demzufolge sei bei der Annahme persönlicher oder familiärer Hinderungsgründe nicht auf das Regelbeispiel der Erziehung eines eigenen Kindes unter 10 Jahren, sondern vielmehr auf die Notwendigkeit der Betreuung eines behinderten und pflegebedürftigen Kindes abzustellen.
Hinzu komme im vorliegenden Fall, dass der Gesetzgeber mit der Novelle des BAföG im Jahr 2019 § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG dahingehend geändert habe, dass nunmehr von einem Hinderungsgrund für die Erziehung eines eigenen Kindes bis zum Alter von 14 Jahren auszugehen sei. Nach der Übergangsvorschrift des § 66a Abs. 2 BAföG sei § 10 BAföG in der geänderten, neuen Fassung seit dem 1. August 2019 anzuwenden. Demzufolge müsse die Rechtsänderung auch in einem Berufungsverfahren berücksichtigt werden.
1.5 Dem Berufungszulassungsantrag tritt das beklagte Studentenwerk entgegen. Von einer Vermischung von § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG und § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG sei nicht auszugehen. Die nach dem 26. BAföG-Änderungsgesetz geltende Fassung des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG, wonach nunmehr Kindererziehung bis zum 14. Lebensjahr berücksichtigt werden könne, müsse für den vorliegenden Fall außer Acht bleiben, da die Vorschrift „erst für Fälle ab August 2019“ gelte.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
2. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, weil die Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 18. Juli 2019 nach den Darlegungen der Klägerin im Zulassungsantrag ernstlich zweifelhaft im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist.
2.1. Dies gilt zunächst, soweit das Verwaltungsgericht davon ausgegangen ist, dass ein Anspruch der Klägerin auf Leistung von Ausbildungsförderung nach Überschreiten der Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG wegen Verstoßes gegen das sog. Unverzüglichkeitsgebot des § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG ausgeschlossen sein soll.
2.1.1 Nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG a.F. gilt die Altersgrenze vom 30 Jahren für die Aufnahme der zu fördernden Ausbildung dann nicht, wenn „Auszubildende aus persönlichen oder familiären Gründen gehindert waren, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen“. Dies ist „insbesondere“ dann der Fall, „wenn sie bei Erreichen der Altersgrenzen bis zur Aufnahme der Ausbildung ein eigenes Kind unter zehn Jahren ohne Unterbrechung erziehen und während dieser Zeit höchstens 30 Wochenstunden im Monatsdurchschnitt erwerbstätig sind“. Alleinerziehende dürfen auch mehr als 30 Wochenstunden erwerbstätig sein, wenn sie dadurch die Unterstützung durch Grundsicherungsleistungen vermeiden.
Soweit der Gesetzgeber als Regelbeispiel eines Hinderungsgrundes aus persönlichen oder familiären Gründen von der ununterbrochenen Erziehung eines eigenen Kindes bis zum 10. Lebensjahr ausgeht, beinhaltet dies zugleich, dass es daneben auch weitere persönliche oder familiäre Hinderungsgründe für den Beginn eines Ausbildungsabschnitts gibt, die nicht an eine Altersgrenze eines Kindes gebunden sind. So nennt Ziffer 10.3.4 BAföGVwV als persönliche oder familiäre Gründe, die eine Förderung nach unverschuldetem Überschreiten der Altersgrenze rechtfertigen, neben der Kindererziehung u.a. Schwangerschaft, eigene Erkrankung bzw. Behinderung sowie ausdrücklich die „Betreuung von behinderten oder aus anderen Gründen auf Hilfe angewiesenen Kindern“ (vgl. hierzu auch Steinweg in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 10 Rn. 29: Betreuung von behinderten oder aus anderen Gründen auf Hilfe angewiesenen Kindern ohne Rücksicht auf deren Alter; Hervorhebung durch den Senat; Roggentin in Rothe/Blanke, BAföG, Stand September 2013, § 10 Rn. 17.2).
Vom Ansatz her zutreffend geht das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung daher richtigerweise davon aus, dass im vorliegenden Fall ein persönlicher oder familiärer Hinderungsgrund über die Vollendung des zehnten Lebensjahres des Sohnes A. der Klägerin hinaus deshalb besteht, weil A. an Autismus leidet und auf die persönliche Betreuung der Klägerin angewiesen ist.
Dass dieser Hinderungsgrund bis zum Beginn des zu fördernden Ausbildungsabschnitts mit dem Wintersemester 2016/2017 entfallen wäre, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen und wurde vom Verwaltungsgericht auch nicht festgestellt. Vielmehr lässt sich aus dem von der Klägerin vorgetragenen Umstand, dass ihr Sohn in Pflegegrad 4 eingestuft worden sei, was eine nur beschränkte Alltagskompetenz belegt, schließen, dass unabhängig davon, ob A. durch einen Schulbegleiter zu bestimmten Tageszeiten, an denen Schulunterricht stattfindet, unterstützt wird, ein hoher Betreuungsbedarf aufgrund der Autismuserkrankung besteht. Für das Vorliegen eines persönlichen oder familiären Hinderungsgrundes kommt es daher auch nicht darauf an, wie oft die Klägerin ihren Sohn persönlich von der Schule abholen musste bzw. wie viele Fehltage von der Schule er aufgewiesen hat.
2.1.2 Angesichts der Fortdauer des Hinderungsgrundes nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG über das 10. Lebensjahr von A. hinaus kommt es, wie die Klägerin zu Recht geltend macht, auf die Erfüllung des „Unverzüglichkeitsgebots“ im vorliegenden Fall nicht an. Denn § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG knüpft die Pflicht zur unverzüglichen Aufnahme der Ausbildung explizit an den „Wegfall der Hinderungsgründe“ an. Geht man aber, wie das Verwaltungsgericht, vom Fortbestand der Hinderungsgründe auch über das 10. Lebensjahr des Sohnes der Klägerin aus und stellt zugleich keinen Wegfall des Hinderungsgrundes fest, greift § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG nicht ein (vgl. hierzu Roggentin in Rothe/Blanke, BAföG, Stand Januar 2006, § 10 Rn. 24). Vielmehr hätte das Verwaltungsgericht erkennen müssen, dass die Klägerin den zu fördernden Ausbildungsabschnitt begonnen hat, ohne dass der maßgebliche Hinderungsgrund überhaupt entfallen ist. § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG kann ihr demzufolge nicht entgegengehalten werden.
2.2 Ernstlichen Zweifeln begegnet das verwaltungsgerichtliche Urteil auch, soweit die Klägerin sich auf die Anwendung der durch das 26. BAföG-Änderungsgesetz geänderten Fassung von § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG beruft. Denn ausgehend von der „Verlängerung“ des Hinderungsgrundes der ununterbrochenen Erziehung eines eigenen Kindes bis zum 14. Lebensjahr, das der Sohn der Klägerin erst 2017 beendet hatte, hätte sich die Klägerin die Aufnahme der Ausbildung im September 2016 nicht als Obliegenheitsverletzung entgegenhalten lassen müssen (vgl. hierzu Steinweg in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 10 Rn. 24).
Entgegen der Auffassung des beklagten Studentenwerks ist § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG n.F. im vorliegenden Fall auch auf den Bewilligungszeitraum September 2016 bis August 2017 anwendbar. So sieht die Übergangsbestimmung des § 66a Abs. 2 BAföG zunächst vor, dass u.a. § 10 in der durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. Juli 2019 (BGBl. I, S. 1048) geänderten Fassung „erst ab dem 1. August 2019 anzuwenden [ist], soweit nachstehend nichts anderes bestimmt ist“. Zugleich ordnet jedoch § 66a Abs. 4 Satz 1 BAföG für „Bewilligungszeiträume, die vor dem 1. August 2019 begonnen haben“, die Fortgeltung der §§ 11 ff. BAföG „in der bis zum 31. Juli 2019 anzuwendenden Fassung“ an. Die Fortgeltung von § 10 BAföG in der bis zum 31. Juli 2019 geltenden Fassung wird jedoch für Bewilligungszeiträume, die vor dem 1. August 2019 begonnen haben, ausdrücklich nicht angeordnet (vgl. hierzu die Gesetzgebungsmaterialien BT-Drs. 19/8749, 44, aus denen sich hierfür keine näheren Motive ableiten lassen; vgl. ferner Ramsauer in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 66a Rn. 11 „schwer durchschaubare Übergangsregelung“). Folglich ist § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG in der geänderten Fassung ab dem 1. August 2019 auch auf Bewilligungszeiträume, die vor dem 1. August 2019 begonnen haben, anwendbar (so auch Müller in Rothe/Blanke, BAföG, Stand Juli 2019, § 66a Rn. 5: „Eine zeitlich uneingeschränkte Anwendbarkeit mit Wirkung zum 1.8.2019 ergibt sich danach lediglich für die geänderten Vorschriften der §§ (…) 10 Abs. 3 Nr. 3 (…).“ Hervorhebung durch den Senat). Mithin ist im vorliegenden Fall zugunsten der Klägerin die neue Gesetzesfassung zur Anwendung zu bringen.
3. Eingedenk der von der Klägerin dargelegten Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung war vorliegend die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Im Hinblick auf die durchgreifenden Zulassungsgründe wird angeregt, den streitgegenständlichen Versagungsbescheid aufzuheben und der Klägerin Ausbildungsförderungsleistungen in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
Das Verfahren wird nunmehr als Berufungsverfahren unter dem Aktenzeichen 12 B 20.2073 fortgeführt. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

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