Sozialrecht

Dauerhafter Rentenanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit – Manie mit psychotischen Symptomen

Aktenzeichen  L 13 R 599/13

Datum:
1.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 69988
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 104 Nr. 2, § 105
SGB VI § 44 Abs. 1 – 3,§ 43 Abs. 4, § 53 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1 § 44 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGB VI enthält grundsätzlich einen umfassenden Leistungsausschluss in dem Sinne, dass Versicherte, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, vom Schutzbereich der Versicherung gegen Erwerbsunfähigkeit nicht erfasst werden. (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei dem Geschäftsunfähigen mangelt es aber an einer Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit auf eigene Rechnung, da sämtliche mit der selbstständigen Tätigkeit verbundenen Willenserklärungen unwirksam sind (vgl. § 105 Abs. 1 BGB). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 2 R 1094/11 2013-06-04 GeB SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I.
Die Beklagte wird unter Abänderung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Landshut vom 4. Juni 2013 sowie des Bescheids vom 21. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juli 2012 verurteilt, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Januar 2001 entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
II.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen

Gründe

Die zulässige Berufung ist im Wesentlichen begründet. Dem Kläger steht Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Januar 2001 auf Dauer zu. Der (allein) angefochtene Bescheid vom 21. November 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juli 2012 war insoweit abzuändern. Kein Rentenanspruch besteht für den Zeitraum 1. Juli 2000 bis 31. Dezember 2000. Insoweit war die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hat mit angefochtenem Bescheid vom 21. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juli 2012 zu Unrecht den erneuten Antrag des Klägers vom 9. August 2010 auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bereits ab 1. Juli 2000 abgelehnt.
Für den Senat steht fest, dass der Kläger aufgrund seiner seelischen Erkrankung seit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben am 30. Juni 2000 erwerbsunfähig im Sinne des § 44 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (a. F.) ist und ihm ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bereits ab 1. Januar 2001 zusteht …
Gem. § 44 Abs. 1 SGB VI a. F. haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie
1. erwerbsunfähig sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Erwerbsunfähig sind gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VI a. F. Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das monatlich 630 Deutsche Mark übersteigt; erwerbsunfähig sind auch Versicherte nach § 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine selbstständige Tätigkeit ausübt oder eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 44 Abs. 2 S. 2 SGB VI).
Bestand am 31. Dezember 2000 Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit, besteht der jeweilige Anspruch bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze weiter, solange die Voraussetzungen vorliegen, die für die Bewilligung der Leistung maßgeblich waren (§ 302b Abs. 1 Satz 1 SGB VI n. F.). Bei befristeten Renten gilt dies auch für einen Anspruch nach Ablauf der Frist (§ 302b Abs. 1 S. 2 SGB VI n. F.)
Für den Senat steht fest, dass der Kläger aufgrund der bei ihm nach den Feststellungen des Gutachters Prof. Dr. C. vorliegenden Manie, die in ihrem Vollbild spätestens seit Ende der Neunzigerjahre besteht, mit dem Ende seiner Beschäftigung zum 30. Juni 2000 auf nicht absehbare Zeit außerstande war, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das monatlich 630 Deutsche Mark übersteigt.
Prof. Dr. C. hat dargelegt, dass sich beim Kläger von Beginn an im Querschnitt ein deutlich ausgeprägtes manisches Zustandsbild gezeigt hat. Kernkriterium einer Manie ist die rastlose Aktivität und Unruhe, die beim Kläger idealtypisch ausgeprägt ist. In der Regel erkennt man ein hemmungsloses und unkritisches, oft situationsunangemessenes Verhalten. Dem Erkrankten gehen ständig neue Ideen durch den Kopf, was zur Weitläufigkeit, Ideenflucht oder zu verworrenem Denken führen kann. Kernkriterium ist ferner die ausgeprägte Logorrhoe. Auch beim Kläger fand sich ein ausgeprägter Rededrang, ein ins Maßlose gesteigertes Selbstbewusstsein und ein damit verbundener Realitätsverlust. Von einer Manie Betroffene sind nach den Feststellungen von Prof. Dr. C. in der Regel nicht in der Lage, einer geordneten und beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Auch Dr. S. geht ausweislich seiner Stellungnahme vom 15. April 2008 an die Beklagte davon aus, dass die zur Erteilung einer Erwerbsminderungsrente führenden Störungen und Einschränkungen bereits spätestens im Jahre 2000 bestanden haben. Dass dies für den Kläger ab 30. Juni 2000 bis 30. April 2007 und darüber hinaus gilt, wird von der Beklagten ebenfalls nicht in Abrede gestellt. Sie selbst ist von einem Eintritt des Leistungsfalls der „geminderten Erwerbsfähigkeit“ zum 30. Juni 2000 ausgegangen und hat diesen Zeitpunkt ihrer Rentenberechnung zugrunde gelegt.
Bei einem Eintritt des Leistungsfalls der Erwerbsunfähigkeit zum 30. Juni 2000 sind auch unstrittig die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Die Voraussetzung des § 44 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI, wonach in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vorliegen müssen, entfällt gemäß § 44 Abs. 3 SGB VI i. V. m. § 43 Abs. 4 SGB VI beim Kläger. Nach letzterer Bestimmung ist eine Pflichtbeitragszeit von 3 Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist. Beim Kläger ist die allgemeine Wartezeit gemäß § 53 Abs. 2 S. 1 SGB VI vorzeitig erfüllt, weil er vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung (hier: Beendigung der Hochschulausbildung am 31. Mai 1998) erwerbsunfähig geworden ist und in den letzten zwei Jahren vorher mindestens ein Jahr Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hat.
Erwerbsunfähigkeit ist beim Kläger im gesamten strittigen Zeitraum auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil er zeitweise „selbstständig tätig“ war. Die Beklagte geht aufgrund der Eintragungen in den Einkommensteuerbescheiden sowie der Angaben des Klägers davon aus, dass er sich zusammen mit seiner Ehefrau selbstständig gemacht und eine kleine Lebensstilberatung gegründet hat. Gemäß § 44 Abs. 2 S. 2 SGB VI a. F. ist zwar nicht erwerbsunfähig, wer eine selbstständige Tätigkeit ausübt. Der Kläger selbst hat gegenüber Prof. Dr. C. angegeben, ab Mai 2000 nicht mehr erwerbstätig und auch nicht selbstständig tätig gewesen zu sein. Der Senat hält dies für glaubwürdig. Ihm fällt die Vorstellung schwer, dass der Kläger in seinem gesundheitlichen Zustand wirklich selbstständig als „Lebensstilberater“ tätig gewesen sein sollte. Jedenfalls gilt der Ausschluss des § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a. F. aber nicht für Versicherte wie den Kläger, die während der Ausübung der „selbstständigen Tätigkeit“ geschäftsunfähig sind.
Zwar enthält § 44 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGB VI grundsätzlich einen umfassenden Leistungsausschluss in dem Sinne, dass Versicherte, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, vom Schutzbereich der Versicherung gegen Erwerbsunfähigkeit nicht erfasst werden. Es kommt nicht auf den Umfang der ausgeübten Tätigkeit, sondern nur auf die Ausübung einer solchen Tätigkeit überhaupt an. Eine selbstständige Tätigkeit liegt vor, wenn diese auf Erwerb ausgerichtet und in Absicht der Gewinnerzielung im eigenen Namen und auf eigene Rechnung ausgeübt wird (so schon BSG vom 15. Dezember 1977, SozR 2200 § 1247 Nr. 19). Bei dem Geschäftsunfähigen mangelt es aber an einer Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit auf eigene Rechnung, da sämtliche mit der selbstständigen Tätigkeit verbundenen Willenserklärungen unwirksam sind (vgl. § 105 Abs. 1 BGB). Die Ausschlussklausel des § 44 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SGB VI dient dem sozialpolitischen Zweck zu verhindern, dass ein Versicherter Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht und neben dieser für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bestimmten Rente Einkünfte aus selbstständiger Erwerbstätigkeit erzielt. Dieser sozialpolitische Zweck wird bei einem Geschäftsunfähigen von vornherein verfehlt, da er nicht wirksam Einkünfte aus seiner Tätigkeit erzielen kann. Auch würde es dem gebotenen Schutz Geschäftsunfähiger zuwiderlaufen, eine von einem Geschäftsunfähigen ausgeübte „selbstständige Tätigkeit“ als geeignet anzusehen, eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zum Wegfall zu bringen.
Der Kläger ist nach Auffassung des Senats seit Juni 2000 ununterbrochen jedenfalls bis 9. August 2010 (Zeitpunkt der Rentenantragstellung) geschäftsunfähig gewesen. Geschäftsunfähig ist gemäß § 104 Nr. 2 BGB, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Ein Ausschluss der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht im Stande ist, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge der Geistesstörung Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 1995, XI ZR 70/95, in juris, m. w. N.).
Der Senat folgt der Einschätzung der erfahrenen Sachverständigen Dr. F. und Prof. Dr. C., die übereinstimmend den Kläger aufgrund seiner manischen Erkrankung als seit Juni 2000 durchgängig als geschäftsunfähig erachten. Hierfür spricht ebenfalls das Gutachten von Dr. K …
Der Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit liegt in der mindestens seit Juni 2000 beim Kläger vorliegenden Manie mit psychotischen Symptomen. Nach den Worten von Prof. Dr. C. liegt beim Kläger eine manische Psychose vor, die einen schweren Ausprägungsgrad zeigt und bereits langjährig anhaltend ist, unter anderem deshalb, weil zwischenzeitlich keine Behandlung stattgefunden hat. Daraus resultierte auch die Unfähigkeit des Klägers durchgehend ab Juni 2000, seinen Willen frei und unbeeinflusst von dieser Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln.
Dr. F. hat ausweislich seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 5. Juli 2012 sowie seines Gutachtens vom 5. Dezember 2012 für den Senat nachvollziehbar erklärt, dass der geistige Zustand des Klägers zwischen dem plötzlichen Verlust des letzten Arbeitsplatzes und 2007 nicht das notwendige Maß an Einsicht für die Teilnahme am Rechtsverkehr erlaubte.
Der Kläger hat nach einer sexuellen Nötigung im Jahr 1998 seine bisherige soziale Identität aufgegeben. Es folgte ein sozialer Rückzug mit Isolierung. Er hatte nur noch Kontakt zu seiner späteren Ehefrau, die allerdings bis 2003 in F. arbeitete und auch wohnte, während er in O. lebte. Zu diesem Zeitpunkt bestanden seine zwischenmenschlichen Beziehungen aus einer aggressivdemütigenden Partnerschaft zu einer psychisch gestörten Frau und sexualisierten Internetbekanntschaften. Dr. F. hat dem Kläger eine manische Psychose mit Internetsucht bescheinigt, die sich im Laufe der Jahre chronifiziert hatte.
Dr. F. hat auch auf eine Stellungnahme des letzten Arbeitgebers des Klägers (O.) hingewiesen. Daraus ergibt sich, dass der Kläger eigenmächtig Arbeitsverträge, Mietverträge, Dienstleistungsverträge etc. im Namen seines Arbeitgebers abgeschlossen und sich zudem als stellvertretender Vorstand ausgegeben hat. Durch diese unberechtigte Vorgehensweise seien erhebliche Aufwendungen entstanden. Auch dies belegt nach den Worten von Dr. F. für den Senat nachvollziehbar eine manische Hyperaktivität des Klägers bereits zu diesem Zeitpunkt.
Die manische Hyperaktivität des Klägers wird für die Jahre 1998 bis 2011 bestätigt durch die von einem Steuerberater angefertigte Zusammenstellung der digitalen Aktivitäten des Klägers am Computer. Daraus geht hervor, dass der Kläger rein rechnerisch zwischen 5 und 10 Stunden fast täglich am PC verbrachte und sich einschlägige (pornographische) Bilder und Dokumente herunterlud. Nach den Ausführungen von Prof. Dr. C. in seinem Gutachten vom 2. November 2010 stellt die stundenlange Beschäftigung mit dem Computer eine charakteristische Verhaltensweise bei Menschen mit einer manischen Erkrankung dar.
Die manische Erkrankung mit Internetsucht war nach den Feststellungen von Dr. F. mit einer sozialen Isolierung und Vernachlässigung sozialer Aufgaben und Pflichten verbunden. Der Kläger flüchtete sich in eine Traumwelt mit Plüschtieren als Menschenersatz. Gegenüber Dr. K. hatte der Kläger angegeben, bei seinen Plüschtieren (neben zahlreichen Bären auch beispielsweise einem Hai und einem Fuchs) Trost und Zuflucht gefunden zu haben. Er habe die Tiere bei ihrem „Leben“ intensiv begleitet, habe ständig mit ihnen gesprochen, habe sie sich verloben und heiraten lassen. Sie hätten dann auch eine Familie gegründet und Nachwuchs bekommen und seien glücklich gewesen. Diese wahnhaftregressive Beschäftigung mit Plüschtieren dauerte etwa bis 2007/2008 an. Aktenkundig sind diverse Fotos des Klägers von seinen Plüschbären (zum Beispiel „Der Bär in Reisekleidung“, „Der Bär lernt“, „Weihnachten mit Plüschtieren“, „Mit Plüschtieren in Australien“, Der Bär bei der Mäusejagd“, „Der Bär lernt Computer“ usw.) ab Sommer 1999.
Bereits zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Juni 2000 und in den folgenden Jahren bestand also beim Kläger eine für das Vorliegen von Manie typische rastlose Aktivität und Unruhe mit starker Erregung und innerer Getriebenheit, Vernachlässigung von Körperhygiene und Realitätsverlust. Ein Indiz hierfür sind auch die Aussagen des Forstingenieurs K., die der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet hat. Dieser hat den Kläger als extrem unruhig, rastlos und in seiner eigenen Krankheit gefangen erlebt. Sein Sprachtempo sei so schnell gewesen, dass er nicht mehr zu verstehen gewesen sei.
Bei der Untersuchung durch Prof. Dr. C. ergab sich nach wie vor ein ausgeprägter manietypischer Befund. Das Verhalten des Klägers war während der Begutachtung durch eine ausgeprägte innere und motorische Unruhe geprägt. Es war zu Beginn der Untersuchung und durchgängig im weiteren Verlauf eine charakteristische Stimmungsauslenkung beim Kläger zu beobachten. Das Kernkriterium einer Manie mit rastloser Aktivität und Unruhe war bei ihm idealtypisch ausgeprägt.
Schließlich bestätigt das im Berufungsverfahren vorgelegte Gutachten von Dr. K. ebenfalls das Vorliegen von Geschäftsunfähigkeit, auch wenn dieses Gutachten – in Übereinstimmung mit dem Gutachtensauftrag – nur zu der Frage explizit Stellung nimmt, ob der Kläger zum Zeitpunkt seiner Eheschließung am 3. Juni 2000 geschäftsunfähig war.
Dr. K. hat ausgeführt, dass es bereits ab Mitte 1998 zu gravierenden Auffälligkeiten gekommen sei. Der Kläger habe damals mit diversen Firmen (O., F. Deutschland, C. usw.) Verträge zum Teil mit hohen leistungsbezogenen Gehältern abgeschlossen, ohne zu Erbringung der vereinbarten Leistungen qualifiziert und in der Lage gewesen zu sein. Er sei durch die Arbeitsaufgaben massiv überfordert gewesen und habe seine Befugnisse in teilweise expansiver Weise eigenmächtig überschritten. Im Zusammenschau mit den erst später im Krankheitsverlauf erhobenen fachpsychiatrischen Untersuchungsbefunden, bei denen immer wieder erhebliche formale und inhaltliche Denkstörungen festgestellt worden seien, wie auch dem aktuellen psychopathologischen Befund, sei es retrospektiv als hoch wahrscheinlich anzunehmen, dass beim Kläger bereits damals schwergradige Störungen sowohl des formalen Denkens als auch vor allem bereits der bis zur Gegenwart persistierende Größenwahn vorgelegen haben.
Als weiteres Symptom dieser Störung hätten sich dann eine ausgeprägte Hypersexualität mit stundenlangem Betrachten erotischer Fotos und Filme sowie eine bis 2008 anhaltende Plüschtiersucht entwickelt. Er habe in einer infantilregressiven Weise seine Plüschtiere zu seinen „besten und einzigen Freunden“ ernannt, sich mit ihnen unterhalten, sei mit ihnen auf Reisen gegangen sei und habe sie u. a. ein extensive Sozialleben praktizieren lassen, insbesondere auch mit ihnen Verlobung, Hochzeiten und ein Familienleben inszeniert. Daneben habe eine teilweise ausgeprägte, sich nicht nur in der anfänglichen beruflichen Vielgeschäftigkeit, sondern auch in anderen Lebensbereichen manifestierende Hyperaktivität (exzessiver Sport, zeitintensive Kontaktversuche zu hochgestellten und prominenten Persönlichkeiten) entwickelt. Der Kläger habe das Symptom des Verlusts normaler sozialer Hemmungen mit unangemessenem Verhalten gezeigt (zum Beispiel unvermittelte Heiratsanträge an zahlreiche seiner Telefonchat-Partnerinnen) und das typische Symptom eines polarisierenden Denkstils entwickelt. Auch Dr. K. ist angesichts des mittlerweile zu überblickenden fünfzehnjährigen Krankheitsverlaufs zu der Einschätzung gekommen, dass bei dem Kläger eine ausgeprägte Manie mit psychotischen Symptomen vorliegt. Im Falle des Klägers gebe es nach Worten von Dr. K. keine Anhaltspunkte dafür, dass es seit 1998 jemals zu einem völligen Abklingen der manischen Symptomatik gekommen sei. Dafür, dass es sich zudem immer auch um ein schwergradig ausgeprägtes Krankheitsbild gehandelt habe, spreche auch, dass es dem Kläger zwischenzeitlich nie wieder gelungen sei, im Berufsleben Fuß zu fassen. Erst ab etwa 2011 sei es nach den Beobachtungen der Behandler zu einer Besserung der manischen Symptomatik gekommen.
Diese Ausführungen von Dr. K. bestärken den Senat in seiner Einschätzung, dass dieser Zustand der Geschäftsunfähigkeit beim Kläger nicht nur – wie von Dr. K. bestätigt – am 3. Juni 2000, sondern auch über den 3. Juni 2000 hinaus jedenfalls bis Januar 2011 durchgängig vorlag. Wesentlicher Faktor hierbei ist auch der Umstand, dass die manische Erkrankung in diesem Zeitraum nicht einmal ansatzweise behandelt worden ist. Nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. C. gab es angesichts der anamnestischen Angaben unter Beobachtung im Querschnitt auch keine überzeugenden Hinweise darauf, dass während der Erkrankung auch länger dauernde depressive Zustandsbilder bestimmend gewesen wären, während derer eventuell von einer Geschäftsfähigkeit ausgegangen werden könnte. Auch Dr. K. hat ausgeführt, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass das affektive Zustandsbild des Klägers in den zurückliegenden Jahren jemals in eine länger anhaltende eindeutige depressive Episode umgeschlagen sei. Der Kläger habe sich spätestens ab Mitte 1998 in einem dauerhaft bestehenden manischen Zustandsbild befunden.
Das Gutachten von Dr. S. vom 18. August 2010 für das Amtsgericht O. steht dem nicht entgegen. Dieses überzeugt den Senat nicht, weil Dr. S. von einer unzutreffenden, durch Dr. K., Prof. Dr. C. und Dr. F. überzeugend widerlegten Diagnose (kombinierte Persönlichkeitsstörung mit autistischenschizoidenkindlich unreifen und dissozialen Zügen) ausgeht. Davon abgesehen hat Dr. S. darin den Kläger zwar nicht als generell geschäftsunfähig angesehen, allerdings von faktischer Geschäftsunfähigkeit in einzelnen Teilbereichen gesprochen. Auch hat er ausgeführt, dass der Kläger nicht in der Lage sei, sich in adäquater und sinnvoller Weise um seine behördlichen und versicherungsrechtlichen Angelegenheiten zu kümmern. Bei einer Gesamtbetrachtung ergibt sich daraus jedenfalls, dass, wenn man nicht schon von einer vollständigen Geschäftsunfähigkeit des Klägers ausgeht, dann jedoch zumindest eine überdauernde partielle Geschäftsunfähigkeit gerade in Bezug auf den Umgang mit Behörden anzunehmen ist. Schließlich hat auch Dr. S. in seinem Befundbericht vom 8. Juli 2008 betont, dass die verspätete Antragstellung als Folge der psychischen Störung anzusehen sei.
Auch die sonstigen Einwendungen der Beklagte sprechen für den Senat nicht überzeugend gegen die Annahme einer durchgängigen Geschäftsunfähigkeit des Klägers jedenfalls bis August 2010. Soweit vorgetragen wurde, der Kläger sei in der Lage gewesen, sich in unzähligen Eingaben an die unterschiedlichsten Persönlichkeiten und Institutionen zu wenden, gibt der Senat zu bedenken, dass Inhalt und Stil der Eingaben, die zahlreiche Aktenordner füllen, den Eindruck der Geschäftsunfähigkeit des Klägers nicht beseitigen, sondern vielmehr bestärken.
Der angeführte Befundbericht der Ärztin für physikalische und rehabilitative Medizin MUDr. (Univ. P.) P. vom 30. Oktober 2006 führt für den Senat ebenfalls nicht zu einer anderen Bewertung. Hier hat die behandelnde Ärztin, die keine Psychiaterin ist, zwar angegeben, sie könne den psychiatrischen Befund als normal bezeichnen. Sie hat aber auch darauf hingewiesen, dass beim Kläger eine innere Spannung vorgelegen habe und der Kläger seine schwere Kindheit mit dem Gefühl, von den Eltern nicht adäquat behandelt zu werden, ausführlich geschildert habe. Der Kläger hat also auch bei MuDr. (Univ. P.) P. Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die von den fachärztlichen Sachverständigen durchaus als Teil der beim Kläger vorliegenden psychotischen Manie gewertet worden sind. Aus dem Umstand, dass der Kläger über einen Anwalt einen Arbeitsgerichtsprozess geführt hat und einen Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt hat, belegt nach Auffassung des Senats noch nicht zwingend das Vorliegen von Geschäftsfähigkeit des Klägers.
Aufgrund der durchgängigen Geschäftsunfähigkeit des Klägers ist Erwerbsunfähigkeit also selbst dann anzunehmen, wenn man von einer Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit durch den Kläger im strittigen Zeitraum ausgehen sollte.
Grundsätzlich ergibt sich beim Eintritt des Leistungsfalls am 30. Juni 2000 und einer Antragstellung am 9. August 2010 gemäß § 99 Abs. 1 Satz 1, 2 SGB VI ein Rentenbeginn am 1. August 2010, da der Antrag nicht bis zum Ende des 3. Kalendermonats nach Ablauf des Monats gestellt worden ist, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Nach der Rechtsprechung des BSG ist § 210 Abs. 1 Satz 1 BGB auf die Antragsfrist für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit jedoch entsprechend anzuwenden (vgl. BSG, Urteil vom 7. Juni 1982, Az. 5 B RJ 56/82, in juris). Ist eine geschäftsunfähige oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkte Person ohne gesetzliche Vertreter, so tritt nach § 210 Abs. 1 Satz 1 BGB eine für oder gegen sie laufende Verjährung nicht vor dem Ablauf von 6 Monaten nach dem Zeitpunkt ein, in dem die Person unbeschränkt geschäftsfähig oder der Mangel der Vertretung behoben wird. Ist die Verjährungsfrist kürzer als 6 Monate, so tritt der für die Verjährung bestimmte Zeitraum an die Stelle der 6 Monate (§ 210 Abs. 1 S. 2 BGB). Dieser Bestimmungen sind auf die Antragsfrist für Renten wegen Erwerbsminderung entsprechend anzuwenden. Denn Personen, die aufgrund ihrer Geschäftsunfähigkeit nicht selbst handeln können und keinen gesetzlichen Vertreter haben, sind ebenso wie vor der Verjährung ihrer zivilrechtlichen Ansprüche auch vor einem Nichtentstehen eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung mangels Antragstellung zu schützen. Dies bedeutet, dass bei dem Geschäftsunfähigen die dreimonatige Antragsfrist bis zur Bestellung eines gesetzlichen Vertreters in ihrem Ablauf gehemmt ist. Bei Beendigung des Hemmungsgrundes – sei es, dass die betreffende Person wieder unbeschränkt geschäftsfähig wird oder dass der Mangel der Vertretung aufhört – muss die Rente wegen Erwerbsminderung allerdings innerhalb der Dreimonatsfrist beantragt werden. Der Antrag nach Ende des Hemmungsgrundes innerhalb dieser Frist bewirkt, dass der Antrag auf den Zeitpunkt zurückwirkt, in dem der Leistungsfall eingetreten und die Wartezeit erfüllt ist.
Zum Zeitpunkt der Antragstellung am 9. August 2010 war der Kläger noch geschäftsunfähig, so dass nicht von einer wirksamen Bevollmächtigung seines damaligen Rechtsanwalts zur Stellung eines Rentenantrags ausgegangen werden kann. Dieser Mangel wurde aber durch die Fortführung des Verfahrens durch die Betreuerin geheilt, die die Antragstellung damit konkludent nachträglich genehmigt hat. Damit wirkt der am 9. August 2010 gestellte Antrag auf den Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls zurück, mithin hier auf den 30. Juni 2000.
Trotz eines Rentenbeginns erst ab Geltung des neuen Rechts – die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 44 SGB VI a. F. wurde ab 1. Januar 2001 durch die Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI abgelöst – steht dem Kläger dennoch ab 1. Januar 2001 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach altem Recht zu, weil der Kläger gemäß § 118 Abs. 1 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2001 gültigen Fassung den ersten Einzelanspruch auf Rente bereits zum letzten Bankarbeitstag des Monats verlangen konnte, der dem Monat vorausgeht, in dem er fällig wurde, mithin bereits am Freitag, den 29. Dezember 2000. Es bestand also noch unter Geltung des alten Rechts ein Anspruch auf Rente, so dass § 44 SGB VI a. F. auch noch nach dessen Aufhebung auf den Rentenanspruch des Klägers Anwendung findet (vgl. zum Ganzen KassKomm, § 300 SGB VI Rn. 11).
Im Übrigen war die Berufung jedoch zurückzuweisen, da für die Zeit Juli bis Dezember 2000 kein Rentenanspruch besteht.
Die Kostenentscheidung (§§ 183, 193 SGG) berücksichtigt, dass der Kläger im Wesentlichen erfolgreich gewesen ist.
Gründe, die Revision zuzulassen (vgl. § 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.

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