Sozialrecht

Die Voraussetzungen der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht sind anhand der einschlägigen versorgungs- und kammerrechtlichen Normen zu prüfen

Aktenzeichen  S 15 R 2628/15

Datum:
12.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
NZS – 2016, 912
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBauKaG BayBauKaG Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2
HOAI HOAI § 3 Abs. 4
SGB VI SGB VI § 6 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4, 5
SGG SGG § 54 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Voraussetzungen der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht sind anhand der einschlägigen versorgungs- und kammerrechtlichen Normen zu prüfen. (amtlicher Leitsatz)
2. Berufsspezifisch und damit zu befreien ist eine Tätigkeit dann, wenn die Tätigkeit noch dem Kernbereich der versorgungs- und kammerrechtlich definierten Berufsaufgaben zugeordnet werden kann. (amtlicher Leitsatz)
3. Befreiungsvoraussetzung ist nicht, ob die Hochschulausbildung als Architekt zwingende Voraussetzung der Tätigkeit ist und ob die Tätigkeit auch Hochschulabsolventen anderer Fachrichtungen zugänglich ist. (amtlicher Leitsatz)
4. Befreiungsvoraussetzung ist ebenso nicht, ob die große Bauvorlageberechtigung für die Tätigkeit notwendig ist. (amtlicher Leitsatz)
5 Bei einem Architekten ist darauf abzustellen, ob die Beschäftigung die fachlichen Voraussetzungen zur Eintragung in die Architektenliste erfüllen würde. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Bescheide der Beklagten vom 12.09.2013 und vom 04.06.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.12.2015 werden aufgehoben.
II.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger für die Zeit vom 15.07.2013 bis zum 30.06.2015 hinsichtlich seiner Tätigkeit für die Landeshauptstadt A-Stadt als Klimaschutzmanager von der Rentenversicherungspflicht zu befreien.
III.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage ist zulässig und begründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig sind.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung hinsichtlich seiner Tätigkeit als bei der LHM angestellter Klimaschutzmanager für die Zeit vom 15.07.2013 bis zum 30.06.2015.
Grundsätzlich sind gegen Arbeitsentgelt Beschäftigte in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig, § 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI). Von der Versicherungspflicht werden jedoch Beschäftigte für die Beschäftigung befreit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, wenn am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 1. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat, für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu zahlen sind und aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist, § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Voraussetzung der Pflichtmitgliedschaft in der Bayerischen Architektenkammer ist für Architekten die Eintragung in die Architektenliste (Art. 12 Abs. 3 mit Art. 4 Bayerisches Baukammerngesetz – BayBauKaG). Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum in die Architektenliste eingetragen und somit Pflichtmitglied sowohl in der Bayerischen Architektenkammer als auch in dem entsprechenden Versorgungswerk (Bayerische Architektenversorgung). Aufgrund dieser Mitgliedschaft waren einkommensgerechte Beiträge an das Versorgungswerk zu leisten mit der Folge, dass Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht werden.
Weiter war der Kläger auch gerade wegen der hier zu beurteilenden Beschäftigung als Klimaschutzmanager im streitgegenständlichen Zeitraum Pflichtmitglied beim Versorgungswerk und der Bayerischen Architektenkammer. Der erforderliche tätigkeitsbezogene, innere Zusammenhang zwischen der Beschäftigung des Klägers und der Mitgliedschaft besteht.
Maßgeblich ist hierbei darauf abzustellen, ob die Beschäftigung des Klägers die fachlichen Voraussetzungen zur Eintragung in die Architektenliste erfüllen würde (vgl. Art. 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BayBauKaG), d. h. ob der Kläger Berufsaufgaben im Sinne von Art. 3 Abs. 1 BayBauKaG wahrgenommen hat (ebenso SG Reutlingen, Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2016 – S 8 R 985/14 -, Rn. 30, juris).
Die Berufsaufgaben ergeben sich aus Art. 3 Abs. 1 BayBauKaG. Damit ist der Architekt für die gestaltende, technische, wirtschaftliche, umweltgerechte und soziale Planung von Bauwerken sowie die Orts- und Stadtplanung zuständig.Der Architekt muss sich durch Fortbildung über die Entwicklung innerhalb seines Fachgebietes unterrichten. Die Vielfalt der Leistungsbilder erfordert eine ständige Information über neueste Entwicklungen und Standards auf zuverlässige Art aus seriösen Quellen und durch Fortbildungsangebote der Bayerischen Architektenkammer unter folgenden Schwerpunkten:
– Wirtschaftlichkeit,
– Management,
– Rechtskunde und Verwaltungstechnik,
– Technik,
– Umweltverträglichkeit,
– künstlerische und ganzheitliche Betrachtungsweise (Berufsordnung der Bayerischen Architektenkammer vom 4. Dezember 1972 in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Juli 1980 (StAnz Nr. 30/1980), neu verkündet mit Bekanntmachung vom 18. August 1992 (StAnz Nr. 37/1992), zuletzt geändert durch Beschluss der Vertreterversammlung der Bayerischen Architektenkammer vom 20. November 2015 (StAnz Nr. 49/2015), Erläuterung zu Ziffer 1.2). Die geschäftliche Tätigkeit des Architekten greift über den Bereich der Berufsaufgaben nach Art. 3 BauKaG dann hinaus, wenn sie sich nicht auf die dort gekennzeichneten Architektenleistungen beschränkt (Berufsordnung der Bayerischen Architektenkammer, a. a. O., Erläuterung zu Ziffer 3.2).
Zu den Berufsaufgaben können auch Sachverständigen-, Forschungs-, Lehr- und Entwicklungstätigkeiten sowie sonstige Dienstleistungen bei der Vorbereitung und Steuerung von Planungs- und Baumaßnahmen, bei der Nutzung von Bauwerken sowie die Wahrnehmung der damit verbundenen sicherheits- und gesundheitstechnischen Belange gehören, ebenso Überwachungstätigkeiten im Hinblick auf die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften (SG Reutlingen, a. a. O., Rn. 32).
Im Hinblick auf diese Maßgaben ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Tätigkeit des Klägers als berufsspezifische Architektentätigkeit einzustufen ist. Der Kläger war verantwortlich für den Ausbau von Fotovoltaikanlagen auf den Dächern von Schulen, Sportanlagen und Kindertageseinrichtungen sowohl bei Bestands- als auch bei Neubauten. Die konkrete Tätigkeit des Klägers war gekennzeichnet durch die Anwendung der im Architekturstudium erworbenen Kenntnisse auf dem Gebiet der Energieeffizienz sowie auf den Gebieten der Standsicherheit und Baukonstruktion. Er koordinierte als Klimaschutzmanager die Bauvorhaben mit den technischen Abteilungen des Bau- und Planungsreferats und arbeitete eng mit externen Planungsbüros zusammen.
Der Kläger führte weiter Grundlagenuntersuchungen im Hinblick auf den Energieverbrauch in den Schulen, Sportanlagen und Kindertageseinrichtungen in A-Stadt durch. Hierfür wurde der bauphysikalische Zusammenhang von Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit und Kondensatbildung in Fassadenkonstruktionen bei abgesenkten Temperaturen außerhalb der Nutzungszeit geprüft. Weiter verantwortete der Kläger Grundlagenuntersuchungen für nachhaltige Energieeinsparungsmöglichkeiten und Grundlagenuntersuchungen für den optimierten Einsatz von Fotovoltaikanlagen und erarbeitete Kriterien, um Dächer und Fassaden auf deren Geeignetheit für die Installation von Fotovoltaikanlagen zu untersuchen. Er war damit als interner Sachverständiger auf dem Gebiet der Architektur tätig.
Für diese Tätigkeit waren Kenntnisse und Qualifikationen auf dem Gebiet der Standsicherheit und Baukonstruktion unerlässlich. Insbesondere Kenntnisse zu Fassadenkonstruktionen, zur Wärmedämmung, zu Analysen der Gebäudesubstanz und zu Baualtersklassen, zu Bauteilanschlüssen, zu Lastreserven von Konstruktionen für die Montage von Fotovoltaikelementen und zur Nutzungsdauer von Bauteilen (insbesondere den Dächern) waren erforderlich. Der Kläger führte gemeinsam mit dem Baureferat Grundlagenuntersuchungen der 1.200 Bauwerke bezüglich der statischen Reserven, der Nutzungszeit der Dachdichtung und der Restnutzungszeit des Gebäudes, der Prüfung des Baurechts bezüglich Anforderung an Dachbegrünung und bezüglich der Einteilung in Baualtersklassen durch.
Diese vom Kläger bereits schriftsätzlich vorgetragene Tätigkeit, die sich in der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung bestätigte, entspricht nach der Feststellung der Kammer einer Tätigkeit im Bereich der umweltgerechten Planung von Bauwerken und ist Teil der Stadtplanung der LHM und umfasst damit Kernbereiche der Berufsaufgaben nach Art. 3 Abs. 1 BayBauKG (ebenso für Nordrhein-Westfalen SG Aachen, Entscheidung vom 17.10.2014, S 21 R 907/12 in Bezug auf die Tätigkeit als Energieberater).
Verfehlt ist die Auffassung der Beklagte, dass das Architekturstudium zwingende Voraussetzung für die Tätigkeit sein müsse oder – noch weitergehend – dass die große Bauvorlageberechtigung (Art. 61 Abs. 2 Bayerische Bauordnung) für die Tätigkeit notwendig sein müsse. Beides lässt sich weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck von § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI und von Art. 3 Abs. 1 BayBauKaG entnehmen. Berufsspezifische Tätigkeiten des Architekten können auch solche sein, die von verwandten Berufen ebenfalls ausgeführt werden können. Dies lässt sich bereits anhand der Leistungsphase 8 gem. § Abs. 4 HOAI 2009 (Objektüberwachung (Bauüberwachung oder Bauoberleitung)) bzw. Leistungsphase 8 nach der HOAI -2013 (in Kraft seit 17. Juli 2013) in der Anlage 12 bei Ingenieurbauwerken entnehmen (vgl. auch zur Bauleiterhaftung von Architekten, OLG Koblenz, Urteil vom 01. Juni 2012 – 10 U 1376/11 -, Rn. 42, juris). Hiernach werden Aufgaben für die planenden und überwachenden Architekten und Ingenieure als Kontrolle und Überwachung der Bauausführung im Auftrag des Bauherrn bzw. Auftraggebers festgelegt, und zwar im Sinne der Objektüberwachung und Dokumentation zum Baugeschehen mit zugeordneten Grundleistungen und besonderen Leistungen (http://www.bauprofessor.de/Bauoberleitung/). Zudem würde die Beschränkung des Berufsbilds auf „Tätigkeiten, bei denen die große Bauvorlageberechtigung zur Anwendung kommt“ jegliche Sachverständigen-Tätigkeiten oder – wie vorliegend – architektonische Tätigkeiten für den Bauherrn ausschließen.
Nicht berücksichtigt hat die Beklagte insoweit auch die Tatsache, dass die LHM für die Besetzung der Stelle einen Architekten bzw. einen Absolventen einer vergleichbaren Fachrichtung suchte. Die Architektur befasst sich mit Querschnittsaufgaben, in denen viele Disziplinen interdisziplinär zusammenarbeiten. Dieser enge Zusammenhang wird sowohl vom bayerischen Gesetzgeber mit dem BayBauKaG als auch vom Bundesgesetzgeber mit der HOAI berücksichtigt, da beide Normwerke den Tätigkeitsbereich sowohl der Architekten als auch der Bauingenieure regeln. Das „Ausschließlichkeitskriterium“ der Beklagten ignoriert diese Zusammenhänge zulasten der betroffenen freien Berufe, die in einem interdisziplinären Aufgabengebiet arbeiten.
Entscheidend ist daher darauf abzustellen, ob die Tätigkeit noch dem Kernbereich der (versorgungs- und kammerrechtlich definierten) Berufsaufgaben zugeordnet werden kann (so bereits die Kammerrechtsprechung zum ebenfalls interdisziplinär ausgelegten Berufsbild des Apothekers, SG A-Stadt, Urteil vom 05. Februar 2015 – S 15 R 928/14 -, juris; SG A-Stadt, Urteil vom 10. März 2016 – S 15 R 10/16 -, juris; ablehnend in Bezug auf die Approbationspflichtigkeit einer apothekerlichen Tätigkeit als Befreiungsvoraussetzung auch SG Berlin, Urteil vom 25.01.2016, S 10 R 3345/14; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 28. April 2016 – L 1 KR 347/15 -, juris; ablehnend zum Negativkriterium der Möglichkeit der Berufsausübung durch andere verwandte Berufe auch Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 06. Februar 2014 – L 1 KR 8/13 -, Rn. 62, juris zum freien Beruf des Tierarztes). Dies ist – wie oben dargelegt – vorliegend für die zu prüfende Tätigkeit des Klägers der Fall.
Die Befreiung wirkt vom 15.07.2013 an, da an diesem Tag die vorgenannten Voraussetzungen vorlagen, der Antrag rechtzeitig gestellt wurde und der Kläger erstmals die Tätigkeit aufnahm, für welche er die Befreiung beantragt hatte, vgl. § 6 Abs. 4, 5 SGB VI.
Nicht mehr zu entscheiden ist die Frage, ob der Kläger auch nach § 6 Abs. 5 SGB VI zu befreien wäre. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Argumentation der Beklagten auch hierzu nicht überzeugend ist. Die Beklagte hat keine weitergehende Amtsermittlung dahingehend angestellt, ob der Kläger in der Vorbeschäftigung als Bauleiter eine Berufsaufgabe im o.g. Sinne erfüllt hat. Trotz entsprechenden Votums des Sachbearbeiters wurde diese vom Endzeichner mit dem Hinweis auf die Beschreibung des Bauleiters im Berufenet abgelehnt. Dies ist jedoch schon alleine deshalb unzureichend, da diese Frage nicht abstrakt, sondern nur konkret auf die jeweilige Beschäftigung beantwortet werden kann. Die Bauoberleitung gehört zum klassischen Aufgabenbereich eines Architekten. Die Erforderlichkeit der Bauvorlageberechtigung als Befreiungskriterium ist – wie oben dargelegt – dem Gesetz nicht zu entnehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 S. 1 SGG und berücksichtigt den Verfahrensausgang.

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